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Der Trüffelkellner, wir Schweizer und sein Deutsch

von Jürgmeier / 21. Jul 2020, erste Veröffentlichung auf InfosperberEin Kellner in einem Zermatter Restaurant versteht nur
Trüffel. Lernt nicht Deutsch. Aber kommt immer wieder ins Wallis zurück.

In
diesen Tagen werden Menschen – die ihres Gesichtes oder ihrer Hygienemaske
wegen für Chines*innen gehalten werden – zunehmend misstrauischer gemustert.
Medien haben schon mehrmals über eine neue Epidemie in der fernen
Millionenstadt Wuhan berichtet. Auch wir schauen ein paar Mal Richtung
Nebentisch, wo ein «Chinese» ohne Mundschutz immer wieder hustet. In dem Zermatter
Restaurant, in dem uns eine junge Frau am Empfangsdeck freundlich begrüsst und
den Weg zu unseren reservierten Plätzen weist. Immer noch ärgere ich mich
darüber, dass man seit einiger Zeit den Tisch nicht mehr selber aussuchen darf,
sondern platziert wird. Und dann diese Unsitte mit den zwei Schichten. (Mein
Grossvater arbeitete drei Schichten. Früh. Spät. Nacht.) Per Mail ist mir
allerdings, «ausnahmsweise», zugestanden worden, wir müssten den Tisch nicht um
20.30 Uhr räumen. Open end. Wir sind uns Konsum ohne Beschränkungen gewohnt.
Volle Gestelle. Stundenlanges Hocken am Beizentisch. Die Empfangsdame wünscht
uns einen schönen Abend. In Englisch. NiceBeautifulPleasantMarvelousWonderful.
Ich höre nicht richtig zu. Kein einziges deutsches Wort. Sind wir noch in der
Schweiz?
«Drei
Mal Trüffel?» Vergewissert sich der Kellner, der ein wenig an einen müden
Roberto Benigni (La vita è bella) erinnert und am Tisch mit den Italiener*innen
– die natürlich auch aus dem Tessin kommen könnten – deutlich lockerer parliert
als mit uns. Aber er hat auch für uns «Grüezeni» zwischen den vielen und
schnellen Gängen zur Theke, dem Servieren der schweren Hot Stones, dem Abräumen
der Fonduecaquelons immer ein heiteres Lächeln und Augenzwinkern übrig.
«Truffes.» Korrigieren wir ihn streng. «Das heisst Truffes.» Wir denken bei
Trüffeln an Pilze, deren Geschmack ich als penetrant erinnere. Er versteht
nicht, was wir meinen. Wiederholt geduldig: «Drei Mal Schokoladentrüffel,
einmal Schokoladenfondue.» So hat es der Chef schliesslich in die Karte
geschrieben. «Schokoladentrüffel.» Mit oder ohne «Glace mit Vodka Absolut
Raspberri». Auch der kann nicht Deutsch. Befinden die drei Lehrer*innen und ein
Ehemaliger an unserem Tisch. Der nächtliche Blick in den Duden ergibt:
«Die deutsche Rechtschreibung» steht aufseiten von Kellner und Chef. Das Wort
«Truffe» finde ich da gar nicht. Nur «Trüffel». Für Pilze oder, eben,
«kugelförmige Praline aus schokoladenartiger, oft mit Rum aromatisierter u. in
Kakaopulver gewälzter Masse». Sogar Wikipedia lässt uns im Stich:
«Schokoladentrüffel, in der Schweiz Truffes», heisst es da, «aus dem
Französischen für Trüffel». Obwohl wir uns normalerweise nicht auf den
Französisch-Dictionnaire von Langenscheidt beziehen und am ersten August
keine Schweizer Fahnen hissen – jetzt wollen wir Üsserschwyzer Patriot*innen,
dass diese Pralinen auch im multikulturellen Zermatt gut Deutsch «Truffes»
genannt werden. Auch wenn alle Welt nur Trüffeln kennt. Schliesslich verkauft
der Sprüngli auch keine «Trüffel du Jour».
Der
könne keinen graden deutschen Satz. Der Walliser Benigni. Lästern wir. Und sei
sicher schon lange in der Schweiz. Jahrzehnte vermutlich. Wir hätten längst.
Als erstes die Sprache. Schlüssel der Integration. Grad im Service. Kein
Berufsstolz. Wahrscheinlich ein Portugiese. Eine Vermutung ohne Risiko. Von den
5430 in Zermatt Lebenden sind neben den 3306 Schweizer*innen gemäss
Einwohnerstatistik des Jahres 2019 die 944 Portugies*innen die weitaus grösste
Gruppe. Und über den Zermatter Vorort beziehungsweise Parkplatz Täsch schreibt swissinfo.ch
schon 2012: «Ein Schweizer Dorf spricht Portugiesisch. In Täsch bei Zermatt
(Wallis) leben mehr Ausländer als Schweizer. Die meisten von ihnen kommen aus
Portugal.» Beim Bezahlen bestätigt der Trüffelkellner unsere Vorurteile. Ein
Portugiese. Schon bald dreissig Jahre komme er in die Schweiz. Bald, lacht er,
sei Schluss. In zwei Jahren gehe er in Rente. «Und dann zurück nach ‹bom›
Portugal?» Wollen wir wissen. Die Antwort verrät Zerrissenheit oder
Weltläufigkeit. Ein halbes Jahr Portugal. Ein halbes Jahr Zermatt. Vielleicht
hat er an beiden Orten eine Familie. Oder wenigstens eine Frau. Vielleicht
sogar einen Mann. Fantasiere ich. Deutsch wird er in diesem Leben, vermute ich,
nicht mehr wirklich lernen. Wofür wird er bezahlt – für korrekte Sätze,
vielfältigen Wortschatz, fundierte Argumentation zu
BörsenhochLiteraturFlüchtlingspolitikDigitalisierungKlimawandel? Oder für
schnellen, für gefälligen Service? Mit ein paar Brocken Deutsch und zweidrei
träfen Walliser Ausdrücken?
Ich
stelle mir vor, ich käme mit ihm ins Gespräch. Draussen bei einer Zigarette.
Obwohl ich nie Zigaretten geraucht und für mich als ehemaligen Pfeifenraucher
die Rauchpausen immer zu kurz waren. Nicht grad ein «Auf eine
Zigarette»-Gespräch, wie es der Chefredaktor Giovanni di Lorenzo von der Zeit
und sein Herausgeber Helmut Schmidt während anderthalb Jahren jede Woche
geführt haben – «eine einzigartige Mischung aus Politischem, Privatem und
erlebter Geschichte: von Schmidts Wut auf Investmentbanker über den Walzer, den
er einst mit Gracia Patricia tanzte, bis hin zu seiner Schulzeit mit Loki»,
bewirbt der KiWi-Verlag das entsprechende Buch. Ich fürchte, Benigni,
bald Roberto, und ich würden uns nicht immer ganz verstehen. Portugiesisch kann
ich nicht. Mein Französisch ist schlechter, mein Englisch ein anderes als
seins. Und so bliebe uns nur das Deutsch. Das kann er viel besser als ich
Italienisch. Wahrscheinlich würde es nicht bei einer Zigarette bleiben, und
vielleicht würde der Chef ihn schon mal mit einem Blick ermahnen, es gäbe noch
andere Gäste. Aber meine Frage – «Haben Sie nie das Bedürfnis gehabt, richtig
Deutsch zu lernen?» –, sie würde ihn, vermutlich, aufwühlen. Sein Redefluss
kaum mehr zu stoppen sein.
Nur
für ein paar Jahre. Habe er damals zu seiner Frau gesagt. Gutes Geld verdienen.
(Das Gastgewerbe gehört in der Schweiz zu den Branchen mit den tiefsten Löhnen,
für Ungelernte wie Roberto sowieso.) Für ein eigenes Haus. Ein grösseres Auto.
Gute Ausbildung für die Kinder. Schöne Kleider für die Frau. Rücklagen fürs
Alter. «Das habe ich auch geschafft.» Er sieht mich stolz an. Aber er habe viel
gearbeitet dafür. Zuweilen zwei Schichten im Tag. Manchmal habe er noch oben am
Skilift oder im Bergrestaurant des Kollegen ausgeholfen. Jeden Tag mit der Frau
telefoniert. Wann hätte er da noch Deutsch? Und die Kollegen – alles
Portugiesen. Zuerst sei er ja im Unterwallis gewesen. Da habe er etwas
Französisch gelernt. Und Englisch. Immer habe es geheissen, Englisch sei das
Wichtigste. Und überhaupt – diese Sprachkurse, immer am Abend, dann Arbeit,
vielviel Arbeit. Aber er habe sich vorgenommen, wenn die Frau mit den Kindern
komme, dann lerne er richtig Deutsch. Er wisse ja, es sei wichtig. Für ihn.
Nicht für die CEOs der multinationalen Konzerne. Die kommen mit Englisch
überallhin. Und in Zollikon, erzählt S., gäbe es Kinder, die von den
Lehrpersonen verlangten, sie sollten ihnen den Stoff in Englisch erklären. Die
Frau – er würde wollen, dass ich ihn verstünde – habe schon alles vorbereitet,
die Kinder den Schulkolleg*innen erzählt, sie gingen jetzt dann in die Schweiz,
nicht nur in die Ferien, für immer. Da sei ihre Mutter krank geworden, schwer
krank, da sei sie natürlich dageblieben, habe die Mutter zu sich; bei ihnen, er
schaut mich mit traurigen Augen an, bei ihnen würde man die eigenen Eltern nie
in ein Heim – stecken, sagt er, wie hier in der Schweiz. Jetzt brauchten sie
sein Geld erst recht. Er fliege jeden Monat für ein paar Tage nach Hause,
fliegen komme am billigsten, und in den Ferien komme die Frau mit den Kindern
nach Zermatt, dann übernehme ihr Bruder und dessen Frau die Pflege der Mutter.
So
stelle ich mir das vor. Ohne wirklich zu wissen, wie es einem portugiesischen
Kellner in Zermatt so geht. Warum er nicht Deutsch lernt. Denkt, er würde bald
zurückgehen. Isabel Bartal, die portugiesische Sozialwissenschaftlerin – die in
den Achtzigerjahren selbst migrierte, in der Schweiz zuerst in der
Textilbranche, dann im Gastgewerbe arbeitete – ärgert sich, wie sie der Zeit
verrät, «über die ältere Generation, die nicht akzeptieren will, dass sie
gekommen ist, um zu bleiben» (Zeit, 23.1.2014). Kann ich nachfühlen, wie
es ist, wenn einer nur als Arbeitskraft kommt? Nicht als Mensch. Weil er keine
neue Heimat sucht. Nur Geld verdienen will. Was ihm hinterher vorgeworfen wird.
Von denen, die nur Arbeitskräfte suchen. Keine Menschen, die sich hier breit
machen. Oder wenn, sich so integrieren, dass man gar nicht merkt, dass sie da
sind. Weil sie sich verhalten wie Muster-Schweizer*innen. «Die portugiesischen
Arbeiter sollen sich plötzlich wie eine gebildete Schweizer Mittelschicht
verhalten. Aber wer sich mit zwei Jobs über Wasser halten muss, der hat nicht
noch Zeit, um seine Kinder am Waldtag des Kindergartens zu begleiten oder mit
ihnen am Mittwochnachmittag zu basteln» (Isabel Bartal, Zeit). Oder
korrektes Deutsch zu lernen. Nachdenklich würde ich an meinen Platz
zurückgehen. Mehr als zehn Prozent Tip eingeben. Dann würden wir uns mit einem
«Bis im nächsten Februar» verabschieden. Und Roberto würde uns nachwinken.