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Mehr als eine «Schande» – Höckes AfD-Deutschland


Von Jürgmeier,
Infosperber,
31. Januar 2017 – Deutschland brauche eine «erinnerungspolitische Wende um
180 Grad». So AfD-Höcke. Die Deutschen – nicht mehr Täter, sondern Opfer?

Höcke beim Jugendverband
der AfD, im Rahmen der «Dresdner Gespräche», im Ball- und Brauhaus Watzke
Der
deutsche AfD-Politiker Björn Höcke hat am 17. Januar 2017 wieder einmal eine
Rede gehalten. In Dresden. Das er zur Freude seines Publikums die «Hauptstadt
der Mutbürger» nennt: «Eigentlich dürfte nicht Berlin, eigentlich müsste
Dresden die deutsche Hauptstadt [sein].» Und Höcke – der Kanzler? der Führer?
«Ich weise dieser Partei einen langen und entbehrungsreichen Weg. Aber es ist
der einzige Weg, der zu einem vollständigen Sieg führt, und dieses Land braucht
einen vollständigen Sieg der AfD.» Auch das sagt der Geschichtslehrer a. D. in
dieser Rede, nach der, so der Kolumnist Sascha Lobo auf Spiegel online am
18. Januar, «keiner mehr sagen» könne, «er habe nicht gewusst, was Höcke mit
der AfD vorhat». Nämlich inhaltliche «Fundamentalopposition». Und: «Wir werden
das so lange durchhalten, bis wir in diesem Land 51 Prozent erreicht haben.»
Widerstandskämpfer
in Feindesland
Die
Rede – die Sehnsüchte & Phantasien verrät, auf die noch vertiefter
einzugehen ist – provoziert wie, bestimmt, beabsichtigt Empörung & mehrere
«Anzeigen wegen Volksverhetzung» (Wikipedia). Aber, was wäre die Wirkung
eines Verbots solcher Reden? Böte es Schutz vor dem, was da aus dem Schoss zu
kriechen droht, der nach Bertolt Brecht noch immer fruchtbar ist? Oder stützte
es die propagandistischen Mut- & Heldeninszenierungen der AfD? Höcke lobt
am Anfang seiner Rede die Junge Alternative für den «Mut», den sie bewiesen,
einen «unbequemen Redner», ihn, einzuladen. Das sei «ein grosser, schwieriger
organisatorischer Akt, gerade wenn man gegen so viele Gegner zu kämpfen hat».
Heute
wäre es für ihn «wahrscheinlich eine lebensgefährliche Aktion», wenn er sich
auf dem Weg zu einem Pegida-Spaziergang an «Gruppen von sogenannten
Antifaschisten» vorbeidrängen müsste. Auch wenn AfD-Vertreter*innen schon mal
(undemokratisch) niedergebrüllt & nicht nur gewaltfrei am Reden gehindert
werden, wie am 12. Januar an der Uni Magdeburg, die
Höckesche Selbstinszenierung als Widerstandskämpfer in Feindesland ist in einem
Staat, in dem noch die unerträglichsten Reden (zu Recht) durch die Verfassung
geschützt werden, reine Propaganda. Mit dem Ziel, die AfD als «letzte
friedliche Chance für unser Vaterland» zu preisen. Das tönt wie eine Drohung
vor dem, was Deutschland bevorstünde, wenn seine Bürger*innen nicht AfD
wählten.
Deutschland
2017 zeichnet er als Land mit «aufgetürmten Problemhalden». Die «einst
geachtete Armee» sei zu «einer durchgegenderten multikulturalisierten
Eingreiftruppe im Dienste der USA verkommen». «Unsere einst hoch geschätzte
Kultur» drohe, nach einer «umfassenden Amerikanisierung», «in einer
multikulturellen Beliebigkeit unterzugehen». «Unser einst weltweit beneideter
sozialer Friede ist durch … den Import fremder Völkerschaften und die
zwangsläufigen Konflikte existenziell gefährdet.» «Altparteien»,
Gewerkschaften, Amtskirchen und «die immer schneller wachsende Sozialindustrie
… lösen unser liebes deutsches Vaterland auf wie ein Stück Seife unter einem
lauwarmen Wasserstrahl. Aber wir … Patrioten werden diesen Wasserstrahl jetzt
zudrehen, wir werden uns unser Deutschland Stück für Stück zurückholen.»
Welches Deutschland meint der 1972 Geborene? Parallelen zur Sprache in
düstersten Zeiten deutscher Geschichte sind unabweisbar. Daran ändert auch das
von Provozierenden gerne & empört nachgeschobene «So war es nicht gemeint»
nichts. Wer (immer wieder) redet wie Höcke, weiss, was er sagt. Und wer ihm
zuhört, weiss, was er meint.
«Deutsche
Opfer gab es nicht mehr, … nur noch deutsche Täter»
Höckes
Rede vom 17.1. zielt darauf ab, «wieder eine positive Beziehung zu unserer
Geschichte» aufzubauen. Ohne ein Wort zu den Opfern nationalsozialistischer
Angriffskriege und der Vernichtungslager des «Tausendjährigen Reiches» beklagt
er, mit der «Bombardierung Dresdens und der anderen deutschen Städte wollte man
nichts anderes als uns unsere kollektive Identität [was heisst das in
Nazideutschland?] rauben. Man wollte uns mit Stumpf und Stiel vernichten, man
wollte unsere Wurzeln roden.» Da wird die nationalsozialistische
Ausrottungspolitik um 180 Grad gedreht & auf die Alliierten projiziert.
Ähnlicher «Logik» folgend geisselt er die Entnazifizierung nach 1945 als
«systematische Umerziehung». Als hätte die Diktatur 1945 nicht geendet, sondern
erst begonnen. «Deutsche Opfer gab es nicht mehr, sondern es gab nur noch
deutsche Täter. Bis heute sind wir nicht in der Lage unsere eigenen Opfer zu
betrauern.» Als hätten deutsche Opfer in Wissenschaft, Literatur und Film nicht
längst einen festen Platz neben den Opfern «der Deutschen» gefunden. Und dann
zieht Höcke eine direkte Linie zwischen Berlin 1945 und Berlin 2016:
«Augenfällig wurde das wieder beim würdelosen Umgang mit den Opfern des
Berliner Terroranschlags.»
Eine
ähnliche Verbindung macht auch Dominique Eigenmann am 18. Januar, vermutlich
noch in Unkenntnis von Höckes Rede, in seinem Tagesanzeiger-Kommentar
«Tätervolk trauert nicht». Anders als in angelsächsischen habe es in deutschen
Medien «statt anrührender Geschichten über die Opfer … lange Geschichten über
den Täter» zu lesen gegeben. «Fehlt Deutschland eine Gedenkkultur?», fragt der
Schweizer Journalist in Berlin, «Oder ist der schnelle Übergang zur Normalität
ein Zeichen für mentale Gesundheit in Zeiten des Terrors? Oder aber, im
Gegenteil, Beleg einer neuen ‹Unfähigkeit zu trauern›, wie sie die
Psychoanalytiker Alexander und Margarete Mitscherlich für Deutschland nach dem
Zweiten Weltkrieg festgestellt hatten?»
Während
ich, am 27. Januar, diese Zeilen schreibe, überträgt das ZDF (wieder einmal)
eine Gedenkstunde des Deutschen Bundestags für die Opfer des Nazi-Regimes. Der
Versuch, nach einer (mitverschuldeten) Katastrophe möglichst schnell in den
Alltag zurückzukehren, ist nicht spezifisch deutsch. Die meisten Individuen
& Kollektive neigen dazu, die kaum auszuhaltende VerzweiflungOhnmachtTrauer
angesichts von Tod & Getöteten zu vertreiben, indem sie weitermachen, als
ob nichts geschehen, oder Schuldige für das Unerträgliche suchen, sich mit den
Täter*innen beschäftigen, um nicht im Meer der Tränen unterzugehen. Auch der
französische Präsident François Hollande hat nicht nur «die Opfer von
Terroranschlägen als Märtyrer der Republik» geehrt, er hat auch den Tätern
umgehend (wieder) den Krieg erklärt.
Vor
allem aber haben die Mitscherlichs mit ihrem berühmten Diktum nicht in erster
Linie fehlende Gedenkkultur gemeint, sondern «die Unfähigkeit zur Trauer um den
erlittenen Verlust des Führers» als «Ergebnis einer intensiven Abwehr von
Schuld, Scham und Angst». Nicht die fehlende Trauer um die «eigenen» Toten
steht in dem 1967 erschienenen Buch von Margarete & Alexander Mitscherlich
im Vordergrund, sondern die weitgehend ausbleibende Trauer um den toten Hitler
& das zusammengebrochene «Grossdeutschland». Als ob nicht grosse Teile der
Bevölkerung dem «Führer» eben noch zugejubelt und auf den «Endsieg» gehofft
hätten. «Die Nazivergangenheit wird derealisiert, entwirklicht.» Die Erinnerung
an Millionen Gemordeter durch das deutsche Wirtschaftswunder ausgelöscht.
Erst
Jahre später beginnt die vertiefende, für die Kriegs- und
Nachkriegsgenerationen bis heute beklemmende Analyse & «Aufarbeitung» des
Vergangenen. Höcke, um auf ihn & seine Rede im Januar 2017 zurückzukommen,
benutzt den «Umgang» mit den Opfern von Berlin 2016 dafür, die deutschen Opfer
des Zweiten Weltkriegs, die es natürlich auch gegeben hat (nicht zuletzt unter
den Juden & Jüdinnen, Kommunist*innen, Sozialdemokrat*innen,
Gewerkschafter*innen und den im Rahmen des «Euthanasieprogramm» Ermordeten), in
den Vordergrund zu schieben – «Bis heute sind wir nicht in der Lage, unsere
eigenen Opfer zu betrauern» – und zu lamentieren: «Wir Deutschen – und ich rede
jetzt nicht von euch Patrioten, die sich hier und heute versammelt haben – wir
Deutschen, also unser Volk, sind das einzige Volk der Welt, das sich ein
Denkmal der Schande in das Herz seiner Hauptstadt gepflanzt hat.» Auf die
voraussehbare & willkommene Empörung ob dieses Satzes reagiert der
Thüringer AfD-Fraktionsvorsitzende mit einem klassischen
AfD-Verteidigungsschlag: «Angeblich soll ich dort [Rede vom 17.1. in Dresden]
das Holocaust-Gedenken der Deutschen kritisiert haben. Diese Auslegung ist eine
bösartige und bewusst verleumdende Interpretation dessen, was ich tatsächlich
gesagt habe. Wörtlich habe ich gesagt: ‹Wir Deutschen sind das einzige Volk,
das sich ein Denkmal der Schande in das Herz seiner Hauptstadt gepflanzt hat.›
Das heisst, ich habe den Holocaust, also den von Deutschen verübten Völkermord
an den Juden, als Schande für unser Volk bezeichnet» (Aus «Persönliche Erklärung von Björn
Höcke zu seiner Dresdner Rede
»).
«Erinnerungspolitische
Wende um 180 Grad»
Warum
nimmt er dann die ihm lauschenden «Patrioten» explizit aus diesem Volk aus?
Spricht nur wenige Sätze nach dem ins Herz gepflanzten «Denkmal der Schande»
von der «dämliche[n] Bewältigungspolitik»? Vor allem aber ist auch der in der
Verteidigung seiner Rede verwendete Euphemismus «Schande für unser Volk»
verräterisch. Das Deutsche Universalwörterbuch des Duden-Verlags definiert
Schande als «etwas, was jemandes Ansehen in hohem Masse schadet». Das heisst,
der millionenfache Mord, u.a. an Juden & Jüdinnen, schadet dem Ansehen
Deutschlands. Diese «Schande» – die Millionen umgebracht hat – will er aus der
deutschen Geschichte tilgen. «Anstatt die nachwachsende Generation mit den grossen
Wohltätern, den bekannten weltbewegenden Philosophen, den Musikern, den
genialen Entdeckern und Erfindern in Berührung zu bringen, von denen wir ja so
viele haben …, vielleicht mehr als jedes andere Volk auf dieser Welt» – das
«Herrenvolk» lässt grüssen – «…anstatt unsere Schüler in den Schulen mit dieser
Geschichte in Berührung zu bringen» – als ob das nicht geschähe –, «wird die
… deutsche Geschichte mies und lächerlich gemacht.» Mit der Erinnerung an
nationalsozialistische Verbrechen. «So kann es und darf es nicht weitergehen!»
Und dann verrät er den (un)heimlichen Wunsch, den, vermutlich, auch andere in
Deutschland mit ihm teilen: «Wir brauchen nichts anderes als [eine]
erinnerungspolitische Wende um 180 Grad.» Die Deutschen, 180 Grad ist 180 Grad,
nicht mehr Täter, nur noch Opfer? «Wir brauchen eine lebendige
Erinnerungskultur, die uns vor allen Dingen und zuallererst mit den
grossartigen Leistungen der Altvorderen in Berührung bringt.» Das heisst,
Kriegsverbrechen, Völkermord und nationalsozialistische Tyrannei aus Geschichte
& Erinnerung tilgt. Die Ermordeten würden trotzdem nicht wieder lebendig.
Damit
würden die düsteren Ahnungen von Überlebenden deutscher Vernichtungslager
Wirklichkeit. Gabor Hirsch (Überlebender von Auschwitz), der die Kontaktstelle
für Überlebende des Holocaust in der Schweiz gegründet hat, mit dem Ziel, ihre
Erinnerung weiterzugeben, um aufzuzeigen, «wohin Ausgrenzung, Rassismus und
Antisemitismus führen können», wird in einem Bund-Porträt vom
27. Januar 2017 mit dem Satz zitiert: «Trotzdem sind in vielen Ländern rechte
Parteien auf dem Vormarsch. Wahrscheinlich haben wir keine gute Arbeit
geleistet.» Wir und unsere Nachgeborenen können es nicht länger &
ausgerechnet den letzten Überlebenden der «deutschen Schande» – die bald alle
eines «natürlichen» Todes gestorben sein werden – überlassen, dafür zu sorgen,
dass die Höckes nicht das letzte Wort haben.