General

Happy to you: Auch für Flüchtlinge, Meere & Frauen

von Jürgmeier, Infosperber, 8. Januar 2017. Trump – der weisse Ritter. Das Frauenbild der Fällander. 65 oder das Verschwinden von Menschen. Gewalt macht aus Männern Helden.
24. November 2016
Der US-amerikanische Präsident-elect erklärt in einem Interview mit der New York Times, «er wolle die Ermittlungen in der E-Mail-Affäre um seine unterlegene Rivalin Hillary Clinton nicht weiterverfolgen. ‹Ich möchte die Clintons nicht verletzen›, sagte Trump. Hillary habe ‹genug gelitten›», zitiert ihn der Tagesanzeiger heute. Jetzt, da die Frau – die, karrieregeil, nach der Macht zu greifen wagte und die sie auch in Schweizer Fernsehsendungen gerne Hillary nennen – in ihre traditionelle Rolle, die des Opfers, verwiesen ist, inszeniert sich der Mann – der seine Anhänger*innen im Wahlkampf «Lock her up» schreien liess – als weisser Ritter. Gegenüber der Verliererin – Hillary erhielt, Stand 30. Dezember 2016, 2.8 Millionen Stimmen mehr als Trump – gibt der Sieger & (gewalttätige) Sexist den Kavalier. Einige spekulieren, wenn sie im Wahlkampf so emotional gewesen wäre wie in ihrer Rede nach der Niederlage, Hillary Clinton wäre gewählt worden. Die Welt, die Geschlechterwelt ist wieder in Ordnung. Zumindest in den USA.
Gage Skidmore // flickr // cc
7. Dezember 2016
Die Sprache der jungen Frauen, die im dafür vorgesehenen Raum des Zürcher Hauptbahnhofs auf irgendetwas warten – einen Zug, die grosse Liebe, Godot –, ist rau. Ihre Sprüche würden in einer Genderübung der Pädagogischen Hochschule vermutlich von den meisten angehenden Lehrer*innen jungen Männern zugeschrieben. Nebensätze verraten, eine von ihnen macht eine Lehre als medizinische Praxisassistentin. Und die erinnert sich plötzlich an Siamesische Zwillinge, die auf eine operative Trennung ihrer Köpfe warten. «Am Kopf zusammengewachsen? Krass!» Ruft eine der anderen. Presst ihre Schläfe an den Schädel einer Dritten. Die beiden stehen grinsend auf, torkeln KopfanKopf Richtung McClean und kommen nach einem kurzen Erlebnisparcours zurück. Immer noch empathisch aneinander klebend.
10. Dezember 2016
Ich stelle mir vor, ein Fällander habe eine Frau vergewaltigt & getötet. Und ich würde – per Mail, am Telefon oder auf der Strasse beim morgendlichen Einkauf – von einem dieser investigativen Journalist*innen gefragt, was ich, «als Fällander», dazu zu sagen habe. Ich wohne zwar seit bald dreizehn Jahren in diesem Zürcher Kaff, aber ausser den direkten Siedlungsnachbar*innen – und auch die längst nicht alle – kenne ich hier kaum einen Menschen mit Namen. Eine der Frauen am Postschalter. Den Getränkelieferanten. Eine der Ärzt*innen in der Gruppenpraxis, die mir, zum Glück, nicht vertraut ist.
Was habe ich, «als Fällander», zu diesem Verbrechen zu sagen, was nicht auch andere sagen könnten? Das kann «kein richtiger Fällander» gewesen sein? «Wir Fällander» haben das im Blut? «Sie als Fällander», will er wissen. Nicht als Zürcher. Nicht als Mann. Dann könnte, dann müsste er auch sich selber fragen. Ich lasse ihn u.a. schreiben: «Wir müssen über das Frauenbild der Fällander reden.»
Der Fällander in meinem Kopf ist in Wirklichkeit ein Flüchtling, ein Muslim, ein Araber, ein Nordafrikaner, ein Fremder. «In Deutschland ist nach dem Mord an einer Studentin in Freiburg im Breisgau und zwei Vergewaltigungen in Bochum», wird das Online-PortalFrauensicht am 15. Dezember 2016 schreiben, «das Frauenbild von Geflüchteten zum Thema in der Öffentlichkeit geworden. Keine Diskussionen über das Frauenbild ausgelöst hat hingegen eine aktuelle Umfrage, wonach für jeden vierten EU-Bürger Sex ohne Einwilligung gerechtfertigt sein kann.»
Wir neigen dazu, Gewalt & Kriminalität in der eigenen Gesellschaft als individuelle Abweichung, in fremden Gesellschaften als allgemeines, für sie typisches Phänomen zu interpretieren. Positive Eigenschaften in der eigenen Kultur werden gleichermassen verallgemeinert wie negative Merkmale in fremden Kulturen. «Täglich werden in der Schweiz, in Deutschland, in Spanien, Finnland und in allen anderen Ländern Frauen durch ihre Partner umgebracht.» Schreibt Güzin Kar in ihrer Tagesanzeiger-Kolumne. «Diese Morde heissen Streit, Familiendrama, erweiterter Suizid. Aber jetzt bloss keine Verallgemeinerungen. Weshalb sollte man rechtschaffene Männer einem Generalverdacht aussetzen? … Lasst uns Kerzen anzünden und über das Frauenbild von Flüchtlingen reden.»
Bei Gruppen, zu denen wir selbst gehören, weisen wir, entrüstet & zu Recht, Verallgemeinerungen zurück. Nicht alle Männer, nicht alle Frauen, nicht alle Schweizer*innen, nicht alle Hundebesitzer*innen, nicht alle Golfspieler*innen sind so und so. Verallgemeinerungen & Generalverdacht sind logisch unzulässige Denkfiguren, immer widerlegen Mehrheiten oder zumindest kleinere Gruppen das allgemeine «Die Schweizer», «Die Türken», «Die Finnen».
In der Sozialforschung wird mit so genannten Korrelationen versucht, einen statistischen Zusammenhang zwischen Eigenschaften und Verhalten herzustellen. Der Vorsitzende des Bundes deutscher Kriminalbeamter André Schulz wird kurz vor Weihnachten – nach dem Berliner Anschlag – bei Maybritt Illner darauf hinweisen, es gebe keinen Zusammenhang zwischen Ethnie und Kriminalität. Und die Psychologin Maggie Schauer wird in der gleichen TV-Runde daran erinnern, dass vor allem Menschen, die selbst Opfer von Gewalt waren, gewalttätig werden. (Aber natürlich längst nicht alle.) Für solche Differenzierungen fehlt in aufgeregten Zeiten die Geduld. Da wird lieber über das Frauenbild der Fällander und gewalttätige Kulturen parliert.
SVP-Plakat aus Abstimmungskampf Ausschaffungsinitiative 2007
Die Kulturalisierung von (sexueller) Gewalt, das heisst die Fokussierung auf die kulturelle Zugehörigkeit von Täter*innen zum einen und die Vernachlässigung anderer Faktoren – zum Beispiel Geschlecht, Alter, sozioökonomischer Hintergrund, Bildung, Sozialisation, eigene Gewalterfahrungen – hat gute Gründe: Gewalt & andere Bedrohungen könnten so mit den Fremden ausgegrenzt werden. Wo die Gewalt zur Gewalt der Fremden wird, erscheint das Leben unter Einheimischen & Vertrauten, das Leben im eigenen Land & Kaff als sicher. Das suggeriert auch das SVP-Plakat zur Ausschaffungsinitiative. Im Schweizerländchen tummeln sich nur noch weisse Schafe, nachdem das schwarze fremde Schaf ausgeschafft ist. Schweizer*innen, so die Unterstellung, sind durchwegs weisse Schafe. Wenn das keine rassistische Denkfigur ist.
11. Dezember 2016
65. Den ersten, der mich Rentner nennt – auch wenn es eine Frau sein sollte –, streiche ich aus meinen Kontakten & kippe sie aus meiner Facebook-Freundesliste. Aber natürlich bin ich ganz froh, dass mir ab Januar jeden Monat die AHV gutgeschrieben wird. Ohne dass ich irgendeinen ominösen Mehrwert generiere oder – wer zahlt, befiehlt – meine Agenda mit Seniorenaktivitäten & Traumreisen für die dritte Lebensphase fülle. Die AHV gibt’s auch ohne alterskonformes Wohlverhalten.
65. «Happy to you», singt mir der Enkel auf die Combox. Und weiss nicht, dass er mir zu weit nachhaltigerem Glück verhilft als die ihm vorsingenden Eltern. Mindestens für ein weiteres Jahr. Hoffentlich lernt er die korrekte Fassung nie. Singt mir auch in den nächsten Jahren das Happytoyou. Und irgendwann vielleicht auch dem Frieden, den Menschenrechten, den Meeren, den Flüchtlingen, den Frauen an ihrem (Geburts-)Tag.
65. Die Zahl zwingt gewöhnliche Werktätige in den (ökonomisch) nutzlosen Ruhestand, macht sie, Schritt für Schritt, überflüssig und bringt sie schliesslich vor der Zeit zum Verschwinden. Ganz anders der Papst. Der feiert seinen Achtzigsten und weiss – er kann bleiben, solange er will & lebt. Sein allfälliges Leiden & Sterben würde im Scheinwerferlicht der Weltöffentlichkeit zum heiligen Kreuzweg. Und in den USA macht sich eben gerade ein Siebzigjähriger daran, mit einem kleinen Grüppchen – Altersmedian: 61.5 – die Macht in der «westlichen Führungsnation» zu übernehmen. Donald Trumps Kabinett ist, abgesehen vom Vermögen, ein (zwar leicht verzerrtes) weisses & männliches Abbild seiner Wählerschaft. In der, mit Trump, 23 Köpfe kleinen Truppe – die «America great again» machen soll und mehr Vermögen besitzt «als ein Drittel der US-Bevölkerung» (Spiegel online, 16.12.2016) – gibt es keine U-44er*innen, maximal vier Frauen, einen Schwarzen, vermutlich keine Latinos. Die haben ihn schliesslich mehrheitlich nicht gewählt. Das ist gelebte Demokratie.
65. Auch für den Schreibenden zum Glück kein «harter Schnitt». Autor*innen können Autor*innen bleiben, solange Hirn & Finger einigermassen mitspielen. Und wer früh gescheitert ist, lässt sich auch im Alter von ausbleibendem Erfolg nicht schrecken.
15. Dezember 2016
Ist der Klassenkampf beendet, nur weil es dafür kein modisches Wort gibt?
24. Dezember 2016
«Warum mussten sie ihn so töten? Warum nicht aufs Bein schiessen, ihn verletzen, sodass er noch sprechen kann? Nun werden wir nie, nie erfahren, was passiert ist.» Zitiert der Tagesanzeiger die Klage der tunesischen Mutter des mutmasslichen Täters von Berlin.
Die Opfer waren noch nicht identifiziert geschweige denn betrauert, die Täterschaft längst nicht geklärt – da wurde auf den Anschlag bei der Berliner Gedächtniskirche mit propagandistischen Textbausteinen reagiert, die, womöglich, schon bereit lagen wie die Nachrufe für alternde Stars. Es musste nur noch ein geeigneter Täter die passenden Leichen «liefern». «Es sind Merkels Tote!» Twitterte Marcus Pretzell, AfD-Politiker & Lebensgefährte von AfD-Chefin Petry. Gemäss Tagesanzeiger nur gerade mal 60 Minuten danach. Der Tag nach diesem 19. Dezember 2016 war in Europa erst zwanzig Minuten alt, da verbreitete Donald Trump im fernen Amerika eine seiner Kurzbotschaften: «Heute gab es Terroranschläge in der Türkei, in der Schweiz und in Deutschland, und es wird immer schlimmer. Die zivilisierte Welt muss ihr Denken verändern!» Wenn es die Attentate nicht gäbe, sie müssten erfunden oder initiiert werden.
Facebook-Eintrag
Der bayrische Ministerpräsident Seehofer brauchte 14 Stunden für das vom Spiegelzitierte Statement: «Wir sind es den Opfern, den Betroffenen und der gesamten Bevölkerung schuldig, dass wir unsere gesamte Zuwanderungs- und Sicherheitspolitik überdenken und neu justieren.» Angela Merkel erklärte in unsicherer Stunde: «Ich weiss, dass es für uns alle besonders schwer zu ertragen wäre, wenn sich bestätigen würde, dass ein Mensch diese Tat begangen hat, der in Deutschland um Schutz und Asyl gebeten hat. Dies wäre besonders widerwärtig» (Tagesanzeiger, 20.12.). Als ob es leichter zu ertragen, weniger «widerwärtig» wäre, wenn ein Ur-Bayer oder eine Berlinerin der 28. Generation die zwölf Menschen ermordet & viele mehr verletzt hätte.
Der Mann, der – nachdem ein erster Verdächtiger freigelassen werden musste – als Fahrer des todbringenden Lastwagens gilt, wird am 23. Dezember in Mailand «bei einem Schusswechsel erschossen» (Blick online, 23.12.). «Italien feiert seinen Helden», schreibt der Blick über den Polizisten, der den tödlichen Schuss abgegeben hat. Das Bild seines angeschossenen Kollegen im Spitalbett und dessen Besuchern, die das Victoryzeichen oder den gelikten Daumen in die Kamera strecken, macht die mediale Runde. Wären die beiden Polizisten auch als Helden gefeiert worden, wenn sie den Mann – für den, eher theoretisch, die Unschuldsvermutung gilt – nur betäubt hätten, so wie es mit Löwen & Elefanten gemacht wird? Oder macht erst tödliche Gewalt aus Männern Helden – bei den Terroristen und denen, die sie bekämpfen?
In Israel werden Anfang 2017 viele einen von einem Militärgericht in Jaffa wegen Totschlags schuldig gesprochenen Soldaten als Helden sehen. Selbst Regierungschef Netanyahu wird die Begnadigung für den Mann verlangen, der, filmisch nachgewiesen, einen «palästinensischen Angreifer» (NZZ, 5.1.2017) erschossen hat, als dieser bereits «wehrlos auf dem Boden liegt und die Soldaten und Krankenhelfer bereits mit der Räumung beschäftigt sind». Mörder, sagen die einen; Held, der gegen den Terror kämpft, die anderen.
«Warum mussten sie ihn töten?» Die Frage darf, vermutlich, nur die Mutter stellen. Selbst im katholischen Italien. Selbst im christlichen Abendland. Selbst einen Tag vor Heiligabend. Liebet eure Feinde. Die christliche Botschaft. Aber keine & keiner stellt die Frage, ob es nicht auch anders gegangen wäre. Mag sein, dass die italienischen Polizisten – die im öffentlichen Dienst zuweilen ihr Leben riskieren müssen – in Notwehr gehandelt haben. Das wird in einem Rechtsstaat abgeklärt werden. Aber, und das ist das Beklemmende, rechtfertigte Notwehr Jubel, Siegestaumel, Heldenkult? Der terroristischen Triumphgebärden gleicht?