Deutschlands Kriegsbilanz (I)
von German Foreign Policy, 7. September 2016. Rund 17 Jahre nach dem NATO-Krieg gegen Jugoslawien und dem Beginn der Besetzung des Kosovo auch durch Deutschland bescheinigen Beobachter dem De-facto-Protektorat desolate politische, ökonomische und soziale Verhältnisse.
De-facto-Protektorat
Rund 17 Jahre nach dem NATO-Krieg gegen Jugoslawien und der anschließenden Besetzung der südserbischen Provinz Kosovo auch durch die Bundeswehr wird das Kosovo von den Mächten der EU auch weiterhin faktisch als Protektorat geführt. Die EU ist in der Hauptstadt Priština mit einem Sonderbeauftragten präsent, der schon deswegen über massiven Einfluss verfügt, weil die EU die kosovarische Regierung mit hohen Zuschüssen funktionsfähig hält. Seit 1999 sollen zwischen fünf und sechs Milliarden Euro nach Priština geflossen sein, wenngleich ein mutmaßlich hoher Anteil daran in die Taschen korrupter Politiker oder Staatsangestellter geflossen ist. Die EU übt darüber hinaus mit ihrer “Rechtsstaatsmission” EULEX (“European Rule of Law in Kosovo”) erheblichen Einfluss im Sezessionsgebiet aus, wobei ihr immer wieder vorgeworfen wird, selbst zutiefst in die kosovarische Korruption verstrickt zu sein.[1] Auch die NATO-Truppe KFOR (Kosovo Force) ist bis heute im Kosovo stationiert, um größere Aufstände oder auch soziale Konflikte bei Bedarf niederschlagen zu können. Sie wird seit Jahren abwechselnd von deutschen und italienischenen Generälen kommandiert. Der Anspruch der südserbischen Provinz auf Eigenstaatlichkeit wird bis heute nur von 109 der insgesamt 193 UN-Mitgliedstaaten anerkannt; sogar die EU ist gespalten, fünf EU-Staaten (Griechenland, Rumänien, Slowakei, Spanien, Zypern) verweigern ihr trotz massiven deutschen Drucks die Anerkennung – bis heute.
Kriegsverbrechen, Organisierte Kriminalität
Gegen die kosovarischen Eliten, die sich unter der Aufsicht insbesondere der EU in Priština an der Macht halten, werden ungebrochen schwere, ja schwerste Vorwürfe wegen Korruption und wegen Kriegsverbrechen erhoben. EULEX ist es, wie Beobachter kritisieren, seit dem Beginn ihrer Arbeit im Jahr 2008 nicht gelungen, auch nur einen einzigen führenden kosovarischen Politiker einer Verurteilung wegen Korruption zuzuführen. Als starker Mann des Sezessionsgebietes gilt seit 1999 Hashim Thaçi, der gegenwärtig als Präsident in Priština amtiert. Thaçi wird seit je als Anführer der kosovarischen Mafia eingestuft; gegen ihn sind mehrfach Vorwürfe erhoben worden, selbst oder über enge Mitarbeiter in den Mord an Serben, die Entnahme ihrer Organe und den Handel damit involviert gewesen zu sein (german-foreign-policy.com berichtete [2]). Ähnliches wird einer Reihe weiterer kosovarischer Spitzenpolitiker vorgeworfen, etwa Ramush Haradinaj.[3] Trotz massiver Obstruktion des kosovarischen Parlaments wird in Kürze ein Sondergericht erste Anklagen wegen kosovarischer Kriegsverbrechen erheben; sie könnten auch kosovarische Spitzenpolitiker treffen. Die Chance, dass es – 17 Jahre nach den Taten – zu Verurteilungen kommt, muss als nicht allzu günstig eingeschätzt werden: Zu dem langen zeitlichen Abstand kommt die Erfahrung hinzu, dass bereits bei den – wenigen – früheren Verfahren Zeugen entweder überraschend ums Leben kamen oder angesichts der sich häufenden Zahl derartiger Todesfälle ihre Bereitschaft zur Aussage gegen die neuen Machthaber in Priština zurückzogen. Die mutmaßlichen Täter kamen bislang straffrei davon.
Beschäftigungsquote: 28 Prozent
Die von der EU im Amt gehaltene korrupt-mafiöse Führung in Priština verantwortet nicht nur eine weitreichende politische Frustration in der Bevölkerung; die Wahlbeteilung sank im Jahr 2014 trotz der Wählermobilisierung interessierter Clans auf 42 Prozent. Auch Proteste drohen; im Januar 2015 etwa kam es kurz nach der Regierungsbildung zu den heftigsten Unruhen seit der Proklamation der Eigenstaatlichkeit im Jahr 2008. Die politische Kultur in Priština, die spürbar zur Resignation auf Seiten der kosovarischen Bevölkerung beiträgt, lässt sich nicht umfassend, aber doch in Ansätzen durch den Hinweis darauf beschreiben, dass Parlamentsdebatten in der Hauptstadt zuweilen mit Tränengas geführt werden, zuletzt am 9. August.[4] Zudem verantworten die kosovarischen Eliten die desolate wirtschaftliche und soziale Lage in dem Gebiet. Das Kosovo verzeichnet ein Pro-Kopf-Einkommen von durchschnittlich weniger als 2.800 Euro im Jahr und ist vollständig von Hilfen der EU und Rücküberweisungen im Ausland lebender Kosovo-Albaner abhängig. Echter ökonomischer Aufschwung ist nicht in Sicht. Die Arbeitslosigkeit ist exzessiv hoch; die Beschäftigungsquote liegt bei gerade einmal 28 Prozent.[5] 34 Prozent der Bevölkerung leben laut einem Bericht, der im Auftrag des Bundesamts für Migration und Flüchtlinge (BAMF) erstellt wurde, mit einem täglichen Durchschnittseinkommen von weniger als 1,55 Euro in absoluter Armut, zwölf Prozent mit einem Durchschnittseinkommen von weniger als 1,02 Euro sogar in extremer Armut, wobei Minderheiten wie Roma dem Bericht zufolge “überproportional stark betroffen” sind. Das Sozialsystem ist laut dem BAMF-Bericht “nur rudimentär ausgebaut und bietet keine angemessene Versorgung”; das Gesundheitssystem stagniert ebenfalls “auf einfachem Niveau”. “Der Gesundheitszustand der Bevölkerung ist entsprechend unbefriedigend”, heißt es weiter in dem Dokument: “So liegt die Lebenserwartung um fünf Jahre niedriger als in den Nachbarstaaten und um zehn Jahre niedriger als in der EU.” Die Kindersterblichkeit sei “die höchste in Europa”.
Blutrache
Miserabel ist nicht zuletzt die menschenrechtliche Situation. So konstatiert der im Auftrag des BAMF erstellte Bericht, dass – 17 Jahre nach dem Einmarsch der NATO, die den Krieg gegen Jugoslawien 1999 im Namen der Menschenrechte vom Zaun brach – die kosovarischen Clans ganz ungehindert archaischen Normen huldigen. “Gerade bei der ländlichen Bevölkerung”, heißt es höflich in dem Bericht, “sind althergebrachte Sitten, Tradition und Kultur noch sehr lebendig”.[6] Unter “althergebrachten Sitten” ist demnach zum Beispiel zu verstehen, dass “nicht die staatlichen Institutionen und deren Sanktionsmöglichkeiten im Zentrum stehen, sondern die Familien oder Familienverbände (Clans)”. Diese wiederum wendeten, heißt es, “ein Relikt aus dem albanischen Gewohnheitsrecht” an, nämlich “die Tradition der kosovo-albanischen Blutrache”. Zwar sei “die reine Tradition der Blutrache” heute “nur noch vereinzelt anzutreffen”; davon zu unterscheiden seien allerdings allgemeine “Racheakte”, bei denen “die Hemmschwelle, eine Schusswaffe zu benutzen, oft sehr niedrig” sei und die “beharrlich betrieben” würden.
Schüsse und Molotowcocktails
Entsprechend gestaltet sich die allgemeine Menschenrechtslage, die sich unter Protektoratsaufsicht der EU entwickelt hat. Ein Bericht der Vereinten Nationen verzeichnet für den Zeitraum vom 16. April bis zum 15. Juli insgesamt 86 gewalttätige “Zwischenfälle” – meist Angriffe auf Angehörige der serbischsprachigen Minderheit. Dazu zählten das Abfeuern von Schüssen auf das Haus eines serbischsprachigen Politikers und ein Molotowcocktailangriff auf eine von der Polizei geschützte Gruppe, die einen serbisch-orthodoxen Feiertag beging; nur aufgrund glücklicher Umstände kam niemand zu Schaden.[7] Wie Amnesty International berichtet, wurden im Jahr 2015 noch 1.650 Menschen vermisst, die während der bewaffneten Auseinandersetzungen der Jahre 1998 und 1999 verschwanden; die EU-Mission EULEX zog es vor, in Fällen, die serbischsprachige Bewohner des Kosovo betrafen, nicht angemessen zu ermitteln.[8] Minderheiten wie Roma oder Aschkali leiden laut Amnesty “weiterhin unter institutionalisierter Diskriminierung”; “tätliche Angriffe auf Lesben, Schwule, Bisexuelle, Transgeschlechtliche und Intersexuelle sowie andere Hassverbrechen”, heißt es weiter, seien von den Behörden gar nicht erst untersucht worden. Dass zahlreiche Journalisten beklagen, ihrer Arbeit wegen Bedrohungen oder tätlicher Angriffe nicht angemessen nachgehen zu können, entspricht dem allgemeinen Befund.
Kein Grund zur Flucht
Die Verhältnisse im deutsch-europäischen Protektorat Kosovo haben die Einwohner der Provinz zuletzt in Scharen auf die Flucht getrieben. Allein von November 2014 bis März 2015 verließen mehr als 50.000 Kosovo-Albaner ihr Land; bei einer Einwohnerzahl von insgesamt 1,8 Millionen entspricht dies einem Anteil an der Gesamtbevölkerung von 2,78 Prozent. Einen Asylantrag in Deutschland stellten laut Auskunft des Bundesinnenministeriums im Jahr 2014 insgesamt 8.923 Einwohner des Kosovo, im Jahr 2015 37.095; zusammengenommen sind das gut 2,56 Prozent der Gesamtbevölkerung. Chancen auf Asyl haben sie faktisch nicht: Schließlich wurde ihr Land 1999 von Deutschland und der NATO “befreit”; Fluchtgründe, die aus Sicht der deutschen Behörden nachvollziehbar und zulässig sind, liegen also nicht vor.