General

“Ein Sturm zieht auf”

Von German Foreign Policy,
17. Januar 2021. EU-Handelskammer warnt vor schweren Schäden durch ökonomische
Abkopplung Chinas. Neues Investitionsabkommen soll dem entgegenwirken.


Die European Chamber of
Commerce in China dringt auf energische Schritte zur Verhinderung einer
ökonomischen Abkopplung (“Decoupling”) der Volksrepublik vom Westen.
Wie es in einer Studie heißt, die die Handelskammer gemeinsam mit dem Mercator
Institute for China Studies (Merics) aus Berlin erstellt sowie vergangene Woche
vorgelegt hat, droht das von Washington mit stets neuen Sanktionen forcierte
“Decoupling” Unternehmen aus der EU empfindliche Verluste zuzufügen:
Sie könnten sich schon bald vor die Entscheidung gestellt sehen, sich entweder
vom hochprofitablen chinesischen Markt zurückziehen oder ihre Produkte
aufwendig in zweierlei Ausführung herstellen zu müssen, eine für den Westen,
eine für China. Beides wäre mit herben Einbußen verbunden. Im Kampf gegen das
Decoupling hat die EU noch kurz vor dem Ende der deutschen Ratspräsidentschaft
ein Investitionsabkommen mit China geschlossen, das nächstes Jahr in Kraft
treten soll; es kommt vor allem deutschen Firmen zugute. Für diese stellt das
Chinageschäft in der Coronakrise einen Rettungsanker dar.

Rekordabsatz
trotz Pandemie

Die
Publikation der “Decoupling”-Analyse erfolgt zu einem Zeitpunkt, zu
dem die Bedeutung Chinas für die deutsche Industrie ein weiteres Stück wächst;
dies aufgrund der Tatsache, dass die Volksrepublik die Covid-19-Pandemie
weitaus besser überstanden hat als die westlichen Staaten. Deutlich zeigt sich
die Gewichtsverschiebung am Beispiel der Kfz-Industrie, einer zentralen Säule
der deutschen Wirtschaft. So erzielten die drei großen deutschen Autokonzerne
im Jahr 2020 durchweg erheblich bessere Ergebnisse in China als im Rest der
Welt. Während der Absatz des Volkswagenkonzerns in der Volksrepublik etwa um
nur 9,1 Prozent schrumpfte und damit deutlich weniger als im globalen
Durchschnitt (minus 15,2 Prozent), konnten die Premiumhersteller ihre Verkäufe
sogar in neue Rekordhöhen steigern: Der Absatz von BMW in China nahm um 7,4
Prozent zu (weltweit: minus 8,4 Prozent), derjenige von Daimler um sogar 11,7
Prozent (weltweit: minus 7,5 Prozent).[1] Auch die Volkswagen-Premiummarke Audi
setzte in China 2020 rund 5,4 Prozent mehr Fahrzeuge ab als 2019, während ihr
Absatz in den USA um 16,7 Prozent, in Europa um 19,5 Prozent kollabierte.[2]
BMW verkaufte 2020 33,4 Prozent seines Gesamtausstoßes in China, Daimler 35,8
Prozent, Volkswagen sogar 41,4 Prozent. Alle drei Konzerne planen Investitionen
in teils zweistelliger Milliardenhöhe in der Volksrepublik.

Vorgeschmack
auf das Decoupling

Welche
Folgen eine Fortsetzung der US-Bestrebungen, China mit Sanktionen von
größtmöglichen Teilen der Welt abzukoppeln, für deutsche Konzerne haben könnte,
zeigt eine aktuelle Entwicklung in der Kfz-Branche. Dort herrscht seit Wochen
gravierender Mangel an Halbleitern – eine Folge der Covid-19-Pandemie: Die
Chiphersteller, die in der Coronakrise ihre Produktion heruntergefahren hatten,
kommen zur Zeit mit der Herstellung nicht nach, da der Autoabsatz und damit
auch die Autofabrikation in der Volksrepublik erheblich rascher als erwartet
wieder in die Höhe geschnellt ist. Bei Volkswagen in China hieß es schon Anfang
Dezember, der Halbleitermangel könne die Produktion durchaus um mehrere Monate
verzögern. Zuletzt mussten deutsche Kfz-Hersteller an einigen Standorten in der
Bundesrepublik Konsequenzen aus der Knappheit ziehen und Kurzarbeit
anmelden.[3] Aus der Branche heißt es nun, die gegenwärtigen Schwierigkeiten
seien womöglich nur ein Vorgeschmack darauf, was deutschen Kfz-Produzenten in
China drohe, sollte Washington die Decoupling-Bestrebungen weiter vorantreiben
und die Volksrepublik mit Sanktionen noch mehr als schon jetzt von Halbleitern
abschneiden, die außerhalb Chinas produziert werden.

Vor
herben Verlusten

Die neue
“Decoupling”-Studie, die von der European Chamber of Commerce in
China und dem Berliner Mercator Institute for China Studies (Merics) gemeinsam
erstellt sowie vergangene Woche öffentlich präsentiert wurde, warnt vor
gravierenden Folgen eines fortgesetzten Decouplings für die deutsche Industrie.
Schon heute geben demnach 96 Prozent aller in China tätigen Firmen aus der EU
an, in der einen oder anderen Form vom US-Decoupling betroffen zu sein. Über
die Hälfte verzeichnen bereits konkrete negative Auswirkungen; 72 Prozent
rechnen zukünftig mit solchen. “Wir sehen einen Sturm aufziehen”,
wird Jörg Wuttke, seit 1997 BASF-Generalbevollmächtigter in China und Präsident
der European Chamber of Commerce, zitiert.[4] Sollte die künftige
Biden-Administration die Decoupling-Bestrebungen vorantreiben, dann müssten
diejenigen Unternehmen aus der EU, die nur einen kleineren Teil ihres
internationalen Geschäfts in China tätigten, sich vermutlich gänzlich aus dem
Land zurückziehen, heißt es in der Studie. Firmen hingegen, die – wie etwa die
deutschen Kfz-Hersteller – einen bedeutenden Teil ihres Umsatzes in der
Volksrepublik erwirtschafteten, müssten ihre Produkte dann in zweierlei
Ausführung herstellen: eine für westliche Märkte, die andere unter Verzicht auf
US-Produkte für den chinesischen Markt. In beiden Fällen stünden Unternehmen
aus der EU herbe Verluste bevor.[5]

Chinas
“doppelte Kreisläufe”

Erschwerend
kommt hinzu, heißt es in der Studie, dass sich China, von stets umfassenderen
US-Sanktionen mit fatalen Folgen für die chinesische Wirtschaft bedroht, mit
aller Kraft daran macht, technologisch von Zulieferungen aus dem Ausland
unabhängig zu werden. So wird im nächsten Fünfjahresplan, der gegenwärtig in der
Feinabstimmung steckt, die Doktrin von den “dualen Kreisläufen”
(“dual circulation”) festgeschrieben werden, die vorsieht, dass vor
allem der “innere Kreislauf” gestärkt werden soll – Produktionsketten
innerhalb der Volksrepublik ohne Zukäufe aus dem Ausland. Dies trifft
perspektivisch, zum Teil sogar schon jetzt Firmen aus der EU. So hat kürzlich
Nicolas Chapuis, Botschafter der EU in China, darauf hingewiesen, dass Beijing
die 5G-Netze im Land lediglich zu elf Prozent von Ericsson (Schweden) und von
Nokia (Finnland) bauen lässt.[6] In anderen Ländern erreichten die beiden
Konzerne, heißt es, Marktanteile von häufig 30 Prozent. Freilich resultiert der
geringe Anteil in China daraus, dass immer mehr westliche Staaten Huawei vom
Aufbau ihrer 5G-Netze ausschließen und Beijing dem chinesischen Konzern quasi
Ersatz auf seinem Heimatmarkt verschafft. Vergleichbare Folgen befürchtet die
European Chamber/Merics-Studie für weitere Unternehmen aus Deutschland und der
EU.

Der
Hauptprofiteur

Die
European Chamber of Commerce in China fordert die EU und ihre Mitgliedstaaten
auf, gegen ein weiteres Decoupling energische Schritte einzuleiten, um massive,
langfristig folgenreiche Schäden für die Wirtschaft der Union zu vermeiden.
Ganz in diesem Sinn hat sich Brüssel am 30. Dezember im Grundsatz auf ein
Investitionsabkommen mit Beijing (Comprehensive Agreement on Investment, CAI)
verständigt, das nun in letzten Details ausgearbeitet werden und nächstes Jahr
in Kraft treten soll. Es hebt die Pflicht, Investitionen in China im Rahmen von
Joint Ventures mit chinesischen Unternehmen zu tätigen, für weitere Branchen
auf, und es öffnet neue Sektoren für auswärtige Beteiligungen, unter ihnen
Clouddienste und Telekommunikationsfirmen. Chinesische Staatskonzerne dürfen
Lieferanten aus der Volksrepublik in Zukunft nicht mehr bevorzugen. Damit
treibt Beijing seine ökonomische Öffnung für die EU-Wirtschaft ein weiteres
Stück voran. Das Investitionsabkommen nutzt dabei insbesondere deutschen
Unternehmen: Von den 140 Milliarden Euro, die Firmen aus der Union der
EU-Kommission zufolge in den vergangenen zwei Jahrzehnten in China investiert
haben, stammen laut Angaben der Bundesbank 86 Milliarden aus Deutschland; von
den 560 Milliarden Euro, auf die sich der Handel zwischen China und der EU 2019
belief, entfielen 206 Milliarden Euro auf die Bundesrepublik. Insofern stärkt
die Förderung des Chinageschäfts zugleich die deutsche Dominanz in der EU.

 

[1]
Daniel Zwick: Deutsche Autobauer rutschen immer mehr in die Abhängigkeit von
China. welt.de 17.01.2021.

[2] BMW
und Audi: Im Westen abwärts – Wachstum nur in China. sueddeutsche.de
12.01.2021.

[3]
Joachim Hofer, Martin-W. Buchenau, Roman Tyborski, Franz Hubik, Stefan Menzel:
Chipmangel bremst Autobauer: Daimler drosselt Produktion weiter, Kurzarbeit bei
VW. handelsblatt.com 14.01.2021.

[4] Dana
Heide, Till Hoppe, Stephan Scheuer: China entkoppelt sich zunehmend von der
Weltwirtschaft – das sind die Folgen für europäische Unternehmen.
handelsblatt.com 14.01.2021.

[5]
European Chamber of Commerce in China, Mercator Institute for China Studies
(Merics): Decoupling. Severed Ties and Patchwork Globalisation. Beijing,
January 2021.

[6] Wei
Sheng: EU diplomat says China favors domestic 5G suppliers. technode.com
01.12.2020.