Wir sind die größte Menschenrechtsorganisation in Israel – und wir nennen das Apartheid
Von Hagai el-Ad, The Guardian, 12 Januar 2021. Die systematische Förderung der Überlegenheit einer Volksgruppe über eine andere ist zutiefst unmoralisch. Dieser Situation muss ein Ende gesetzt werden.
Man kann keinen einzigen Tag in Israel-Palästina verbringen, ohne das Gefühl zu haben, dass dieses Land konstant so gestaltet wird, um ein Volk und nur eines, nämlich das jüdische Volk, zu bevorzugen. Denn die Hälfte der Menschen, die zwischen dem Jordan und dem Mittelmeer leben, sind Palästinenser. Die Kluft zwischen diesen Lebenswirklichkeiten liegt überall in der Luft, blutet und ist in diesem Land überall.
Ich beziehe mich an dieser Stelle nicht nur auf offizielle Erklärungen, die dies zum Ausdruck bringen – und da gibt es unzählige, wie beispielsweise die Aussage von Premierminister Benjamin Netanyahu 2019 nach der „Israel nicht ein Staat aller seiner Bürger ist“ oder das Grundgesetz des „Nationalstaates“, das die „Entwicklung der jüdischen Siedlung als nationalen Wert“ verehrt. Ich möchte hier darauf anspielen, dass es hier um einen tieferen Sinn des Menschen als wünschenswert oder nicht wünschenswert geht und um ein Verständnis meines Landes geht, dem ich seit dem Tag meiner Geburt in Haifa ausgesetzt bin. Nun wird mir klar, dass ich dem nicht mehr länger aus dem Weg gehen kann.
Obwohl eine demographische Gleichheit zwischen den beiden Völkern herrscht, die hier leben, wird das Leben so gestaltet, dass nur eine Hälfte die Mehrheit der politischen Macht, der Landressourcen, Rechte, der Freiheit und des Schutzes hat. Es ist ja fast eine Meisterleistung, eine solche Entrechtung überhaupt beizubehalten. Und das es ist noch mehr, wenn man diese Wirklichkeit noch erfolgreich als Demokratie (innerhalb der „grünen Linie“ – der Linie des Waffenstillstandes von 1949) verkauft, an die eine zeitweilige Besatzung angehängt wird. In der Tat regiert eine Regierung über die Gesamtbevölkerung. Der gesamte Bereich zwischen dem Jordanfluss und dem Mittelmeer unterliegt überall demselben Organisationsprinzip und befindet sich unter der Kontrolle der Regierung. Diese setzt sich dafür ein, um die Vorherrschaft einer Gruppe von Menschen – nämlich der Juden – über eine andere Gruppe von Menschen – nämlich der Palästinenser – voranzutreiben und zu verewigen. Und das ist Apartheid.
Es gibt im gesamten Einzugsgebiets unter israelischer Kontrolle keinen einzigen Quadratmeter, in dem ein Palästinenser und ein Jude gleich sind. Die einzigen erstklassigen Menschen sind hier die jüdischen Bürger wie ich. Wir genießen diesen Status sei es innerhalb der Grenze von 1967 als auch im Westjordanland. Dank ihrer Aufteilung in verschiedene Personenstatus, die ihnen zugeteilt werden, und durch die zahlreichen Variationen der Unterlegenheit, in die sie Israel versetzt, haben die Palästinenser, die unter israelischer Herrschaft leben, alle etwas gemeinsam: sie sind ungleich.
Die Anwendung unserer Version der Apartheid unterscheidet sich aber von der südafrikanischen Apartheid. Wenn Sie möchten, könnten wir sie Apartheid 2.0 nennen. Und sie verzichtet auf einige hässlichen Aspekte. Sie werden hier keine Schilder „Nur für Weiße“ auf den Bänken finden. Hier ist der „Schutz der jüdischen Beschaffenheit“ einer Gemeinschaft – oder des Staates an sich – eine der dünn verschleierten Euphemismen, die mit dem Ziel eingesetzt werden, die Wahrheit zu verbergen. Aber das Wesen ist ein und dasselbe. Denn die Tatsache, dass die Definitionen Israels nicht auf der Hautfarbe basieren, machen keinen wesentlichen Unterschied: Es ist die Realität der Überlegenheit, um dies es im Kern geht – und die es abzulehnen gilt.
Bis zur Verabschiedung des Nationalstaatsgesetzes, bestand die Schlüssellektion, die Israel offensichtlich von der Art und Weise gelernt hatte, auf die der südafrikanischen Apartheid ein Ende bereitet wurde, allzu ausdrückliche Aussagen und Gesetze zu vermeiden. Diese führen nämlich zur Gefahr, moralische Urteile herbeizuführen. Außerdem könnten sie auch, Gott behüte, zu konkreten Auswirkungen führen. Die geduldige, ruhige und stufenweise Anhäufung von Praktiken der Diskriminierung tendiert dazu, Rückschlägen von Seiten der internationalen Gemeinschaft vorzubeugen, vor allem wenn man ein Lippenbekenntnis abgeben will, das ihren Vorgaben und Erwartungen entspricht.
Genauso wird die jüdische Überlegenheit auf beiden Seiten der grünen Linie umgesetzt und angewendet.
Wir gestalten demographisch die Zusammensetzung der Bevölkerung, indem wir alles daransetzen, die Anzahl der Juden zu erhöhen und die der Palästinenser zu reduzieren. Wir lassen die jüdische Einwanderung, einher mit der automatischen Einbürgerung, an allen Orten zu, die sich unter israelischer Kontrolle befinden. Für die Palästinenser gilt das Gegenteil: sie erhalten keinen Personalstatus an den Orten, die sich unter der israelischen Kontrolle befinden, auch wenn ihre Familie von dort herstammt.
Wir gestalten Macht durch die Zuteilung oder Verweigerung politischer Rechte. Alle jüdischen Bürger haben das Wahlrecht (und alle Juden können Staatsbürger werden), aber weniger als ein Viertel der Palästinenser, die sich unter israelischer Herrschaft befinden, haben die Staatsbürgerschaft erhalten und besitzen somit das Wahlrecht. Am 23. März, wenn die Israelis zum vierten Mal in zwei Jahren zur Wahl gehen werden, wird dies keine „Zelebrierung der Demokratie“ sein, wie man die Wahlen oft nennt. Es wird wieder ein Tag sein, an dem die entrechteten Palästinenser zusehen, wie deren Zukunft durch andere bestimmt wird.
Wir gestalten Landkontrolle, indem wir riesige Landstreifen palästinensischen Landes enteignen, indem wir den Palästinensern den Zutritt verweigern oder das Land nutzen, um jüdische Städte, Viertel und Siedlungen zu errichten. Innerhalb der grünen Linie haben wir das seit der Staatsgründung im Jahre 1948 gemacht. In Ostjerusalem und im Westjordanland haben wir dies seit dem Beginn der Besatzung im Jahre 1967 gemacht. Das Ergebnis besteht darin, dass die palästinensischen Gemeinden – überall zwischen dem Jordan und dem Mittelmeer –Opfer von Abrissen, Vertreibung, Verelendung und Überbevölkerung sind, während dieselben Landressourcen für die neue jüdische Entwicklung zugeteilt werden.
Und wir gestalten, oder besser gesagt, wir beschränken die Bewegungsfreiheit der Palästinenser. Die Mehrheit, die weder aus Bürgern noch eingetragenen Bewohnern besteht, hängt von den israelischen Genehmigungen und Checkpoints ab, um von einem Landesteil zum anderen fahren oder ins Ausland reisen zu dürfen. Für die 2 Millionen Einwohner des Gazastreifens gestalten sich die Reisebeschränkungen noch strenger – das ist nicht einfach nur einBantustan, denn Israel hat aus Gaza eines der größten Freiluftgefängnisse der Welt gemacht.
Haifa, meine Geburtsstadt, war bis 1948 eine binationale Realität, die von der demographischen Gleichheit gekennzeichnet war. Von den 70.000 Palästinensern, die vor der Nakba in Haifa lebten, wurde weniger als einem Zehntel das Recht eingeräumt, weiterhin hier zu bleiben. Seitdem sind ungefähr 73 Jahre vergangen, und nun ist Israel-Palästina eine binationale Realität der demographischen Gleichheit. Ich wurde hier geboren. Und ich möchte – ich beabsichtige – hier zu bleiben. Aber ich will – und fordere – in einer anderen Zukunft zu leben.
Die Vergangenheit ist voller Traumen und Ungerechtigkeiten. Im Moment werden noch mehr Ungerechtigkeiten reproduziert. Die Zukunft muss radikal anders sein. Sie muss aus einer Ablehnung der Vorherrschaft bestehen, sich auf einem Bekenntnis zur Gerechtigkeit und zu unserer gemeinsamen Menschlichkeit stützen. Sie muss Dinge beim Namen nennen. Die Apartheid ist ein Augenblick moralischer Klarheit und ein Schritt auf dem langen, von der Hoffnung inspirierten Weg. Sie muss die Wirklichkeit so sehen, wie sie wirklich ist, ohne zusammenzuzucken und dazu beitragen, eine Zukunft im Namen der Gerechtigkeit zu gestalten.