Ein Jahr Corona und kein Ende: „Es fehlt eine transparente Gesamtstrategie!“
von Nachdenkseiten, 8. Februar 2021. Die „Infektionszahlen“ sinken, die Angst vor Mutanten steigt. Nach bald zwölf Monaten Pandemie zerstreuen die Bundesregierung und ihre Berater weiterhin jede Hoffnung auf eine rasche Entspannung der Lage. Statt Lockdown-Lockerung bestimmt die Gefahr einer „dritten Welle“ die Agenda. Für Statistikprofessor Gerd Bosbach fehlen dafür bisher belastbare Belege, so wie er überhaupt einen Mangel an Durchblick bei den Krisenmanagern feststellt.
Statt wichtige Fragen zum Virus, der Ansteckungswege und Verbreitung zu erforschen, vergeude man Ressourcen bei der Kontaktverfolgung, schicke gesunde Menschen in Quarantäne und schössen in den Altenheimen die Todeszahlen in die Höhe. Im Interview mit den NachDenkSeiten rät der gelernte Mathematiker: „Wir müssen lernen, mit Corona zu leben.“ Mit ihm sprach Ralf Wurzbacher.
Herr Bosbach, die täglich vom Robert Koch-Institut (RKI) vermeldeten sogenannten Infektionszahlen sind seit geraumer Zeit rückläufig. Gleichwohl haben die politisch Verantwortlichen den Corona-Lockdown jüngst noch einmal verschärft und liebäugelt die Bundeskanzlerin weiterhin mit dessen Verlängerung, wenn nicht gar mit noch härteren Gangart zur Bewältigung der Krise. Wie wirkt das alles auf Sie?
Das ganze Vorgehen wirkt auf mich planlos. Oder zumindest erklärt man uns den Plan nicht, der vielleicht dahintersteht. Wirklich konkret wird man eigentlich nur beim angeblichen Ziel mit der Zahl von 50 Neuinfektionen pro 100.000 Einwohnern in einer Woche. Nach Meinung einer Vielzahl von Experten ist diese Inzidenz aber im Winter eine kaum erreichbare Zielgröße. Und was passiert, wenn man das irgendwie und irgendwann dann doch schafft, wurde uns bisher auch nicht gesagt. Wird dann wieder auf „normal“ geschaltet oder einiges gelockert? Und was? Wir wissen es nicht, beziehungsweise hört man dazu von den Verantwortlichen reichlich Widersprüchliches. Je näher wir der angestrebten Zahl 50 kommen, hören wir auch schon 30, 10 oder gar 0 müsse das Ziel sein. Was ich allerdings nachvollziehen kann, ist die Angst davor, dass demnächst eine deutlich ansteckendere Virusvariante um sich greifen könnte. Aber dafür fehlen momentan noch systematische Belege.
Punktuell sind durchaus schon entsprechende Fälle aufgetreten. Für Sie reicht das noch nicht, von einer ernsten Bedrohung der neuen Virusvarianten auch für Deutschland auszugehen?
Hätte man sich in Deutschland gleich mit den neuen Erregern befasst, wüsste man jetzt schon viel mehr darüber und könnte die Gefahren besser abschätzen. Es fällt auf, dass die Politik seit Weihnachten massive Ängste vor dem Fall X äußert, aber jetzt erst damit anfängt, zu untersuchen, ob diese Mutanten bei uns vorkommen und in welchem Umfang. Schon Mitte Dezember wurde über 1.100 dieser Fälle in Südostengland berichtet. Trotzdem ließ hier man die Zeit ungenutzt verstreichen. Das verstehe ich nicht und das schließt an meine grundsätzliche Kritik an der gesamten Krisenbewältigung und -kommunikation an: Es wird viel geredet und es werden immer wieder neue Angstbilder und Gefahrenszenarien beschworen. Aber die Bereitschaft, die vielen noch offenen Fragen gründlich zu erforschen, ist schwach ausgeprägt – etwa was die Weitergabe des Virus durch Geimpfte oder früher Infizierte angeht, den Grad der Verbreitung in der Gesamtbevölkerung, also die Dunkelziffer, oder auch die Wirkungsbelege einzelner Maßnahmen. Es gibt ja durchaus viele tolle Forschungsarbeiten zu diesem und jenem Aspekt. Aber jeder der Akteure, ob einzelne Wissenschaftler, Universitäten oder Forschungsinstitute, manchmal sogar untereinander koordiniert, kocht sein eigenes Süppchen, ohne dass eine Gesamtstrategie des Corona-Kabinetts erkennbar wäre.
Wie müsste eine Gesamtstrategie in Ihren Augen aussehen?
Das werden wir jetzt nicht in ein paar Sätzen klären. Aber zunächst ist die grundlegende Frage zu stellen: Was ist wesentlich zu wissen? Wir nennen das in der Empirie die Forschungsfragen. Im nächsten Schritt ist zu überlegen, wie sich darauf eine Antwort finden lässt. Und dann müssen diese Forschungsarbeiten bei den geeigneten Stellen beauftragt werden. Zu einer Fragestellung können dann gerne auch mehrere Akteure unabhängig voneinander zu Rate gezogen werden. Und zur Strategie gehört auch die Frage nach dem Ziel. Was wollen und können wir erreichen? Daran müssen sich Maßnahmen messen lassen.
Das hört sich banal an.
Ja, aber von einem irgendwie orchestrierten Herangehen sehe ich auch nach einem Jahr Corona nichts. Einer neuen Regierung billigt man zur Einarbeitung nur 100 Tage zu. Schon die Grundfrage, wie viele Menschen in der Bevölkerung infiziert sind, wie viele davon erkrankt, wie viele schwer und wie viele davon positiv getestet waren, ist immer noch nicht geklärt. Darauf habe ich schon Anfang April 2020 hingewiesen. Was es endlich braucht, sind repräsentative und regelmäßige Stichprobenuntersuchungen mit mehreren Tausend Teilnehmern aus allen Bevölkerungsgruppen. Das RKI hat eine solche nach fast einem Jahr noch immer nicht geliefert. Obwohl es selbst von einer hohen Dunkelziffer ausgeht, macht es keine Anstalten, diesen Schattenbereich auszuleuchten. Auch hier gibt es punktuelle gute Forschungen wie in Heinsberg, München oder Köln, aber nichts bundesweites.
Es ist lange her, da hatte das RKI eine entsprechende Studie angekündigt. Eigentlich hätten schon Anfang Mai 2020 erste Ergebnisse vorliegen sollen …
Diese Studie wurde eigentlich vom Helmholtz-Institut geplant. Das RKI ist quasi nur mit aufgesprungen, wollte dann aber die erste Geige spielen und so ist das Ganze dann wieder eingeschlafen. Fast im Dunkeln stochert man genauso bei der Frage, was mit den sogenannten Genesenen ist, die einen Kontakt mit dem Erreger oder eine Erkrankung hinter sich haben. Zum Beispiel war jetzt zu lesen, dass in Rheinland-Pfalz auch diese Menschen geimpft werden. Vielleicht ist das unnötig, sofern die Betroffenen selbst einen natürlichen Schutz aufgebaut haben. Und vielleicht verschwendet man damit viele der knappen Impfdosen. Wissen mag nicht immer vor Dummheit schützen. Aber nichts zu wissen, ist der schlechteste Schutz.
Immerhin glauben die Bundesregierung und ihre Berater zu wissen, dass man das Virus nur unter einer Inzidenz von 50 in den Griff bekommt. Das ist doch wenigstens etwas?
Ja, aber was ist das wert, wenn nach Expertenmeinung davon auszugehen ist, dass die Dunkelziffer der mit Corona in Kontakt gekommenen Menschen drei- bis fünfmal so hoch ist, wie die Zahl der positiv Getesteten? Da können die Gesundheitsämter versuchen, noch so viele Kontakte von positiv Getesteten nachzuverfolgen – der Großteil an möglichen Virusüberträgern geht ihnen durch die Lappen. Und die bewegen sich unwissend locker weiter, in Bus und Bahn, auf der Arbeit und in ihrer Familie. Hier hätte man viel bürokratischen Aufwand für die Nachverfolgung besser nutzen können, etwa bei der Kontrolle von Hygienemaßnahmen in Betrieben oder zur Abklärung der Frage, ob ehemals Positive sich noch einmal infizieren.
Umgekehrt werden aber auch viele Menschen mit positivem PCR-Nachweis zu Virusüberträgern erklärt, obwohl sie symptomlos bleiben, nicht erkranken und vielleicht gar nicht infektiös sind.
Das Problem kennt man aus der Krebs- oder AIDS-Diagnostik, aber im Prinzip bei allen medizinischen Tests. Bei einer seltenen Krankheit – wie es die Erkrankung mit Covid-19 ist – liefern selbst Tests mit einer nur geringfügigen Fehleranfälligkeit vergleichsweise viele falsch positive Treffer, wenn sie bei vielen Gesunden angewandt werden. Wenn sie eine Million Menschen testen, von denen 10.000 tatsächlich krank sind und der Test zeigt nur in 0,1 Prozent der Fälle fehlerhaft krank, also falsch positiv, an, dann erhält man zusätzlich 990 falsch Positive. In diesem Beispiel ist also fast ein Zehntel der positiven Ergebnisse falsch. Die Zahl der falschen Resultate steigt, je kleiner die Rate der tatsächlich Erkrankten und je größer die Fehleranfälligkeit ist. In der Wissenschaft ist dieses Phänomen allgemein bekannt und diskutiert. Mit Blick auf die PCR-Corona-Tests wurde es aber praktisch nie öffentlich behandelt.
Fragt man beim RKI nach, heißt es, die Fehleranfälligkeit wäre so gering, dass die Falschresultate nicht ins Gewicht fielen. Nun hat aber die Weltgesundheitsorganisation (WHO) in mittlerweile zwei Bekanntmachungen darauf hingewiesen, dass auf den PCR-Tests nur bei Übereinstimmung mit der klinischen Darstellung des Einzelfalls Verlass ist. Zeigt der Betroffene keine Symptome oder hatte keine Kontakte zu Infizierten, sollte der Test wiederholt werden. Was schließen Sie daraus?
Es ist erfreulich, dass diese Erkenntnis nun auch von der WHO öffentlich verbreitet wird. Aber spätestens mit den vier verwirrenden Schnelltestergebnissen des Tesla-Chefs Elon Musk – zweimal positiv und zweimal negativ – hätte jeder und jede die Problematik auf dem Schirm haben müssen. Ich bin dem Phänomen im Bereich Brustkrebs nachgegangen: In fast 90 Prozent der Fälle ist der erste positive Mammographiebefund falsch positiv. Selbst die Verantwortlichen gehen von über 80 Prozent Fehlerquote aus und sprechen nach dem ersten Befund auch bloß von einem Brustkrebsverdacht. Deshalb folgt dem ersten Screening eine zweite andersartige Untersuchung. Die liefert dann bessere Ergebnisse, weil sie nur bei einer kleinen Gruppe von Verdachtsfällen erfolgt.
Nun ist Covid-19 aber nicht gleich Brustkrebs und die Diagnoseinstrumente sind auch ganz andere.
Klar, aber das Prinzip ist völlig gleich. Der Test kann und wird meistens den Zustand richtig erkennen: krank oder gesund. Er kann aber auch irren, also Kranke nicht erkennen oder Gesunde als krank beschreiben. Die Quoten für diese Fehler sind aus Erfahrung bei den bewährten Tests ungefähr bekannt. Wenn jetzt eine große Menge Gesunder getestet wird, ergeben sich auch bei kleiner Falsch-Positiv-Quote viele Irrtümer. In den bisherigen Testwochen war aber die überwiegende Menge der Getesteten nicht infiziert. Nach Angaben des RKI über 94 Prozent, in manchen Sommerwochen sogar über 99. Deshalb spielt falsch positiv eine größere Rolle.
Solche man solche Hintergründe nicht auch beim RKI kennen?
Natürlich weiß man davon, es wird nur nicht öffentlich diskutiert. Vermutlich ist die seit November veränderte Teststrategie des RKI, nur noch echten Verdachtsfällen nachzugehen, auf diesen Erkenntnisgewinn zurückzuführen und damit ein indirektes Eingeständnis des Irrwegs, möglichst viele testen zu wollen. Im Sommer wurde ja praktisch jeder Urlauber getestet, ohne jeden vorherigen Hinweis auf eine Erkrankung oder Kontakt zu Infektiösen und obwohl damals das Virus nur noch schwach im Umlauf war. Das sind „beste“ Bedingungen für hohe Fehleranfälligkeit. In der Folge wurden Menschen ohne einen zweiten Test als Beleg in Quarantäne geschickt. Ich nehme stark an, dass die Verschwiegenheit des RKI und der Regierung in der Frage auch damit zu tun hat, dass man Sorge hat, wegen der Vorgänge juristisch belangt werden zu können.
Wenn das stimmt, was Sie sagen, könnte man sich die ganze Kontaktverfolgung dann nicht auch sparen?
Nach meiner Schätzung bekommt man damit vielleicht ein Zehntel der Kontakte mit Infizierten zu fassen. Die Dunkelziffer und viele nicht eindeutige Angaben von positiv Getesteten lassen nicht mehr zu. Dafür lohnt der Aufwand nicht. Wie schon gesagt, gäbe es vorrangigere Aufgaben wie etwa die Kontrolle in Betrieben. Aber auch die frühzeitige Erforschung von Wirkungszusammenhängen – zum Beispiel der genaue zeitliche Verlauf von Infektionsketten innerhalb einer Familie – hätte so manche offene Frage klären können. Das erscheint mir zielführender als diese wilde Hatz mit dem Telefon auf Kontaktpersonen, bei der man eh nur einen Bruchteil erwischt.
Sehen Sie im Mangel an Forschung auch einen der Gründe dafür, dass sich ausgerechnet die Alten- und Pflegeheime bis zum heutigen Tage als die größten Infektionsherde erweisen und dort genau die Menschen zuhauf an Covid-19 sterben, die die Regierung eigentlich zuvorderst schützen will?
Zuerst einmal ist das ein Mangel an klarer Zielsetzung! Was nützt es, Kinos, Bars oder Restaurants zu schließen oder Menschen den Urlaub zu verbieten, wenn sich die echten Tragödien in den Heimen abspielen. Die hätte man besser schützen müssen, durch Schutzkleidung, wirkungsvolle Masken und ständige Tests für Beschäftigte und Besucher. Dass das funktioniert, zeigt sich ja am Fall Tübingen. Wenn es schon nicht genug Pflegekräfte für die Tests gibt – noch so ein schlimmes, obwohl seit langem bestehendes Versäumnis –, warum hat man nicht frühzeitig die Sanitäter der Bundeswehr für entsprechende Schutzmaßnahmen herangezogen? Oder extra geschulte Mitarbeiter aus den Gesundheitsämtern. Jetzt diskutiert man den Einsatz von Azubis als „Schnelltester“, worunter natürlich ihre Ausbildung leidet und was den Personalmangel in der Pflege sogar noch verschärft. Statt ständig über die Lage zu jammern, wäre bei entsprechender Zielsetzung ein Nachdenken über die richtigen Maßnahmen besser gewesen.
Haben Sie eine Erklärung für diese vielen Unzulänglichkeiten im Krisenmanagement?
Dafür fehlt mir wirklich die Phantasie, weil so viele und eklatante Ungereimtheiten und Widersprüche zusammenkommen. Eine Ursache könnte das immer noch herrschende Durcheinander an Begrifflichkeiten sein. Infiziert, positiv getestet, erkrankt oder infektiös zu sein, sind unterschiedliche Dinge und die jeweiligen Gruppen gehören nicht in einen Topf geworfen. Aber selbst in den RKI-Lageberichten stößt man heute noch auf diese eklatanten Unschärfen. Wenn der wichtigste Berater der Politik derart amateurhaft verfährt, wie soll dann die Regierung die richtigen Entscheidungen treffen? Wie ich schon vor einem Jahr an dieser Stelle gesagt habe, war Corona für alle am Anfang auch Neuland, gewisse Fehler waren noch verzeihlich. Dass man allerdings den eigens für solche Fälle entwickelten und 2017 noch aktualisierten Pandemieplan vergessen hatte, ist nicht verzeihlich und hätte den verantwortlichen Minister eigentlich den Kopf kosten müssen. Immerhin gab es Berichte über ein „neuartiges Corona-Virus“ schon Monate vor dem ersten Fall in Deutschland.
Sollten sich die politischen Entscheider an andere Experten halten?
Sie sollten sich nicht nur auf einen eng begrenzten Zirkel verlassen, sondern auch anderen Stimmen gleichberechtigt Gehör schenken. Ich denke zum Beispiel an eine Expertengruppe um den Internisten Matthias Schrappe, der früher dem Sachverständigenrat im Gesundheitswesen angehörte. Das sind äußerst fähige Leute aus Wissenschaft, Forschung und medizinischer Praxis, die bereits seit Monaten gegen diese fast nur auf Lockdown fixierte Politik argumentieren und ihre Kritik in mittlerweile sieben „Thesenpapieren“ vorgetragen haben. Da ist geballtes Sachwissen, gute Strategie, jetzt auch gerade wieder zum Impfen – aber das Alles wird fast vollständig ignoriert. Schrappe selbst hat der Regierung deshalb wiederholt „Beratungsresistenz“ attestiert.
Aber gibt die Entwicklung der Bundesregierung nicht Recht? Das Statistische Bundesamt hat Ende Januar eine Übersterblichkeit im Jahr 2020 von absolut knapp 43.000 Todesfällen oder fünf Prozent gegenüber 2019 vermeldet. Und aktuell über 60.000 im Zusammenhang mit Corona Verstorbene sind auch nicht wegzudiskutieren. Wie interpretieren Sie als Statistiker diese Daten?
Ich sehe im November und im Dezember in der Tat eine signifikant höhere Sterblichkeit gegenüber den Vorjahren. In den Monaten davor bewegten sich die Zahlen jedoch auf normalem Niveau. Das passt zumindest nicht mit den schrillen Warnungen der ersten Stunden zusammen. Und auch das Ausmaß der zuletzt erhöhten Mortalität ist nicht so gravierend, wie es in manchen Medienberichten rüberkommt. Zu berücksichtigen ist, dass die Bevölkerung von 2016 bis 2020 um knapp eine Million Einwohner oder 1,2 Prozent gewachsen ist, insbesondere durch den Zuzug von Migranten. Dazu hat sich der Anteil der über 80-Jährigen an der Bevölkerung von 5,8 Prozent im Jahr 2016 auf 6,8 Prozent zu Jahresbeginn 2020 erhöht, womit diese Gruppe in ihrem Anteil um beinahe 19 Prozent zugelegt hat. Es ist ein natürlicher Vorgang, dass bei steigender Alterung anteilig und absolut auch mehr alte Menschen sterben.
Beide Faktoren hätten auch ohne Corona steigende Sterbezahlen erwarten lassen. Damit will ich die Wirkung der Pandemie nicht kleinreden. Die Opferzahlen sind auch bei uns in Deutschland erschreckend hoch. Man muss aber auch feststellen dürfen, dass das Durchschnittsalter der Verstorbenen 84 Jahre beträgt. Das liegt über der allgemeinen Lebenserwartung mit etwa 80 Jahren. Das ist nicht zynisch gemeint: Aber viele der Betroffenen wären in den kommenden Monaten und Jahren ohnehin gestorben. Auch das Statistische Bundesamt sprach im Zusammenhang mit singulären Ereignissen wie einer Hitze- oder einer starken Grippewelle von einer vorgezogenen Sterblichkeit.
Tatsächlich weist das Bundesamt in seiner Pressemeldung auf den Faktor Alterung hin. Demnach „dürfte“ die Zahl der ab 80-Jährigen allein 2020 „um etwa vier bis fünf Prozent zugenommen haben“, wodurch eine Zunahme der Sterbefälle „um ein bis zwei Prozent“ erwartbar gewesen wäre. Würden Sie sich dem anschließen?
Da kann ich noch mitgehen, ich wäre aber vorsichtig, das, was zu den fünf Prozent „Übersterblichkeit“ noch fehlt, voreilig Corona zuzuschlagen. Zum Beispiel differenzieren die Sterbezahlen ja nicht, ob jemand „mit“ oder „an“ dem Virus verstirbt. Als Corona-Toter gilt ja auch derjenige, der mit einem PCR-Nachweis an einem Herzinfarkt verstirbt. Zu dieser Problematik hat das Portal Telepolis gerade einen tollen Hintergrundartikel gebracht.
Interessant ist auch, dass man bei Todesfällen, die sich in zeitlicher Nähe mit einer Covid-19-Impfung ereignen, ganz streng trennt zwischen gestorben „im Zusammenhang mit“ und gestorben „durch“ die Impfung. Warum nimmt man es bei Corona-Toten nicht ebenso genau? In Hamburg wurde lange Zeit jeder Verstorbene obduziert, um Klarheit zu gewinnen, wer tatsächlich hauptursächlich an Covid-19 gestorben ist. Dabei ergaben sich 15 Prozent weniger Fälle, als das RKI für Hamburg ermittelt hat. Und was das Statistische Bundesamt auch nicht erfasst und das aus nachvollziehbaren Gründen, sind die möglichen Toten, die als Kollateralschäden auf das Konto des ersten und des noch laufenden zweiten Lockdowns gehen.
Warum ist das für Sie nachvollziehbar? Ließe sich nicht zum Beispiel ermitteln, wie viele Krebspatienten infolge einer aufgeschobenen Operation ihr Leben gelassen haben?
Ich bin überzeugt, dass es solche Kollateralschäden gab und gibt. Zum Beispiel sagen manche Psychologen, viele Menschen in den Altenheimen wären ihrer Angst und Einsamkeit erlegen. Manche Selbstmorde werden als Unfälle, etwa mit dem Auto, kaschiert, damit die Lebensversicherung an die Familie zahlt. Vor allem bei Selbstständigen, die privat vorsorgen wollten und jetzt verzweifelt aufgeben, erscheint so etwas denkbar. Statistisch bekommen Sie solche Phänomene aber einfach nicht zu fassen. Genauso wenig lässt sich nachweisen, dass ein Mensch nicht verstorben wäre, hätte er drei Monate davor eine Krebs-OP erhalten oder sich zum Arztbesuch getraut.
Aber solange man sich die Mühe spart, solchen Dingen auf den Grund zu gehen, geht jeder Tote mehr als Übersterblichkeit auf das Konto Corona. Sehen Sie wenigstens eine Bereitschaft auf Seiten der Politik, der Frage nach Folgeschäden der Lockdownpolitik nachzugehen?
Da habe ich Zweifel, was sich schon daran zeigt, dass in den Expertenrunden der Bundeskanzlerin keine Vertreter von Disziplinen wie Psychologie, Soziologie, Ökonomie oder auch Statistik sitzen. Da finden sich neben Virologen nur noch die Modellierer, die mit Rechenmodellen mögliche Wachstumsverläufe aufzeigen. Bedenklich ist, dass die Politik voll und ganz auf deren „Sachverstand“ vertraut, die früheren und aktuellen Fehler übersieht und von vielen anderen guten Ratgebern nichts wissen will. Ich unterstelle der Regierung gar keine Böswilligkeit oder irgendwelche bösen Machenschaften. Sie sollten nur eigenständiger denken, wirklich wissen wollen, statt Meinungen anderer zu wiederholen, und sich breiter beraten lassen.
Was bleibt da an Hoffnung und Perspektiven für die Menschen im Land, die Krise endlich hinter sich zu lassen?
Ein Umdenken der Politik ist dringend geboten. Ich würde das Konzept von Matthias Schrappe und Kollegen empfehlen, vor allem die Alten und Menschen mit Vorerkrankungen gezielt zu schützen. Wenn es in den nächsten Tagen keine belastbaren Zahlen zur Gefahr durch aggressive Virusvarianten gibt, sollte der harte Lockdown beendet werden. Trotzdem beachten wir weiterhin die Hygiene- und die Abstandsregeln und die Politik beobachtet gemeinsam mit Wissenschaftlern die Fakten.
Eine wichtige positive Rolle spielt neben dem kommenden Sommer, der immer mit weniger Viruserkrankungen verbunden ist, auch die Impfung. Aber zu glauben, dass sich damit das Virus ausrotten lässt, halte ich für eine Illusion. Die Pocken auszurotten, hat knapp 200 Jahre gedauert, trotz weniger grenzüberschreitender Kontakte. Auch bei den Corona-Impfstoffen ist längst nicht alles geklärt, aber das ist ein anderes Thema. Man brauchte die Impfstoffe als „Licht am Ende des Tunnels“, vor allem zu Weihnachten, und konnte deshalb nicht so auf die Feinheiten achten.
Abschließend sage ich, wie viele andere auch: Wir müssen lernen, mit dem Virus zu leben, die besonders Gefährdeten schützen, ohne unsere Gesellschaft und unseren Rechtsstaat vor die Wand zu fahren.
Zur Person: Gerd Bosbach, Jahrgang 1953, ist emeritierter Professor für Statistik, Mathematik und empirische Wirtschafts- und Sozialforschung an der Hochschule Koblenz, Standort Remagen. Er ist als diplomierter Mathematiker und promovierter Statistiker zugleich einer der profiliertesten Kritiker der interessengeleiteten Nutzung von Statistik. Einblicke in Methoden und Geheimnisse der amtlichen Statistik sowie den – mitunter missbräuchlichen – Umgang der Politik und anderer interessierter Kreise erhielt er unter anderem während seiner Tätigkeit im Statistischen Bundesamt. Von Bosbach und dem Politologen Jens Jürgen Korff erschienen 2011 „Lügen mit Zahlen: Wie wir mit Statistiken manipuliert werden“ und 2017 „Die Zahlentrickser: Das Märchen von den aussterbenden Deutschen und andere Statistiklügen“. Gemeinsam mit Korff betreibt Bosbach die Webseite „Lügen mit Zahlen“.