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Über Meinungsfreiheit und Demokratie

Von Dietmar Füssel, Untergrund
Blättle
, 2. April 2020. Die Rückkehr der Zensur. 
Meinungsfreiheit ist ein Grundrecht. Im Prinzip ist
Meinungsfreiheit ein Grundrecht.

Bild: Informationsstand der LF-Z (Local Fist, Abteilung für
Zensur, ein Kunstprojekt) in Berlin. / Viola Knie (CC BY-SA 3.0 unported –
cropped)

Meinungsfreiheit ist immer noch ein Grundrecht – allerdings
nur unter der Voraussetzung, dass die geäusserte Meinung nicht im Widerspruch
zum Kanon der Wertvorstellungen einer breiten Bevölkerungsmehrheit steht. Unter
dem Deckmantel der politischen Korrektheit hat die Zensur wieder Einzug
gehalten in unsere Köpfe, in unsere Gesellschaft und mittlerweile auch schon
wieder in unsere Rechtsprechung.
Um hier nicht missverstanden zu werden:
Es versteht sich wohl von selbst, dass ich keinerlei
Sympathie für Rassisten, Antisemiten, Neonazis oder Schwulenhasser habe, und
wenn ich mit rassistischen, antisemitischen oder homophoben Äusserungen
konfrontiert werde, so werde ich ihnen entschieden entgegentreten. Wenn jedoch
ein bekannter Schauspieler keine Rollen mehr erhält, weil er in einem Interview
eingestanden hat, vor zwanzig Jahren einmal einen schwulenfeindlichen Witz
erzählt zu haben, dann halte ich das für sehr, sehr bedenklich:
Als Schriftsteller schwarzhumoriger Geschichten bewege ich
mich ständig am Rande der Geschmacklosigkeit. Das ist mir natürlich auch
bewusst. Wenn allerdings die Gefahr besteht, mit einer einzigen missglückten
Pointe womöglich meine ganze Karriere zu ruinieren und für den Rest meines
Daseins ein Geächteter zu bleiben, dann werde ich wohl in Zukunft
vorsichtshalber keine derartigen Geschichten mehr schreiben. Ich glaube, dass
Selbstzensur in der Literatur von heute schon wieder eine sehr grosse Rolle
spielt.
Dennoch gibt es Kollegen, die bei jeder sich bietenden
Gelegenheit den Staat dazu auffordern, rechtliche Schritte gegen politisch
unkorrekte Äusserungen oder Postings zu unternehmen.
Ich halte das für sehr gefährlich, und zwar deshalb, weil
meinungsregulierende Paragraphen gegen jede von der vorgeschriebenen Norm
abweichende Meinung anwendbar sind, wodurch beispielsweise Kritik an
Regierungsmitgliedern sehr rasch zu einem strafrechtlich relevanten Tatbestand
werden könnte.
Wenn aber die Zensur erst einmal einen Fuss in der Tür hat,
dann wird sie auch eintreten, und erfahrungsgemäss werden wir vom schreibenden
Gewerbe wieder ihre bevorzugten Opfer sein, sofern wir uns nicht darauf
beschränken, die Schönheit blühender Blumenwiesen zu beschreiben.
Meinungsfreiheit ist eine der kostbarsten Errungenschaften unserer Demokratie.
Daher bin ich der festen Überzeugung, dass hundert oder sogar tausend
Rassisten, Antisemiten, Neonazis und Schwulenhasser immer noch ein kleineres
Übel sind als ein einziger Zensor.