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Krankheit ist das Gewand des Menschen: Eine javanische Perspektive

 Von Azizah Seise, Islamische Zeitung, 28. Dezember 2020. Krankheit ist das Gewand des Menschen und kann vom Menschen nicht losgelöst werden, so wird der uns oft verhasste Zustand des Nicht-Gesundseins in der javanischen Kultur bezeichnet. Dies bedeutet, dass der Mensch ohne Krankheit nackt wäre. Weiterhin wird in der javanischen Kultur auf der Insel Java in Indonesien verstanden, dass Krankheit entsteht, wenn der Zustand der körperlichen, sozialen oder ökologischen Harmonie gestört ist.

Die traditionelle Slametan-Ungahan-Gemeinschaftszeremonie des Dorfes Bonokeling, Banyumas , Zentral-Java, bei der die Teilnehmer buchstäblich die Vorstellung von gotong royong (zusammen tragen) ausführen.



Die Wahrung von Harmonie ist ein zentrales Element der javanischen Kultur und Gefühl (Indonesisch: rasa) stellt die Basis dar, um diese Harmonie zu erreichen, sei es individuelle, kollektive, religiöse oder spirituelle. Es ist auch das Gefühl, das benötigt wird, um im alltäglichen Leben mit anderen Menschen, mit Tieren, der Natur und der unsichtbaren Welt zu interagieren. Wenn die Harmonie gestört ist, entstehen Krankheiten. Und wenn das tiefgreifende und tiefsinnige Gefühl, das benötigt wird, um Harmonie zu wahren, gestört ist, treten Krankheiten vermehrt auf. In diesem Sinne tritt eine Pandemie (Javanisch: pagepluk) dann auf, wenn die Harmonie in einer oder mehreren geographischen Gegenden massiv gestört ist. Das setzt voraus, dass zunächst die Harmonie auf der individuellen Ebene drastisch und kollektiv auftretend gestört sein muss. Wenn dieser Störung nicht entgegengewirkt wird, verstärkt sie sich in ungeahnten Ausmaßen.

In der javanischen Kultur wird zwischen verschiedenen Auslösern von Krankheit unterschieden. Der erste Punkt ist ein rein individueller und geht davon aus, dass alle Menschen irgendwann krank werden und dass dies eine Prüfung für den jeweiligen Menschen ist. Hierbei wird der Besitzer des Menschen, Gott, in den Vordergrund gerückt und die Krankheit soll wohlwollend und geduldig ertragen werden. Der zweite Punkt als Auslöser für Krankheiten sieht einen Fehler gegenüber oder eine Falschbehandlung einer anderen Person als Ursprung von Krankheit. Hierunter zählen zum Beispiel Beleidigung, Verletzungen des Herzens, aber auch das Zufügen von körperlichem Schaden. Unter diesen zweiten Punkt kann auch ein Fehler oder eine Vergesslichkeit gegenüber unsichtbaren Bewohnern dieser Welt zählen. Zum Beispiel hat man vielleicht Müll rücksichtslos an einen Platz geworfen, wo andere Wesen leben und dadurch gestört worden sind oder man ist, ohne nachzudenken seiner menschlichen Notdurft nachgekommen und hat dadurch den Zorn der dortigen Bewohner auf sich gezogen. Ein dritter wichtiger Punkt, der nach den Lehren der javanischen Kultur, Krankheit bewirken kann, ist, wenn die Kultur des Ortes an dem man sich befindet nicht oder unzulänglich erfüllt worden ist. Hierzu zählen zum Beispiel die Heirat in Monaten, die nach der lokalen Kultur nicht für günstig zählen oder das Verheiraten eines Kindes mit einer Person aus einer Gegend, die nach der kulturellen Tradition nicht wünschenswert ist.

Ein weiterer wichtiger Punkt, der Krankheit bringen kann ist, wenn ein Individuum nicht seinen religiösen Pflichten nachkommt. Hierzu zählt zum Beispiel das Vernachlässigen des fünfmaligen rituellen Gebets für Muslime oder die Entrichtung der Zakat, wenn es für einen verpflichtend wird. Krankheit kann auch entstehen, wenn diese von einer anderen Person „geschickt“ worden ist. Wichtig bei diesen fünf Punkten ist natürlich, Gott im Blick zu behalten, denn nichts geschieht in dieser Welt ohne Seine Erlaubnis und ohne Sein Wissen.

Zu den hier genannten fünf Punkten, die Krankheit auslösen können, kommt noch eine weitere tiefgreifende Komponente: der Schutz der Harmonie mit der Natur und Umwelt und der unsichtbaren Welt. Die zunehmenden ökologischen Konflikte lösen eine Disharmonie aus, die die kulturell erwünschte Harmonie scheinbar abzulösen scheint. Um eine Form von Disharmonie zu neutralisieren und eventuellen Krankheiten vorzubeugen, kennt die javanische Kultur das Ritual des slametanSlametan ist ein gemeinschaftliches Fest, in dem Essen zusammen gekocht und mit der Gemeinschaft und den Armen geteilt wird. Gewöhnlich werden auch Koranverse, vor allem Surah Yasin, und Bittgebete rezitiert, um Gottes Segen zu erbitten. Das slametan wird als effektiv gesehen, um eine eventuelle Disharmonie wiederherzustellen.

In historischen javanischen Texten finden wir, dass es Epidemien in der javanischen Geschichte schon häufiger gab. Zum Beispiel wurde Java auch von der Pest heimgesucht. Es hat sich etabliert, dass bei Auftreten von Pandemien, kulturell-spirituelle Anstrengungen unternommen werden müssen, um die Harmonie wiederherzustellen. Rein medizinische und hygienische Maßnahmen reichen hierbei nicht aus. In der Geschichte wurden dafür in Java slametan durchgeführt, die ihrem Ausmaß entsprechend helfen sollten, die Harmonie einer Region wiederherzustellen und dadurch die Pandemie auch kulturell bzw. spirituell zu überwinden. Diese rituellen Veranstaltungen werden als grebeg bezeichnet und werden meist von den kulturellen oder spirituellen Autoritäten, zum Beispiel dem Sultan in Yogyakarta, durchgeführt.

Weiterhin ist es in der javanischen Kultur angeraten, auf der emotionellen Ebene einer Krankheit oder Pandemie nicht mit übertriebener Besorgnis zu begegnen, sondern mit ausgeglichener und ruhiger Akzeptanz der Situation. Die spirituelle Begleitung einer Pandemie ist dabei nicht nur eine kollektive Verantwortung, sondern auch die Verantwortung eines jeden Individuums. Dies geschieht mit vermehrten Bittgebeten und Gottesgedenken, um das spirituelle Herz zu stärken und zu der Gewissheit zu gelangen, dass alles was geschieht, Gottes Wille ist.

Dieser Text basiert auf einem Seminar zum Thema Krankheit und Pandemie aus javanischer Perspektive, an welchem die Autorin teilgenommen hat. Es fand an der Staatlichen Islamischen Universität in Yogyakarta, Indonesien statt.

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