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Ausgangssperren: Der Rechtsstaat leidet unter Corona

von Kai Biermann, MSN
News
, 30. März 2020. 
Mit Ausgangssperren, Verweilverboten und Handydatensammlungen soll Covid-19 bekämpft werden. Doch manche Pläne führen zu gefährlicher staatlicher Willkür und Überwachung. 

© Odd ANDERSEN/AFP/Getty Images Polizisten patrouillieren im Berliner Tiergarten.
Bis vor wenigen Wochen konnten sich wohl
die wenigsten vorstellen, dass in Deutschland schon bald Lautsprecherwagen
durch die Straßen fahren und die Menschen dazu auffordern würden, das Haus
nicht zu verlassen. Oder dass Straßensperren errichtet würden, um Autofahrer
anzuhalten, deren Pkw das “falsche” Kennzeichen haben. Solche Bilder
kannte man aus Staaten, die einen Putsch erleben, oder aus dystopischen Filmen.
Seit das Coronavirus in Deutschland grassiert, sind sie jedoch auch hierzulande
zu sehen – im Englischen Garten in München genauso wie an der Bundesstraße 109
zwischen Brandenburg und Mecklenburg-Vorpommern.
Es soll nicht darum gehen,
Ausgangssperren grundsätzlich abzulehnen oder zum Widerstand gegen Maßnahmen
aufzurufen, die gegen eine Pandemie nutzen können. Körperliche Distanz hilft,
das Verbreiten solcher Viren wie Covid-19 einzudämmen. Doch bei allem Respekt
vor der schwierigen Aufgabe, die Corona-Krise politisch zu meistern, ist längst
eine Debatte über einige dieser Erlasse und Verordnungen angebracht. Denn ein
Teil der Maßnahmen, die in jüngster Zeit im Kampf gegen das Coronavirus
erlassen wurden, geht viel zu weit, ist rechtlich unscharf und teilweise
vermutlich sogar illegal.
Um die Ausbreitung gefährlicher
Krankheiten zu verhindern, darf der Staat die Grundrechte seiner Bürger
einschränken – aber jeder Eingriff muss verhältnismäßig sein. Die Maßnahme muss
wirklich dazu dienen, eine Pandemie zu begrenzen und Leben zu retten. Und sie
darf nur Menschen betreffen, die eine Gefahr darstellen, statt jeden
unterschiedslos einzuschließen. Bei einer Reihe der erlassenen Einschränkungen
ist das allerdings zweifelhaft.

Pausen
gehören zur Bewegung an der Luft
In verschiedenen Städten gelten zum
Beispiel inzwischen sogenannte Verweilverbote. Bewegung an der Luft sei weiter
erlaubt, nur draußen herumsitzen nicht mehr, lautet das Argument der
Regierungsstellen. Juristen halten das für unsinnig. Worin besteht beispielsweise
die Gefahr, wenn eine Mutter mit ihren Kindern auf einer Bank im Park sitzt,
damit alle etwas Sonne bekommen und in der Wohnung nicht die Nerven verlieren?
Ist es angemessen, sie unter Androhung einer Strafe zu verscheuchen, wie es derzeit mancherorts geschieht? Wen kann man anstecken,
wenn man allein oder mit seinem Partner im Freien verweilt? “Lasst Euch
nicht für dumm verkaufen”, twitterte dazu
der Strafrechtler Udo Vetter
. Eine Pause sei notwendiger Teil der
Bewegung an der frischen Luft. 

Berlin beispielsweise hat überdies verfügt,
dass jeder nun ständig einen Personalausweis dabei haben muss beziehungsweise
einen anderen “amtlichen Lichtbildausweis nebst einem Dokument, aus dem
die Wohnanschrift der Person ersichtlich ist”. Eine solche Ausweispflicht
steht allerdings in keinem deutschen Gesetz, es gebe für sie keine
Rechtsgrundlage, sagt Clemens Arzt, der als Staats- und Ordnungsrechtler unter
anderem an einer Polizeihochschule lehrt: “Das ist aus meiner Sicht grob
rechtswidrig. Auf einer Bank zu sitzen begründet nicht, warum ich einen Ausweis
vorzeigen müsste”, sagte er. Polizeibeamte hätten seiner Auffassung nach
in einem solchen Fall “keine Kontrollbefugnis”.

Überhaupt Berlin. Dort hat die
Landesregierung in ihrer Corona-Verordnung eben nicht nur eine Beschränkung
des Aufenthaltes im Freien festgelegt, wie andere Bundesländer. Berlin und
Sachsen haben eigentlich komplette Ausgangssperren verhängt, auch wenn sie so
nicht genannt werden. Denn in Paragraf 14 der Berliner Verordnung heißt es:
“Im Stadtgebiet von Berlin (…) befindliche Personen haben sich (…)
ständig in ihrer Wohnung (…) aufzuhalten.” Wer nach draußen geht, müsse
Gründe “gegenüber der Polizei und den zuständigen Ordnungsbehörden
glaubhaft machen”.

Doch wie macht man einen Einkauf von
Waschmittel glaubhaft? Wie einen Besuch der Arbeitsstelle? Wie die Tatsache,
dass man zu einer Prüfung muss? Dazu sagt die Verordnung nichts, es bleibt den
Polizisten und Polizistinnen überlassen, das zu entscheiden. Und so entscheiden sie wie hier beispielsweise, dass ein
Spaziergang nur noch zehn Minuten dauern darf. Polizei und Ordnungsämter sind,
so scheint es, von den in Teilen schwammig formulierten Verordnungen
überfordert.
Bürger
erleben Willkür

In Sachsen ist die Bewegung an der
frischen Luft laut der dort erlassenen Allgemeinverfügung sogar nur “im
Umfeld des Wohnbereichs” erlaubt. Doch was ist ein Wohnbereich, was ein
Umfeld? Die Straße, das Viertel, die Stadt? Und vor allem, warum? Anstecken
kann man andere Menschen überall, einem Virus ist es egal, ob sich jemand in
seinem Wohnbereich bewegt oder nicht. So führen solche Sätze nur dazu, dass die
Polizisten und Polizistinnen, die sie umsetzen müssen, nach Gutdünken
entscheiden. Betroffene Bürger erleben das als Willkür – was der eine Beamte
eben noch durchgehen ließ, verbietet die nächste. Solche Willkür aber darf es
in einem Rechtsstaat nicht geben.
Die Stadt Jena ging noch weiter als der
Freistaat Sachsen. Sie ordnete an, dass Menschen, die in Bayern,
Baden-Württemberg und Nordrhein-Westfalen waren, anschließend zwei Wochen in
häusliche Quarantäne müssen – obwohl beispielsweise Bayern nach Meinung des
Robert Koch-Instituts kein Risikogebiet ist. Für die Strafverteidigerin Kristin
Pietrzyk kommt das einem Berufsverbot gleich: “Ich kann mir nicht
aussuchen, ob ich zu einem Gerichtstermin in Bayern fahre oder nicht. Ich muss
dort erscheinen und meine Mandanten vertreten”, sagt sie. Nach Protesten
gebe es nun zwar eine Ausnahme für Anwälte und Anwältinnen, aber die Anordnung
sei immer noch rechtlich unbestimmt. “Wir müssen diese Dinge auf den Boden
der Rechtsstaatlichkeit zurückholen”, fordert sie.
In manchen Orten besucht die Polizei
auch Menschen zu Hause, weil sie den Verdacht hat, sie dürften dort nicht sein.
Als Anlass genügte bei einem Redakteur der ZEIT ein Auto vor dem Haus,
welches das Kennzeichen eines anderen Bundeslandes trägt. Doch es gibt
beispielsweise in Berlin keine Pflicht mehr dazu, sein Kennzeichen umzumelden,
wenn man umzieht. Auf welcher rechtlichen Grundlage also finden solche
Hausbesuche statt, immerhin stellen die Menschen in dem Haus keine Gefahr für
die Allgemeinheit dar?
Die Regierungen in Bund, Ländern und
Bezirken haben die zweifellos schwierige Aufgabe, alles Nötige zu tun, um die
Corona-Pandemie einzudämmen und Menschen zu schützen. Doch mancherorts scheinen
sie dabei – aus der verständlichen Angst vor einer Überforderung des
Gesundheitssystems – das Maß zu verlieren. Und das nicht nur im physischen
Zusammenleben, sondern auch im Umgang mit den Daten der Bürger.
Bis vor wenigen Wochen existierte ein
gesellschaftlicher, vom Verfassungsgericht unterstützter Konsens, dass Konzepte
wie die Vorratsdatenspeicherung gegen bürgerliche Freiheiten verstoßen und die
Gesellschaft eher gefährden als ihr nutzen. Das Coronavirus erodiert auch diese
Überzeugung. Bundesgesundheitsminister Jens Spahn war der Erste, der versuchte,
den Zugriff des Staats auf private digitale Daten zu erweitern. Das Ziel: den
Standort von Infizierten und ihren Kontaktpersonen anhand ihrer Handydaten
ermitteln, um Infektionsketten besser verfolgen zu können.
Der Passus, den er in seinen Entwurf
eines neuen Infektionsschutzgesetzes schreiben wollte, liegt ZEIT ONLINE vor.
Er ging sehr weit. So sollten alle “geschäftsmäßigen
Telekommunikationsdienste” verpflichtet werden, alle “erforderlichen
Daten” herauszugeben, mit denen “mögliche Kontaktpersonen von erkrankten
Personen” ermittelt werden könnten. Welche Daten genau? Das wurde darin
nicht näher erläutert. Im Zweifel also alle Daten. Und das ohne irgendeinen
rechtsstaatlichen Schutz. Der Gesetzentwurf sah keinen Richtervorbehalt vor,
keine Informationspflicht der Betroffenen, keine Löschfristen, keine
Dokumentationspflicht über Zahl und Art der genutzten Daten. Der Plan ist nach
Einwänden von Juristen und Technikern politisch zunächst gescheitert, Spahn
aber hat angekündigt, die Idee weiterzuverfolgen.
Es wird vermutlich nicht der letzte
Versuch gewesen sein, auf solche Daten zuzugreifen. Derzeit machen staatliche
Stellen in vielen Regionen bereits erheblichen Druck auf Gesundheitsämter, um
an die Namen und Adressen von Covid-19-Patienten zu gelangen. In
Baden-Württemberg, so berichteten es der SWR und die Badische Zeitung, hätten die Gesundheitsämter der
Kreise Lörrach und Waldshut den dortigen Ordnungsämtern bereits Listen mit
Infizierten übermittelt. Die Mitarbeiter und Mitarbeiterinnen der Ordnungsämter
sollten anschließend überprüfen, ob die Erkrankten auch zu Hause in Quarantäne
bleiben. 

Sensible
Daten weitergegeben
Wer sich mit Corona infiziert, ist
jedoch kein verurteilter Straftäter, dessen Freiheit vollständig eingeschränkt
werden darf. Völlig unklar bleibt auch, was die Ordnungsämter noch mit den an
sie übermittelten Daten anfangen. Dabei gelten Gesundheitsdaten als besonders
sensibel und damit schutzwürdig. Und das Datenschutzrecht kenne auch keinen
Ausnahmezustand, wie Dieter Kugelmann, der Rechtsprofessor und Datenschutzbeauftragte von
Rheinland-Pfalz, im Verfassungsblog schreibt
.
Ähnliche Listen werden in
Baden-Württemberg inzwischen mancherorts auch an die Polizei übermittelt. Das
diene dem Schutz der Einsatzkräfte, zitiert der SWR einen Sprecher des
Innenministeriums Baden-Württemberg. “Wenn die Polizei beispielsweise zu
einem Verkehrsunfall gerufen wird, kann sie so überprüfen, ob der Betroffene
infiziert ist.” So könne sie Schutzmaßnahmen ergreifen. “Uns fehlen
Informationen von Infizierten, wenn wir bei Einsätzen ausrücken”, zitiert
die Schwäbische Zeitung Hans-Jürgen Kristein, den Landeschef der GdP.
Diese seien nötig, da der Polizei die Schutzkleidung fehle.
“Eine präventive Übermittlung all
dieser Daten halte ich für unverhältnismäßig”, sagt Staatsrechtler Arzt.
Die Polizei könne das Gesundheitsamt vor einem Einsatz gegen eine bestimmte
Person fragen, ob diese infektiös sei, das sei völlig ausreichend. “Da muss
das Gesundheitsamt eben einen Dauerdienst haben, der die Fragen jederzeit
beantworten kann, das muss ausreichen.” Noch besser aber wäre es,
Polizisten und Polizistinnen mit Handschuhen und Atemschutzmasken auszurüsten,
damit sie sich schützen könnten.
“Es ist beklemmend, was im
Augenblick passiert”, sagt der frühere Bundesdatenschutzbeauftragte Peter
Schaar. Er blickt mit Sorge den nächsten Wochen entgegen: “Wir werden eine
massive elektronische Überwachung bekommen.” Zusammen mit anderen Datenschützern hat Schaar deshalb einen Appell an
die Politik veröffentlicht
. Auch in der Corona-Krise blieben
Persönlichkeitsrechte “elementare Funktionsbedingung eines freiheitlichen
Gemeinwesens”, heißt es darin. Sie dürften nicht “vorschnell und
nicht ohne sorgsam abwägende Prüfung” eingeschränkt werden. Alle neuen
Regeln müssten sich daran messen lassen, “ob sie den Verfassungsgrundsatz
der Verhältnismäßigkeit einhalten”.
Klagen gegen solche Verordnungen kann
allerdings nur, wer zuerst einmal einen Strafzettel kassiert und gegen diesen
anschließend Widerspruch einlegt. Die meisten Menschen stehen stattdessen wohl
lieber von der Bank auf und gehen weiter. Doch werden sich hoffentlich trotzdem
Kläger und Klägerinnen gegen diese Freiheitsbeschränkungen finden, erste
Beispiele gibt es schon, beispielsweise in Bayern. Bislang hat noch keine Klage zu
einer grundsätzlichen Entscheidung geführt, ob all diese Verbote gegen das
Grundgesetz verstoßen. Beim Bundesverfassungsgericht in Karlsruhe sind aber
bereits mehrere Eilverfahren eingegangen. 

Teile
des Gesetzes “stinken rechtlich zum Himmel”
Die größte Sorge von Schaar und auch
Arzt ist allerdings nicht die kurzfristige Übertretung von Rechten in der
akuten Krise. Ihre größte Sorge ist eine eher psychologische Wirkung, der
sogenannte Türöffnereffekt: In der derzeit schwierigen Lage erhalte die Polizei
neue Befugnisse, die jetzt nicht ordentlich geprüft und später nie evaluiert
würden. Seien sie aber einmal installiert, würden sie künftig auch auf andere
Situationen und Tatbestände ausgeweitet.
Ein Beispiel dafür ist die automatische
Erfassung von Autokennzeichen. Ursprünglich wurde dieser schwere Eingriff in
das Grundrecht auf informationelle Selbstbestimmung nur bei Mordermittlungen
und ähnlich schweren Taten und nur für begrenzte Zeit erlaubt. Dann jedoch haben Länder wie Brandenburg diese Überwachungssysteme dauerhaft
installiert
, auch wenn sie damit lediglich Autofahrende fingen, die ihre Versicherung nicht bezahlt hatten.
Es brauchte das Bundesverfassungsgericht, um dieses Vorgehen zu beenden.
Bis dahin aber wurden jahrelang zahllose Autokennzeichen gescannt, gespeichert
und immer wieder selbst für banale Ermittlungen ausgewertet.
Eine Gesellschaft brauche feste
rechtliche Gerüste, sagt Staatsrechtler Arzt. Man dürfe nicht einfach per
Verordnung Grundrechte aushebeln. Genau das aber geschehe beispielsweise mit
dem gerade schnell durch den Bundestag gewunkenen Infektionsschutzgesetz, sagt
Arzt: Teile davon “stinken rechtlich zum Himmel”.