Gaia und Chthonia, die zwei untrennbaren Gattungen unserer Erde
von Giorgio Agamben, deutsche Übersetzung von Fausto Giudice, Tlaxcala, 02.01.2021. Der italienische Philosoph Agamben nimmt uns mit auf eine poetische und etymologische Reise bis in die Antike, um uns schließlich in unsere coronavirale Gegenwart zurückzubringen. Die Zukunft hat ein altes Herz
Die “Venus von Willendorf”, eine Statuette aus dem Jungpaläolithikum, die wahrscheinlich Mutter Erde darstellt
I.
Im Altgriechischen hat die Erde zwei Namen, die zwei unterschiedlichen, wenn nicht sogar entgegengesetzten Realitäten entsprechen: Ge (oder Gaia, oder Gäa) und Chthon. Entgegen einer heute populären Theorie bewohnt der Mensch nicht allein Gaia, sondern hat in erster Linie mit Chthon zu tun, der in manchen mythischen Erzählungen die Gestalt einer Göttin annimmt, deren Name Chthonìe, Cthonia, ist. So listet die Theogonie des Pherekydes von Syros zu Beginn drei Gottheiten auf: Zeus, Chronos und Chthonìe und fügt hinzu, dass „ Chthonìe den Namen Ge erhielt, nachdem Zeus ihr die Erde (gen) geschenkt hatte“. Auch wenn die Identität der Göttin unbestimmt bleibt, ist Ge hier im Vergleich zu ihr eine Nebenfigur, ja fast ein Zusatzname von Chthonie. Nicht weniger bedeutsam ist in diesem Zusammenhang, dass bei Homer die Menschen mit dem Adjektiv epichtonioi (Chthonäer, auf Chthon stehend) definiert werden, während sich das Adjektiv epigaios oder epigeios nur auf Pflanzen und Tiere bezieht.
Tatsache ist, dass Chthon und Ge zwei so zu sagen geologisch gegensätzliche Aspekte der Erde bezeichnen: Chthon ist die Außenseite der Unterwelt, die Erde von der Oberfläche abwärts, während Ge die Erde von der Oberfläche aufwärts, das Gesicht, das die Erde dem Himmel zuwendet, bezeichnet. Dieser stratigrafischen Vielfalt entspricht die Verschiedenheit der Praktiken und Funktionen: Chthon ist weder anbau- noch nährfähig, entzieht sich dem Gegensatz zwischen Stadt und Land und ist kein Gut, das man besitzen kann; Ge hingegen „nährt“, wie der homerische Hymnus nachdrücklich in Erinnerung ruft, „alles, was chthon oben ist“ (epi chthoni) und bringt Ernten und Güter hervor, die die Menschen bereichern: für diejenigen, die Ge mit ihrem Wohlwollen ehrt, „die lebensspendenden Furchen der Scholle sind mit Früchten beladen, auf den Feldern gedeiht das Vieh, und das Haus ist mit Reichtümern gefüllt, und sie regieren mit gerechten Gesetzen die Städte mit schönen Frauen“ (V. 9-11 ).
Die Theogonie des Pherekydes enthält den ältesten Hinweis auf die Beziehung zwischen Ge und Chthon, zwischen Gaia und Chthonia. Ein von Clemens von Alexandria erhaltenes Fragment definiert die Art ihrer Beziehung, indem es angibt, dass Zeus sich mit Chthonìe vermählt, und wenn die Braut im Hochzeitsritus der Anakalypteria ihren Schleier abnimmt und dem Bräutigam nackt erscheint, bedeckt Zeus sie mit „einem großen und schönen Mantel“, in den „er mit verschiedenen Farben Ge und Ogeno (Ozean) gestickt hat“. Chthon, die Unterwelt, ist also etwas Abgründiges, das sich in seiner Nacktheit nicht zeigen kann, und das Gewand, mit dem der Gott es bedeckt, ist nichts anderes als Gaia, die himmlische Erde. Eine Passage aus der Nymphengrotte des Porphyrios informiert uns, dass Pherekydes die chthonische Dimension als Tiefe charakterisierte, „indem er von Vertiefungen (mychous), von Gräben (bothrous) und von Höhlen (antra) sprach“, gedacht als die Türen (thyras, pylas), die von den Seelen bei der Geburt und während des Todes durchschritten werden. Die Erde ist somit eine zweifache Realität: Chthonia ist der formlose und verborgene Boden, den Gaia mit ihrer bunten Stickerei aus Hügeln, blühenden Landschaften, Dörfern, Wäldern und Herden bedeckt.
Auch in Hesiods Theogonie weist die Erde zwei Gesichter auf. Gaia, „die feste Grundlage aller Dinge“, ist das erste Geschöpf des Chaos, aber das chthonische Element wird gleich danach beschworen und wie in Pherekydes mit dem Begriff mychos definiert: „der dunkle Tartarus in den Tiefen der Erde mit den breiten Wegen (mychoi chthonos eyryodeies)“. Die Stelle, an der der stratigraphische Unterschied zwischen den beiden Aspekten der Erde am deutlichsten erscheint, ist die homerische Hymne an Demeter. Schon zu Beginn, wenn der Dichter die Szene von Persephones Entführung beschreibt, während sie Blumen pflückt, wird Gaia zweimal, in beiden Fällen als die blumige Fläche beschworen, die die Erde dem Himmel zuwendet: „die Rosen, die Krokusse, die schönen Veilchen in einer zarten Wiese und die Schwertlilien, Hyazinthen und Narzissen, die Gaia nach dem Willen des Gottes wachsen lässt“ ( …) „beim Duft der Blume lächelte der ganze Himmel da oben und die Erde“. Aber genau in diesem Augenblick „öffnete sich Chthon aus den weiten Pfaden (chane) in der Ebene von Nisio und kam heraus (orousen) mit seinen unsterblichen Pferden, der Herrn der vielen Gäste“. Dass es sich um eine Bewegung vom Boden zur Oberfläche handelt, wird durch das Verb ornymi betont, das „aufsteigen, sich erheben“ bedeutet, als ob der Gott aus dem chthonischen Boden der Erde auf Gaia, dem zum Himmel blickenden Gesicht der Erde, auftauchte. Als Persephone daraufhin Demeter selbst von ihrer Entführung erzählt, kehrt sich die Bewegung um. Nun ist es Gaia (gaia d’enerthe koresen), die sich öffnet, damit „der Herr der vielen Gäste“ sie mit seinem goldenen Wagen unter die Erde ziehen konnte (Vv.429-31). Es ist, als ob die Erde zwei Türen oder Öffnungen hätte, eine, die sich aus der Tiefe nach Gäa öffnet und eine, die von Gäa in den Abgrund von Chthonia führt.
Bildfeld eines großes Bodenmosaiks aus einer römischen Villa bei Sentinum (dem heutigen Sassoferrato in den Marken), um 200-250 n. Chr. Jugendlicher Ewigkeitsgott Aion im Himmelkreis der Tierzeichen zwischen einem grünen und einem kahlen (winterlichen) Baum. Zu seinen Füßen die Erdmutter Tellus (römische Gaia) mit vier Kindern, welche die vier Jahrezeiten verkörpern. Glyptothek, München
In Wirklichkeit handelt es sich nicht um zwei Türen, sondern um eine einzige Schwelle, die ganz zu Chthon gehört. Das Verb, das der Hymnus auf Gaia bezieht, ist nicht chaino, weit öffnen, sondern choreo, was einfach „Platz machen“ bedeutet. Gaia öffnet sich nicht, sondern macht Platz für Proserpines Durchgang; schon die Idee eines Durchgangs zwischen Hoch und Tief, einer Tiefe (profundus: altus et fundus) ist zutiefst chthonisch, und, wie die Sibylle Aeneas erinnert, ist das Tor der Dite zunächst der Unterwelt zugewandt (facilis descensus Avernus...). Der lateinische Begriff, der dem Chthon entspricht, ist nicht tellus, der eine horizontale Ausdehnung bezeichnet, sondern humus, der eine Richtung nach unten impliziert (vgl. humare, begraben), und es ist bezeichnend, dass der Name für den Menschen davon übernommen wurde (hominem appellari quia sit humo natus). Dass der Mensch in der klassischen Welt „human“, also irdisch ist, impliziert nicht eine Verbindung mit Gaia, mit der zum Himmel aufblickenden Erdoberfläche, sondern vor allem eine innige Verbindung mit der chthonischen Sphäre der Tiefe.
Dass Chthon die Idee einer Lücke und eines Durchgangs heraufbeschwört, zeigt sich in dem Adjektiv, das bei Homer und Hesiod den Begriff ständig begleitet: eyryodeia, das nur dann mit „auf dem weiten Weg“ übersetzt werden kann, wenn man nicht außer Acht lässt, dass odos die Idee des Transits zu einem Ziel impliziert, in diesem Fall die Welt der Toten, eine Reise, die jedem bestimmt ist (es ist möglich, dass Vergil, wenn er facilis descensus schrieb, sich an die homerische Formel erinnerte).
Eingang zum Mundus, auch Umbilicus Urbis Romae (Nabel der Stadt Rom) genannt, auf dem Forum Romanum
In Rom stellte eine kreisförmige Öffnung, mundus genannt, die der Legende nach von Romulus bei der Gründung der Stadt gegraben wurde, eine Verbindung zwischen der Welt der Lebenden und der chthonischen Welt der Toten her. Die Öffnung, die durch einen Stein namens manalis lapis verschlossen wurde, wurde dreimal im Jahr geöffnet, und an diesen Tagen, an denen mundus patet, die Welt offen sein sollte, und „die okkulten und verborgenen Dinge der Religion der Manen (Geister der Toten] ans Licht gebracht und offenbart wurden“, wurden fast alle öffentlichen Tätigkeiten ausgesetzt. In einem exemplarischen Artikel zeigte Vendryes auf, dass die ursprüngliche Bedeutung unseres Begriffs „Welt“ [lat. Mundus, ital. Mondo] nicht, wie immer behauptet wurde, eine Übersetzung des griechischen kosmos ist, sondern sich gerade von der Kreisschwelle ableitet, die der „Mundus“ der Toten offenbarte. Die antike Stadt basiert auf dem „Mundus“, weil die Menschen in der Öffnung wohnen, welche die himmlische Erde und die unterirdische, die Welt der Lebenden und die der Toten, die Gegenwart und die Vergangenheit vereint, und es ist durch die Beziehung zwischen diesen beiden Welten, dass es ihnen möglich wird, ihre Handlungen zu lenken und Inspiration für die Zukunft zu finden.
Der Mensch ist nicht nur in seinem Namen [homo] mit der chthonischen Sphäre verbunden, sondern auch seine Welt und der Horizont seiner Existenz grenzen an die Vertiefungen von Chthonia. Der Mensch ist im wahrsten Sinne des Wortes ein Wesen der Tiefe.
Tuszien-Projekt: Reise in die unterirdische Welt der Etrusker
II.
Eine chthonische Kultur par excellence ist die der Etrusker. Wer bestürzt durch die in der Landschaft Tusziens verstreuten Nekropolen geht, erkennt sofort, dass die Etrusker in Chthonia und nicht in Gaia lebten, nicht nur, weil das, was von ihnen übrig geblieben ist, im Wesentlichen mit den Toten zu tun hatte, sondern auch und vor allem, weil die Orte, die sie für ihre Behausungen auswählten – sie Städte zu nennen, ist vielleicht unpassend -, obwohl sie sich scheinbar auf der Oberfläche von Gaia befinden, in Wirklichkeit Epichthonioi sind, die in den vertikalen Tiefen von Chthon zu Hause sind. Daher ihre Vorliebe für Höhlen und in Stein gehauene Nischen, für hohe Schluchten und Klüfte, die steilen Wände aus Peperinostein, die zu einem Fluss oder Bach hinabstürzen. Wer sich plötzlich vor der Cava Buia bei Blera oder in den in den Fels gegrabenen Gassen von S. Giuliano wiederfindet, weiß, dass er sich nicht mehr auf der Oberfläche von Gaia befindet, sondern sicher ad portam inferi, in einem der Gänge, welche die Hänge von Cthonia durchdringen.
Diese unverkennbar unterirdische Beschaffenheit der etruskischen Orte, wenn man sie mit anderen Gegenden Italiens vergleicht, kann auch dadurch ausgedrückt werden, dass das, was wir vor Augen haben, nicht wirklich eine Landschaft ist. Die leutselige, gewöhnliche Landschaft, die der Blick gelassen umarmt und den Horizont überschreitet, gehört zu Gaia: In der chthonischen Vertikalität verdünnt sich jede Landschaft, jeder Horizont verschwindet und überlässt seinen Platz dem brutalen und ungesehenen Gesicht der Natur. Und hier, in den aufmüpfigen Gräben und Rinnen, wüssten wir nicht, was wir mit der Landschaft anfangen sollten, das Land ist hartnäckiger und unflexibler als jeder Landschaftspietas – vor der Tür von Dis ist der Gott so nah und tetragonal geworden, dass er keiner Religion mehr bedarf.
Wegen dieser unerschütterlichen chthonischen Hingabe bauten und bewachten die Etrusker die Behausungen ihrer Toten mit so eifriger Sorgfalt, und nicht, wie man meinen könnte, umgekehrt. Sie liebten den Tod nicht mehr als das Leben, aber das Leben war für sie untrennbar mit den Tiefen Chthonias verbunden; sie konnten die Täler Gaias nur bewohnen und die Landschaft kultivieren, wenn sie ihren wahren, vertikalen Aufenthaltsort niemals vergaßen. Deshalb haben wir es in den in den Fels gehauenen Gräbern oder in den Grabhügeln nicht nur mit den Toten zu tun, wir stellen uns nicht nur die Leichen vor, die auf den leeren Sarkophagen liegen, sondern wir nehmen auch die Bewegungen, die Gesten und die Wünsche der Lebenden wahr, die sie gebaut haben. Dass das Leben umso liebenswerter ist, je zärtlicher es die Erinnerung an Chthonia in sich trägt, dass es möglich ist, eine Zivilisation aufzubauen, ohne jemals die Sphäre der Toten auszuschließen, dass es zwischen Gegenwart und Vergangenheit und zwischen Lebenden und Toten eine intensive Gemeinschaft und eine ununterbrochene Kontinuität gibt – das ist das Vermächtnis, das dieses Volk der Menschheit hinterlassen hat.
Chthonischer Dionysos, Tarent, Süditalien, 4. Jahrhundert v. Chr. MFA Boston
III.
Im Jahre 1979 veröffentlichte James E. Lovelock, ein britischer Chemiker, der aktiv an den Weltraumforschungsprogrammen der NASA beteiligt war, das Werk mit dem Titel „Gaia: a New Look at Life on Earth“. Das Buch fokussiert auf eine Hypothese, die in einem Artikel, den er zusammen mit Lynn Margulis fünf Jahre zuvor in der Zeitschrift Tellus geschrieben hatte, so vorweggenommen hatte: „Die Menge der lebenden Organismen, aus denen die Biosphäre besteht, kann als eine einzige Einheit handeln, um ihre chemische Zusammensetzung, den pH-Wert der Oberfläche und vielleicht sogar das Klima zu regulieren. Als Gaia-Hypothese bezeichnen wir die Vorstellung der Biosphäre als ein aktives System der Steuerung und Anpassung, das in der Lage ist, die Erde in Homöostase zu halten“. Die Wahl des Begriffs Gaia, den Lovelock von William Golding – einem Schriftsteller, der die perverse Berufung der Menschheit im Roman Herr der Fliegen meisterhaft beschrieben hatte – übernahm, ist sicherlich nicht zufällig: Wie der Artikel betont, identifizierten die Autoren die Grenzen des Lebens in der Atmosphäre und waren „nur in geringerem Maße an den internen Grenzen interessiert, die durch die Schnittstelle zwischen den inneren Teilen der Erde gebildet werden, die nicht dem Einfluss der Oberflächenprozesse unterliegen“ (S. 4). Nicht weniger bedeutsam ist jedoch eine Tatsache, welche die Autoren – zumindest zu diesem Zeitpunkt – nicht in Betracht zu ziehen scheinen, nämlich dass die Verwüstung und Verschmutzung Gaias gerade dann ihren höchsten Stand erreichte, als die Bewohner Gaias beschlossen, die für ihre neuen und wachsenden Bedürfnisse notwendige Energie aus den Tiefen Chthonias zu beziehen, und zwar in Form jener fossilen Überreste von Millionen von Lebewesen aus einer fernen Vergangenheit, die wir Erdöl nennen.
Die Identifizierung der Grenzen der Biosphäre mit der Erdoberfläche und der Atmosphäre ist nach allen Erkenntnissen nicht aufrechtzuerhalten: die Biosphäre kann nicht ohne den Austausch und die „Schnittstelle“ mit der chthonischen Thanatosphäre existieren, denn Gaia und Chthonia, das Lebendige und das Tote, müssen zusammen gedacht werden.
Was in der Moderne geschah, ist in der Tat, dass die Menschen ihre Beziehung zur chthonischen Sphäre vergaßen und beseitigten. Sie bewohnen nicht mehr Chthon, sondern nur noch Gaia. Doch je mehr sie die Sphäre des Todes aus ihrem Leben entfernten, desto unbewohnbarer wurde ihre Existenz; je mehr sie jede Vertrautheit mit den Tiefen Chthonias verloren und sie wie alles andere zu einem Objekt der Ausbeutung reduzierten, desto mehr wurde die liebenswerte Oberfläche Gaias nach und nach vergiftet und zerstört. Und was wir heute vor Augen haben, ist die extreme Ausprägung dieser Todesverschiebung: Um ihr Leben vor einer vermeintlichen, verwirrenden Bedrohung zu retten, geben die Menschen alles auf, was es lebenswert macht. Und am Ende ist Gaia, die Erde ohne Tiefe, die jede Erinnerung an die unterirdische Behausung der Toten verloren hat, nun vollkommen der Angst und dem Tod ausgeliefert. Von dieser Angst kann nur derjenige geheilt werden, der die Erinnerung an seinen dualen Aufenthaltsort wiedererlangt, der sich daran erinnert, dass nur das Leben menschlich ist, in dem Gaia und Chthonia untrennbar und vereint bleiben.
Bonus
Der Alptraum der Persephone
Text: Nikos Gatsos
Musik: Manos Hadjidakis
Gesungen von Photis Ionatos