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Verrecken im Schlaraffenland oder Umdenken? – Die Lyrik von Mario Laatsch

Von Claudia Seise, ProMosaik. Ein Interview mit dem
Berliner Dichter Mario Laatsch. Die neue Veröffentlichung in Zusammenarbeit mit ProMosaik “Verrecken im Schlaraffenland” finden Sie hier.

1. Sie haben Indologie, Indische Kunstgeschichte und
Südasienstudien studiert. Wie hat Ihr Studium Ihre Tätigkeit als Autor
beeinflusst?
Ich bin mit Anfang 20, noch vor meinem Studium, das erste Mal
nach Indien gereist, ohne zu wissen, was mich dort erwartet. Ich war weder auf
Sinnsuche, noch verklärter Neohippie, und als ich dort zum ersten Mal in Bombay
in eine außereuropäische Kultur eintauchte, wurde mir schlagartig bewusst, mit
welchen Zuständen wir zuhause in Europa und Deutschland bereits unzufrieden
sind – das heißt: es uns leisten, unzufrieden zu sein. Im Rest der Welt haben
sie ganz andere Probleme; das weiß man zwar auch, ohne eine Fernreise in ein
Schwellenland zu unternehmen, aber das ist ein abstraktes Wissen, das man
bequem wegschieben kann. Es macht aber einen Unterschied, ob man dreckige,
bettelnde Kinder nur aus der Spendenwerbung des heimischen
Vorweihnachtsprogramms kennt, oder ob sie einen auf offener Straße anzupfen mit
warmen, menschlichen Händen. Also, um zur Frage zu kommen: Durch den Kontakt
mit einer anderen Kultur im Laufe meines Studiums habe ich auch meine eigene
Kultur besser durchschauen und bewerten können. Und die kritische
Auseinandersetzung mit der eigenen Herkunft fließt – überdeutlich, würde ich
sagen – in meine Lyrik ein. Aber, und das verwundert mich selbst ab und zu:
Südasien und insbesondere Indien sind erstaunlich selten der Anlass für ein
Gedicht, sowohl früher, als auch gegenwärtig. Warum das so ist, darauf habe ich
mir (Wortspiel beabsichtigt!) noch keinen Reim gemacht.
2. Welche Themen liegen Ihnen als Autor besonders am
Herzen?
Ich würde nicht sagen, dass mir Themen besonders am Herzen
liegen, da ich Gedichte oft schreibe, wenn der Frust zu groß wird, also, um Unzufriedenheit
loszuwerden. Ähnlich ist das bei mir übrigens auch beim Tagebuchschreiben. Ein
guter Freund von mir hält jeden Tag auf einer Seite fest, egal was bei ihm los
war. Ich hingegen setze mich meistens nur vors Tagebuch, wenn mich etwas wurmte
und aufregte. Das Tagebuch als Abladestelle. – Bei der Zusammenstellung des
Manuskipts für diesen Band habe ich festgestellt, dass die Kritik an den
Entwicklungen in unseren westlichen Überflussgesellschaften aber das
wiederkehrende Hauptthema ist. Diese übersatte, diese blasierte, träge,
chronisch-beleidigte und überhebliche Attitüde, mit der wir aus der
„westlichen“ Hemisphäre durch die Welt gehen, regt mich auf und frustriert
mich. Und das schlimmste ist, sie ist ansteckend. Abgesehen davon sind es kurze
Momentaufnahmen des Alltags, die den Anstoß für einen Text geben können.
3. Sie haben sehr zeitig,
im Jahr 2000, begonnen ein Online-Tagebuch (www.mario-laatsch.de) zu schreiben.
Was hat sich seitdem verändert?
Naja, zunächst einmal die Art und Weise, wie man Inhalte
erstellt und präsentiert. Früher hat man seine Homepage in Handarbeit erstellt,
also in HTML geschrieben, und wenn man keine oder nur wenig Ahnung davon hatte,
sah das Ergebnis auch entsprechend aus. Mit dem Aufkommen von Facebook und
anderen Plattformen ist der Trend, sich eine eigene kleine Seite im Netz zu
bauen, wahrscheinlich zurück gegangen. Ich würde annehmen, dass man sich heute
weniger Gedanken um individuelles Design macht als früher; heute reicht das
Vorgefertigte aus, und dafür ist die Bedienbarkeit einfacher geworden. Ich
selbst habe mein frei gestaltetes Blog ja auch so um 2009 auf eine
Wordpress-Vorlage umgestellt, weil das Arbeiten damit einfach weniger sperrig
ist. Zudem hat man weniger Probleme mit der Darstellung auf verschiedenen
Geräten, Betriebssystemen und Browsern.
4. Wie
sehen Sie die Zukunft der Literatur und speziell der Lyrik im Zeitalter von
Smartphone, Individualismus, entfesseltem Kapitalismus und jugendlichem
Desinteresse?
Die Lyrik hat es diesseits der Alpen im Prinzip schon immer
schwer gehabt, gehört zu werden. Das wird auch so bleiben. Jemand, der mit
Mitte dreißig noch Gedichte schreibt, kann zudem nicht ganz knusper sein, oder?
Wenn ich irgendwo erwähne, dass ich ab und zu ein Gedicht schreibe, zieht mein
Gegenüber ratlos die Mundwinkel nach unten. Gedichte gelten den meisten Leuten
allein schon aus Schultagen nur als tantenhafte, teppichtrockene
Verbalverrenkungen. Ich weiß nicht, welche Dichter heutzutage im
Deutschunterricht gelesen werden, um die jüngeren Generationen mit Dichtung
vertraut zu machen. Und ich bin gespannt, wessen Texte meine Tochter eines
Tages in ihren Hausaufgaben bearbeiten müssen wird. – Wir sind bereits an immer
schnellere cuts, Inhaltswechsel und rasende Themenwechsel gewöhnt worden, und
mit der so flächendeckend neu konditionierten Aufmerksamkeitsspanne von
Goldfischen lässt sich kaum ein mittellanges Gedicht ohne Unterbrechung
aufnehmen, geschweige denn schreiben.
Naja, und auf den erwähnten Individualismus wurde, soweit ich
das beurteilen kann, bereits der Abgesang angestimmt und ein sich
breitmachender, neuer Konformismus ist zum aktuellen Zeitgeist auserkoren
worden. Wenn ich mir eine heutige Schulklasse angucke, sehe ich da ein Dutzend
gleich aussehender Mädchen und ein Dutzend gleich aussehender Jungen: Schuhe,
Hosen, Jacken, Haarschnitt und Attitüde weichen so gut wie gar nicht mehr von
einander ab. Außenseiter und „Freaks“ sieht man irgendwie gar nicht mehr. Die
Orientierung hangelt sich an den Maßstäben der Instagram-Herde entlang, einen
Trend zum Individualismus kann man kaum mehr ausmachen. – Ohne die Außensicht
eines sich individuell entwickelten Ichs lässt sich aber keine richtige Kunst
erschaffen; doch in Zeiten, in denen jedwede Äußerung von Kunst im Prinzip
nichts kosten soll (weder in der Produktion, noch in der Präsentation) und
quasi nur als eine vom Alltag ablenkende Nettigkeit angesehen wird, wird das
achselzuckend hingenommen. Aber ich habe keine Ahnung, wovon ich da rede und
sehe die Dinge womöglich schwärzer, also sie sind. Die Lyrik als
„Königs-Nische“ der Literatur wird also, wie gesagt, auch zukünftig nicht
populärer werden.
5. Was würden Sie sagen,
wenn jemand dem Mediendienst Twitter das Potential zusprechen würde, eine neue
Art von Literatur und Ausdrucksweise zu befördern?
Ich würde ratlos die Mundwinkel nach unten ziehen und aufs
Wetter zu sprechen kommen… Nein, ja, ich glaube, man könnte durch Twitters
Zeichenbegrenzung tatsächlich einen verknappten Stil üben und beispielsweise
witzige Pointen formulieren und Meinungen punktgenau ausdrücken. Wenn man es
kann – ansonsten bleibt‘s peinliches Gestammel. Im Englischen klappt das wegen
der Syntax besser als beispielsweise im Deutschen, dafür gibt es im Netz
(vermeintlich) witzige Twitter-Screenshots zuhauf. Aber ob eine neue Art von
Literatur ertwittert werden kann, bezweifle ich, beziehungsweise es hängt
vielleicht davon ab, ab wann irgendwelche Gremien oder Wettbewerbs-Initiatoren
das Twitterformat als Literaturform ausrufen, um besonders modern wirken zu
wollen.
6. Würde der persische Dichter Rumi zum Beispiel im
heutigen Zeitalter twittern?
Nein, Rumi war wohl permanent so verzückt und in der Pose der
Wallung, inklusive echtem Bluthochdruck, Vorhofflimmern und fabelhaften
Sehstörungen – der hätte aufgrund der Zeichenbegrenzung und der damit
einhergehenden Schreibunterbrechung sofort wieder den Laptop zugeworfen. Und
vielleicht auf die Twitter-Erfinder geflucht, wer weiß…
7. Sie haben mehrere Kurzfilme gedreht. Was gefällt Ihnen
an diesem Medium und welche Verbindung sehen Sie zur Literatur?
Die Filme sind neugierige Übungen und ein Herantasten an ein
technisches Medium, das unmittelbarer auf den Betrachter wirkt. Mein bisher
längster Film „Kleine Narrenkunde für Anfänger“ ist aber immerhin 60 Minuten
lang und ist ein Portrait des Schriftstellers Ulrich Holbein (Anm.: Es handelt
sich nicht um den Fantasyautoren Wolfgang Hohlbein), hatte also auch was mit
Literatur zu tun. Aber ich mochte bzw. mag die Herausforderung, ein Bild oder
eine Szene, die man im Kopf hat, dann mit den technischen Möglichkeiten
umzusetzen.
8. Welche Autoren haben Sie bisher inspiriert?
Peter Rühmkorf, Erich Fried und Reiner Kunze. Friederike
Mayröcker auch. Mascha Kaleko und Hilde Domin sowie Ernst Jandl im
Vorbeiblättern. Ich weiß aber kaum etwas über die Charaktere oder die Menschen
hinter den Werken (außer bei Rühmkorf).
9. Lieber Taschenbuch oder gediegene, gebundene Ausgabe
mit elegantem Lesebändchen?
In der Regel stehen hier Taschenbücher rum.
10. Wenn Sie etwas aus Goethes
Zeit in unsere heutige Gesellschaft integrieren könnten, was wäre es? Und was
würden Sie aus unserer heutigen Zeit verbannen?
Verbannen aus unserer heutigen Zeit würde ich die
Goethe-Hörigkeit und den Stellenwert, den man dem kalten, schreibenden Geheimrat
hierzulande immernoch beimisst, und dafür integrieren müsste man seinen um ein
vielfaches kreativeren, lebendigeren Zeitgenossen Jean Paul (Johann Paul
Friedrich Richter), der irgendwie ausgeblendet bleibt. – Und wenn ich jetzt
halluziniere, dass man heute Smartphones abschaffen sollte, werde ich womöglich
für verrückt abgestempelt wie der Werther zu Goethes Zeiten. Dabei ist
es die global grassierene Sucht nach genau diesen Geräten, die seit rund einem
Jahrzehnt unsere Gesellschaften in zunehmender Gleichgültigkeit pulverisiert
und die Menschen wieder zu unmündigen, denkfaulen Bedienäffchen degradiert. Die
Neurowissenschaften bestätigen diesen Trend mittlerweile, drücken sich aber
natürlich anders aus.
11. Welche alternativen Medien- und Literaturprojekte
würden Sie empfehlen?
Da ich kein auch nur annähernd sichtbares Teilchen
irgendeiner Literatur- und Medienlandschaft bin, und zudem fast asketisch zurückgezogen
mich an keinen „alternativen“ Literaturprojekten beteiligt habe, noch  überhaupt von welchen weiß, kann ich mich
dazu gar nicht äußern. Verlage und Verleger, denen ich bisher Texte zusandte,
haben abgelehnt, und die Literaturzeitungen, die etwas von mir gedruckt haben,
existieren mittlerweile nicht mehr.
12. Was sind Ihre nächsten Projekte?
Ich werde mir eine Kanne masala chai kochen und sie,
im Schlafsack auf dem Balkon sitzend, trinken, bis die Sonne untergeht. Weiter
weiß ich noch nix.