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Corona-Demo in Berlin

Hans Christoph Stoodt 29. August 2020
Das Oberverwaltungsgericht Berlin hat die Entscheidung des Verwaltungsgerichts bestätigt.

Die vom Berliner Innensenator Geisel zuvor unter Hinweis auf die absehbare Missachtung aller Corona-Schutzmassnahmen untersagte Demo von „Querdenken 711“ wird unter Bedingung erlaubt, dass sich die Teilnehmenden gegen die Hygieneregeln während ihres Umzugs an die Hygieneregeln halten – ein denkwürdiges absurdes Urteil offenkundig doch wohl gewollter Naivität und Blauäugigkeit.
Seit Wochen trommeln sogenannt Coronaskeptiker, Nazis und Rassisten mal gemeinsam, mal je für sich für diesen Tag. Der Hauptstadt steht die unter dem von Nazis ausgegebenen Motto „Sturm auf Berlin“ angekündigte grösste faschistische Demonstration seit langem bevor. Faschisten werben völlig offen für bewaffnete Teilnahme. Der Tag wird erkennbar zur eskalierenden Fortsetzung der Stuttgarter „Querdenken“-Demos. Die ganze Bewegung nimmt Züge einer Art „Corona-Pegida“ an.
Der faschistische Holocaust-Leugner Nikolai Nerling aka “Volkslehrer” und die zentrale Figur von “Querdenken 711”, Ballmann, üben sich seit längerem in vertrautem Gespräch. Auch gestern konnte man sie gemeinsam fotografieren.
Heute kursieren in Berlin Aktionskarten der Faschisten, auf denen linke und antifaschistische Ziele markiert und zum Angriff freigegeben sind. Reichsbürger, Identitäre, Aluhüte, antisemitische Gegner der „Neuen Weltordnung“ und Coronaleugner üben massenhaft den faktischen Schulterschluss, amalgamieren auf der Strasse zu einer erweiterten faschistischen Bewegung.
Staat und Justiz erweisen sich, wie schon im Fall des NSU, erneut als weithin wirkungslos im Kampf gegen Faschismus und Irrationalismus, die eine reale Gefahr für Linke, Antifas und migrantische Menschen darstellen.
Die heutige Berliner Demo ist Ausdruck der politischen und Befindlichkeits-Schnittmenge coronaleugnender, klimaskeptischer, patriarchaler, rassistischer, nationalistischer und gewaltbereiter Vertreter:innen des „Weiter so!“ bzw. „Zurück!“ zu einer phantasierten „Normalität“, einer Gesellschaft voll angeblicher Harmonie, Eintracht und „Liebe“, die für Faschisten heute „solidarischer Patriotismus“ heisst (Björn Höcke) und ethnisch nichtdeutsche Menschen programmatisch ausschliesst, weshalb es, so wieder Höcke, bei der künftigen Durchsetzung der angeblich früher mal vorhandenen ethnischen Homogenität in Deutschland, zu „unschönen Szenen“ durchaus kommen könne.
Zur jetzigen Lage konnte es nicht zuletzt deshalb kommen, weil die gesellschaftliche Linke nicht in der Lage ist, sich auf eine positive Beschreibung der Alternative zum Kapitalismus zu einigen und für sie zu kämpfen. Man übt sich lieber im identitätspolitischen Differenzieren voneinander, erklärt praktisch jede irgendwie identifizierbare Gruppe zum gesellschaftlichen Sonderfall und schafft so die sichere Grundlage dafür, künftig gemeinsam eine saftige Niederlage einzufahren. Die Linke ist derzeit unfähig zu erkennen, dass alle realen identitätspolitischen Probleme, die es natürlich durchaus gibt, nicht im endlosen Hickhack gegeneinander, sondern am Besten und wirksamsten im gemeinsamen Kampf aus der Welt geschafft werden. Man ruft zwar völlig richtig auf Demonstrationen: „Freiheit entsteht in kämpfender Bewegung – für mehr Staatszerlegung!“, aber man zerlegt sich lieber gegenseitig, anstatt genau das zu tun, was man ruft.
Das im Abstand weniger Tage erfolgte Verbot der Demonstration des Gedenkens der Opfer des faschistischen Massenmords in Hanau und die behördliche Unbedenklichkeitsbescheinigung für den Nazi – „Sturm auf Berlin“ sind ein schrilles Alarmsignal.
Nicht nur die entscheidende globale Herausforderung der Gegenwart, die drohende Klimakatastrophe, sondern auch der Kampf gegen den sich erneut erhebenden deutschen Faschismus sind eine Frage von wenigen Jahren. Setzen sich die gesellschaftlichen Kräfte der Rechten weiterhin durch, wird die Klimakatastrophe und damit der Übergang zum Anthropozän unvermeidlich. Das würde nach derzeitigem Kenntnisstand das Ende der uns bekannten menschlichen Zivilisation einläuten. Der heutige Tag ist ein Meilenstein auf dem Weg dorthin.