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Gibt es Hunger und Plünderungen in Venezuela?

von Marco Teruggi, Übersetzung von Klaus E. Lehmann, amerika21, 21. Juni 2016. Eine Kritik der Nichtinformation von Regierung und Opposition im unkonventionellen Krieg und interne Sichtweise der “Plünderung von Cumaná”
Zahlreiche Ladenlokale in Cumaná wurden aufgebrochen und zum Teil vollständig zerstört

Zahlreiche Ladenlokale in Cumaná wurden aufgebrochen und zum Teil vollständig zerstört
Zunächst gilt es das Szenarium zu erkennen, in dem wir uns bewegen: es geht um einen nicht konventionellen Krieg, eine chavistische Führung, die in ihrer Mehrheit von den popularen Strömungen abgekoppelt ist und eine Bevölkerung, die politisiert und einem brutalen Druck beim Erwerb jeglicher Produkte für den familiären Warenkorb sowie Hygiene- und Arzneimitteln unterworfen ist, und dies seit mehr als zwei Jahren.
Es gibt eine Unzahl von Debatten. Da ist zum Beispiel der offene Dialog zwischen der venezolanischen und der nordamerikanischen Regierung – dem unbestrittenen Anstifter putschistischer Strategien. Vor allem aber gibt es eine ganze Menge  Fragen ohne sichere Antworten: nach der Form des Krieges – der seine Stärke darin hat, unsichtbar zu sein – und danach, warum die Kommunikation Ausmaße einer nie gesehenen Nichtinformation erreicht hat. Dabei beziehe ich mich unter Ausnahme einiger Schreiber und Kameras auf beide Parteien: die Revolution wie auch die Konterrevolution.
Seit einigen Wochen gibt es in diesem Rahmen den Versuch, ein Bild zu zeichnen, dass es Plünderungen im Land gebe, ein – von den Vereinigten Staaten verlangter – Nachweis dessen, dass man vor einer humanitären Krise stehe, einer Situation, die eine internationale Intervention erforderlich mache. Um der entsprechenden Dynamik gewahr zu werden genügt es, den folgenden Test zu machen: jeden Tag, wenn man gegen Mittag das trending topic bei Twitter zu Venezuela öffnet, erscheint eine andere Örtlichkeit und wenn man diese anklickt, tauchen (für nicht länger als dreißig Sekunden) Bilder und Videos von angeblichen Plünderungen, von Überfällen auf Lastwagen, die Lebensmittel transportieren und Zusammenstößen mit der Polizei auf. Die Bilder sind meist undeutlich: rennende Menschen, Tumulte, Rauch. Nichts was abgesichert oder bestätigbar wäre. Das Ergebnis scheint bei durchschnittlich zwei Toten und mehreren Verletzten zu liegen, zuweilen auch mehr.
Die Rechte und ihre internationalen Lautsprecher behaupten, dass dies die Reaktion der Leute angesichts der unhaltbaren alltäglichen Lebensumstände zeige. Die offiziellen Stimmen des Chavismus versichern dagegen, dass all dies eine Inszenierung der Opposition sei: es handele sich um Gruppen, die finanziert würden, um Plünderungen zu begehen, Lastwagen auszurauben, Akte von Vandalismus zu verüben, und die mit dem paramilitärischen Netzwerk verknüpft seien, welches das nationale Territorium seit mehreren Jahren durchdrungen hat. Für diese Erklärung gibt es Beweise: bei den Aktionen verhaftete Leute haben die Vorgehensweise der so genannten Taktischen Plünderungskommandos, den Preis eines jeden Akteurs sowie die verantwortlichen Finanziers enthüllt – die Partei von Leopoldo López, die Voluntad Popular, und die von Henrique Capriles Radonski geführte Primero Justicia.
Sicherlich ist es jedoch unmöglich zu wissen, was bei einem jeden dieser Ereignisse wirklich geschieht, wenn man nicht wenigstens über Informationen von einem Menschen, der vor Ort gewesen ist oder über einen Kollegen mit privilegierten Angaben verfügt. Dabei ist wichtig anzumerken, dass all dies bedeutet, im Augenblick der Analyse deren Beschränkungen zu erkennen. Tatsache ist, dass die materiellen Bedingungen sehr wohl eine Welle von Plünderungen ermöglichen könnten, aber auch, dass die geeigneten politischen Umstände noch nicht gegeben zu sein scheinen, und dass die Rechte auf dieses Terrain – bei Sonne und Wind, jedoch bei feuchtem Boden – Funken um Funken gesprüht hat, um die Gewalt zu entfachen, ohne dabei jedoch jemals ihr Gesicht zu zeigen.
Ich hatte bislang Informationen über zwei Ereignisse, darunter das des Stadtviertels La Vega: der Fahrer des ausgeraubten Fahrzeuges tot, ein geplünderter Metzger tot, ein Nationalgardist tot, ein Polizist mit einer Schussverletzung. All das nach Angaben aus dem Viertel von in Zellen organisierten Kriminellen in Szene gesetzt.
In diesem Umfeld bewegten wir uns bis zum vergangenen Dienstag, als sich das ereignete, was von einigen in Anspielung auf den Caracazo, die Volksrevolte von 1989, die den revolutionären Zyklus in Gang setzte, als “Cumanazo” bezeichnet wurde. Ich will mit einer Nachricht beginnen, die mir eine Freundin eines Kommunalen Rates gegen zehn Uhr nachts übermittelte, als Sicherheitskräfte die Stadt besetzten und man von zwei Toten erfuhr:
“Bis gerade eben hat es Plünderungsattacken gegeben, dabei sind Tausende von Geschäften, Bäckereien, Supermärkten, Optikerläden und Apotheken geplündert worden, sie haben einfach alles ausgeräumt. Morgen gibt es keinen Laden mehr, in dem es auch nur eine einzige Konserve zu kaufen gibt. Dieser Ausbruch hat uns mit dem erwischt, was wir noch in der Kühltruhe haben, es gibt kein Essen mehr zu kaufen, es gibt nichts mehr und alles ist zerstört, wenn es morgen hell wird und du keine Lebensmittel mehr hast, hast du nichts mehr zu essen. Es gibt keine einzige Stelle mehr, wo du noch was kaufen kannst, und das Schlimmste ist, du kannst nicht mal mehr zu einem Geldautomaten gehen und Geld abheben, du kannst überhaupt nichts mehr machen. Ich bitte Sie darum, diese Aufnahme zu senden, damit ganz Venezuela Bescheid weiß, wirklich das ganze Land, ich verstehe nicht, warum Hunger mit Vandalismus vermischt wird, ich könnte mir denken, dass vielleicht auch andere Dinge geklaut wurden, um sie weiterzuverkaufen und etwas Kasse zu machen, aber hier sind außerhalb der Plünderungen auch noch Motorradfahrer durch die Straßen gefahren und haben jedem, den sie getroffen haben, den Geldbeutel abgenommen, sie haben die Leute in den Autos überfallen, der totale Vandalismus. Das ist alles schrecklich, ich weiß nicht, wo das enden soll.”
Dies ist der realste Zeugenbericht, über den ich verfüge. Ich bezweifele, dass verschiedene andere – die sich mit verdächtiger Gewissheit äußern – weitere Zeugen oder wenigstens überhaupt auch nur einen vorweisen können. Alles wird über Netzwerke, Spekulationen und Wunschvorstellungen von Computern aus übermittelt. Sich diesem unsichtbaren Krieg seitens der Regierung ohne eine Kommunikationsstrategie – einzig mit vorhersagbarer Propaganda – entgegen zu stellen, heißt die Hälfte der Schlachten schon im vorhinein zu verlieren, bedeutet einer Kommunikationsguerrilla ausgesetzt zu sein, einem Werkzeug, das eigentlich vom Chavismus konzipiert worden war.
Ausgehend von den Ereignissen in Cumaná hat sich die Debatte in den Reihen des Chavismus intensiviert – außer in der Führung, die, obwohl sie sich auf einem leckgeschlagenen Schiff befindet, die Diskussion nicht eröffnet. Ist dies wirklich der Beginn von Plünderungen, die sich, ausgelöst von der Rechten, unter den Leuten auszubreiten vermögen? Handelt es sich dabei um das Übliche, diesmal nur im größeren Umfang von 200 Motorradfahrern anstatt von den klassischen kleinen Gruppen begangen? Ist es das legitime Recht des Volkes, seinen ganzen Hass gegen die privaten Hamsterer zu entladen, die ungestraft Hunger und Spekulation verbreiten? Ich neige zu einer Mischung all dieser Elemente, wobei ich die Hypothese von der Spontanität ausschließe. Das dies hat geschehen können, das war sicher, ebenso sicher wie das Bedürfnis danach, mehr Informationen einzuholen.
Deshalb begab ich mich am Mittwoch nach Petare – einen riesigen Stadtteil, ein schwarzes Loch der Politik, eine Bastion des Paramilitarismus. Dort hatte es in der Vorwoche eine Gewaltepisode gegeben. Ich setzte mich mit einigen Freunden der Kommune zum Gespräch zusammen, die dort im Herzen dieses Hurrikans eine Firma in Gemeinschaftsbesitz betreiben. “Hier hat es keine Plünderungen gegeben, sondern nur Verbrechen und Vandalismus, sie haben Lokale zertrümmert, Händler geschlagen, Gerätschaften mitgehen lassen, zwei kommunale Häuser angegriffen und eine Genossin der Kommune entführt”. Und als ob dies noch nicht genug gewesen wäre: “Sie brüllten Plünderung, Plünderung, der Lastwagen kam ohne Sicherheitsverriegelung, damit sie die Türen aufmachen konnten und es gab ganze Gruppen von Motorradfahrern, die einen Mordsaufruhr veranstaltet haben und immer im Kreis fuhren”.
Wenn ich das Ganze zusammenfassen sollte, würde ich drei Punkte nennen. Erstens: Teil der Kriegsstrategie ist und bleibt es, überall in den popularen Wohngebieten Gewalt auf den Straßen zu erzeugen. Keine Guarimbas [gewalttätige Straßenaktionen kleiner oppositioneller Gruppen mer ausschließlich in ihren engeren Unterstützerbereichen. Zweitens: die Lebensumstände werden immer schwieriger – in einigen Haushalten gibt es nur noch zwei Mahlzeiten am Tag, manchmal auch nur eine – und es scheint nicht so, dass sich das demnächst bessert. Drittens: die Führung, außer von Seiten der Lokalen Komitees für Versorgung und Produktion (Clap), reagiert nicht oder tut dies nur, indem sie die privaten Sektoren finanziert, die eben diesen Krieg schüren. Sie ist zu einem Großteil völlig abgeschottet und die Leute sehen das und sagen es auch.
Trotz alledem bin ich weiterhin davon überzeugt, dass die Revolution die Kraft besitzt, den Krieg zu gewinnen. Es ist dringend erforderlich, die historische Strategie wieder aufzunehmen, sich erneut mit einem Volk zu verbinden, das heldenhaften Widerstand leistet, um das wieder in Ordnung zu bringen, was mit der Wahlniederlage vom 6. Dezember offensichtlich geworden ist. Wie viele Reserven bleiben noch? Das ist schwierig zu erkennen. Es könnte weitere Cumanás geben, stärker und größer, näher an den Türen der Macht. Was werden wir dann tun?
Marco Teruggi ist Soziologe, Autor und Blogger, in Frankreich geboren, 2003 nach Argentinien gezogen, wo seine Eltern herkommen. Lebt seit 2013 in Venezuela