Teilen oder schießen? Warum sich 2015 wiederholen muss
von Medico, 04.03.2020. Es war absehbar: Die Situation von Millionen Vertriebenen der Kriege im Nahen Osten und der Horror auf den griechischen Inseln lassen sich nicht ignorieren. Europas Versuche, sie sich mit politischen Deals vom Hals zu halten, sind gescheitert. Die Abschreckungspolitik gegen Geflüchtete, die an die Stelle einer konsistenten politischen Idee getreten ist, implodiert. Und trotzdem scheint erneut politischer Konsens zu sein: „2015 darf sich nicht wiederholen.“ Warum eigentlich nicht? Wovor haben Politiker*innen aller Lager eigentlich Angst?
2015 wurden Menschen auf der Suche nach einem Leben in Sicherheit mit offenen Armen empfangen, viele öffneten ihre Wohnzimmer und manche auch ihre Herzen. Natürlich gab es Unordnung, was sonst? Sogar die Bundeskanzlerin sagte: „Wir schaffen das“. Doch dann sind beinahe alle politischen Akteur*innen eingeknickt – unter dem Druck von rechts. Die Helfenden wurden im Stich und die Geflüchteten in größtmöglicher Unsicherheit gelassen, das Asylrecht verschärft und Angst gesät. Die Stärkung einer Zivilgesellschaft, einer Gesellschaft der Vielen, die teilt und offen ist, wurde verpasst.
Nicht 2015 war das Desaster, sondern vieles, was danach geschah: Wir erleben die Agonie und das Ende der Politik. Menschen sterben auf dem Mittelmeer, unter den Augen der europäischen Küstenwachen und Kamerateams – eine Form der unterlassenen Hilfeleistung und ein eklatanter Bruch des verbrieften Rechts auf Asyl. Das sind nicht zuletzt Versuche, innenpolitisch mit einer migrationsfeindlichen Politik der erstarkenden extremen Rechten das Wasser abzugraben. Sie basieren auf der idiotischen Behauptung, Rassismus sei das Ergebnis von Migration. Dem folgt die infame Strategie, mit der Bekämpfung von Migrant*innen den Rechtsextremismus schwächen zu wollen.
Doch das Gegenteil ist der Fall. Die migrationsfeindliche Politik der Regierungen gerät zu einer Aufforderung an die extreme Rechte, selbst zur Tat zu schreiten. Der politische Diskurs der letzten Jahre ist eine Einladung an Neonazis. Er hat den Boden der rassistischen Morde und Übergriffe bereitet. Der Rassismus einer „Verteidigung Europas gegen Einwanderung“ verbindet die Morde in Hanau mit dem Sterben im Mittelmeer und dem Elend der griechischen Inseln. Auf Lesbos nehmen griechische Rechtsextreme den Grenzschutz in die eigenen Hände und inszenieren sich als die eigentlichen Verteidiger*innen des Abendlandes.
In Idlib bombardieren derweil Russland und das Assad-Regime gezielt Schulen und Krankenhäuser, schlagen eine Million Menschen in die Flucht, hinterlassen verbrannte Erde und zwingen sie an die Grenze der Ausweglosigkeit. In Nordsyrien bleiben ein völkerrechtswidriger Angriff der Türkei und die Besatzung durch islamistische Milizen folgenlos. Auch das ist Ergebnis des europäischen Aussitzens und der sinnlosen Hoffnung, es werde nicht so schlimm kommen. Es ist schlimmer gekommen. Ließ die Migrationsabwehr über Jahre Menschen auf der Flucht sterben, wird sie sich im Schießbefehl an den Grenzen der EU vollenden.
Autoritäre Entrechtung und Verrohung wenden sich bereits nach Innen. So steht Europa heute am Scheideweg: Ist die Agenda der extremen Rechten Basis der Politik oder sind es Menschenrechte und Demokratie? Das Entsetzen der Öffentlichkeit über die Verletzungen der Menschenrechte an Europas Außengrenzen, der politische Wille der Zivilgesellschaft und die Aufnahmebereitschaft der Kommunen liegen vor. Sie sollten Pegida als Stichwortgeber der Migrationspolitik ablösen.
Es ist Zeit, diesen Kurs als gescheitert zu betrachten und sich auf eine menschenrechtsbasierte, pro-migrantische Politik festzulegen. Sie ist nicht nur moralisch geboten, sondern auch Voraussetzung für einen wirksamen Kampf gegen den Rassismus in Europa.
Es braucht jetzt sofort:
- eine Grenzöffnung in Griechenland und einen europäischen Aufnahmemechanismus.
- ein Ende des Lagersystems in Europa und die sofortige Evakuierung der griechischen Inseln – wegen des fortgesetzten Horrors in Moria und der konkreten Bedrohung durch Faschist*innen auf Lesbos.
- einen humanitären Korridor für Flüchtlinge aus Idlib nach Europa.