General

Mordfall Lübcke – NSU 2.0?

Wolf Wetzel 20/06/2019
Nachdem Behörden und Medien die anfänglichen Hinweise auf ein rechtsextremes Tatmotiv beim Mord an dem Kasseler Regierungspräsidenten Walter Lübcke heruntergeredet und den Täter im „privaten Umfeld“ vermutet haben, folgte nun der Paukenschlag: Der Haupt-Tatverdächtige stammt nicht „nur“ aus dem rechtsextremen Umfeld, sondern steht offenbar auch in Verbindung zu einschlägigen rechtsterroristischen Gruppierungen und es gibt sogar Anknüpfungspunkte zur NSU-Mordserie. Dies stellt auch die Staatsorgane vor eine besondere Herausforderung, da der Staat selbst über Behörden und Dienste tief in die Strukturen dieser Organisationen eingebunden ist. Von Wolf Wetzel.

Wer die Ermittlungs(un-)tätigkeit in der Mordserie in Erinnerung ruft, die elf Jahre lang als „Dönermorde“ geführt wurde und die Bereitwilligkeit vieler Medien, diese Version mitzutragen und abzuschirmen, der kann die Wut nachvollziehen, die hochkommt, wenn man den Mordfall Lübcke bis heute verfolgt.
Die (Nicht-)Aufklärung atmet schwer unter ihrem Wissen
Die Dreistigkeit, Ermittlungssabotage zu betreiben, falsche Fährten zu legen, Fake News zu lancieren und den aktuellen Ermittlungstand immer an das anzupassen, was man nicht mehr leugnen kann, ist geradezu unverfroren. Diese verblüffende Übereinstimmung und Kontinuität ist dem gravierenden Umstand geschuldet, der in beiden Fällen treibend ist: Würde man die Aufklärung „in alle Richtungen“ betreiben, unabhängig vom Ansehen der Person, würde man „Beteiligungen“ aufdecken, die mehr Schutz genießen als die Aufklärung eines Mordfalles.
Die Deckung von Strukturen, die einen Mord begehen, ist schon einmal ganz knapp an ihre Grenzen gestoßen, im Zuge der Ermittlungstätigkeiten zum Mordanschlag auf Polizisten in Heilbronn 2007. Alle, die Ermittlungsstandards kennen und sie ernst nehmen, wissen, dass bei dieser „Aufklärung“ (weitere/andere) Täter und Tatbeteiligte gedeckt wurden. Wenn ein Mord an Migranten nicht aufgeklärt wird, dann wird das bedauert und gleich darauf vergessen. Wenn ein Mordanschlag auf Polizisten nicht aufgeklärt werden darf, dann hat man ein dauerhaftes Problem – in den eigenen Reihen. Wenn nun ein ranghoher Politiker ermordet wird und die Aufklärung die gleichen Züge annimmt wie in den vorangestellten Fällen, dann ahnt man, was hier auf dem Spiel steht.
Mit „Beteiligung“ ist weit mehr als eine politische Gesinnung gemeint, die man mit den Tätern, mit der Ideologie der Täter teilt. Es geht hier um staatsimmanente „Beteiligungen“, unter anderem in Form von V-Leuten, die im NSU-Netzwerk aktiv waren und sind. Dazu gehört ebenso der Schutz dieser V-Leute vor Aufdeckung, selbst dann, wenn sie in schwere Verbrechen involviert sind. An diesem Schutzschirm sind auch die Parteien beteiligt, die in den jeweiligen Bundesländern die Regierung stellen.
Eigentlich müsste das auch Kommunikationsstrategen der Polizei und der Staatsanwaltschaft auffallen. Wenn man ein Verbrechen aufklärt und dazu guten Willens ist, dann ermittelt man tatsächlich in alle Richtungen und unterlässt das Platzieren von „Ergebnissen“, die man faktenfreier nicht präsentieren kann – in diesem Stadium der Ermittlungen. Wenn man all dies dennoch tut, wenn man einen Mord an einem Regierungspräsidenten „so“ aufklärt, ruft man geradezu nach dem „Videobeweis“.
Log-Buch der Nicht-Aufklärung
Zuerst war ein rassistischer, neonazistischer Zusammenhang nicht zu übersehen. Dann arbeitete man fieberhaft an einer nicht ganz so neuen, sehr eingeübten Sichtweise. Man legte sie erst, dann folgte man ihr großspurig: einer ganz zufällig, gänzlich „unpolitischen“ Spur. Nicht besonders originell, aber immer wieder gut genug. Ein Kirmesstreit sollte nun Auslöser für diesen Mord gewesen sein. Seitdem gehen „Polizei und Staatsanwaltschaft von einem Täter im privaten Umfeld des CDU-Politikers.“ aus. (SZ vom 17. Juni 2019)
Damit alle verstehen, wohin die Irr-Reise gehen soll, wurde dafür noch etwas draufgelegt: „Vergessen Sie die Mutmaßungen über einen Täter aus der radikalen Szene, dafür gibt es keine Hinweise“, hieß es noch bis zum Wochenende in Ermittlerkreisen.“ (s.o.) Das war also noch der Ermittlungsstand kurz vor der Kehrtwende. Kaum hatten alle gelernt zu vergessen, kam es ganz anders.
Am 15. Juni 2019 wurde ein Mann in Kassel festgenommen, dessen DNA auf Kleidungsstücken des Mordopfers gefunden wurde. Der Mann ist im BKA-Computer gespeichert. Je nach Indiskretion ist der Mann „polizeibekannt“, mehrfach vorbestraft, hat eine „schwere Straftat“ begangen, hat eine „langes Vorstrafenregister“. „Laut Ermittler gibt es Hinweise, dass der Festgenommene der rechtsextremen Szene angehören könnte.“ (bild.de vom 16.6.2019) Die “Frankfurter Allgemeine Zeitung” (FAZ) will erfahren haben, dass der Mann „aus dem rechtsextremen Milieu“ stamme.
Als ich diese Nachrichten las, skizzierte ich den Fortgang der Verlautbarungen: Der Mann bewegte sich zwar in einem neonazistischen Umfeld, aber das ist verdammt lange her. Wenn sich die neonazistische Gesinnung des Festgenommenen gar nicht (mehr) leugnen lässt, dann war es ganz sicher ein „Einzeltäter“, wenn möglich „verwirrt“.
Einige Zeitungen spielten tatsächlich noch die zugespielte Version von einer Nazivergangenheit, die keine Rolle mehr spiele. Als klar wurde, dass das nicht lange zu halten war, musste die zweite Version zum Zuge kommen: Okay, es ist nicht der Gärtner, sondern ein Nazi, aber … „Es gäbe keine Anhaltspunkte dafür, dass er in eine rechtsterroristische Vereinigung eingebunden sein könnte“ (FR vom 18.6.2019)
Das sagte der Behördensprecher Markus Schmitt für die Bundesanwaltschaft in Karlsruhe, die gerade einmal ein Wochenende Zeit hatte, sich diese profunde Meinung zu bilden. Mit Erkenntnissen hat dies also nicht das Geringste zu tun, mit panischer Angst sehr wohl. Denn man weiß aus Erfahrung, dass man nun ein Loch stopfen, Verbindungen kappen muss – die sich geradezu aufdrängen – wie im Fall „NSU“.
Noch vor dieser Wende im Fall Lübcke schrieb ich für die NachDenkSeiten: Man stelle sich vor, man stieße bei den Ermittlungen auf NSU-affine Strukturen, also genau auf das Netzwerk, das es nach offizieller Lesart nicht gibt.
Was wäre, wenn man in alle Richtungen ermitteln würde, ohne Ansehen der Person, und würde dabei auf NSU 2.0 stoßen, also auf neonazistische/paramilitärische Strukturen, in denen sich Polizisten, Neonazis, Politiker und Elitesoldaten (Ex-KSK-Mitglieder) zusammenfinden, um sich auf den „Ernstfall“ vorzubereiten – zu dem auch die Tötung von unbequemen Politkern gehört. Und genau dieses „Loch“ tut sich mit der Festnahme eines Neonazis auf, der die Verbindung von „Kameradschaften“, „blood & honour“, „combat 18“ mit dem NSU nicht besser vorführen kann.
Der Tatverdächtige Stephan Ernst führt nicht zum Einzeltäter, sondern zu einer neonazistischen Terrorstruktur, die man seit Jahren leugnet. Stephan Ernst hat einen neonazistischen Lebenslauf, den sich der NSU nicht schöner ausmalen könnte. Er politisierte sich mit den Pogromen im Zuge der Wiedervereinigung Anfang der 1990er Jahre. Aufgrund eines Anschlages auf eine Geflüchtetenunterkunft im hessischen Hohenstein-Steckenrodt im Jahr 1993 wurde er zu einer mehrjährigen Haftstrafe verurteilt.
„Der 45-jährige Stephan E. aus Kassel ist Antifaschist*innen seit Anfang der 2000er Jahre bekannt. Er zählte in den 2000er Jahren zum engeren Kreis um die Neonazis Michel Friedrich und Mike Sawallich. Er beteiligte sich an NPD-Auftritten und mindestens einer Sprühaktion und war 2007 in eine Schlägerei von Neonazis mit Nazigegnern verwickelt. (…) Am 1. Mai 2009 war E. zusammen mit sechs weiteren Neonazis aus der Kasseler Neonazi-Szene nach Dortmund gereist und beteiligte sich dort an einem Angriff auf die DGB-Demonstration. Dabei wurde er festgenommen. (…) Stephan Ernst war auch 2016 Thema im hessischen Untersuchungsausschuss zur Aufklärung der Verbrechen des „Nationalsozialistischen Untergrunds“. Er wurde von der Partei DIE LINKE in einem Beweisantrag als ein Beispiel für gewalttätige Kasseler Neonazis erwähnt. Der Neonazi und V-Mann Benjamin Gärtner bestätigte auf Nachfrage des Abgeordneten Schaus, dass ihm ein „NPD-Stephan“ bekannt sei.“ (Tatverdächtiger im Fall Lübcke ist bekannter Neonazi, Exif (Recherche und Analyse) vom 17. Juni 2019)
Diese Informationen hat das antifaschistische Recherchenetzwerk „Exif“ zusammengetragen. Und es liegt schwarz auf weiß etwas vor, was das Leugnen neonazistischer Terrorstrukturen schwerer macht: „Exif hat erst im Jahr 2018 seine Recherchen über dieses terroristisch ambitionierte neonazistische Netzwerk offen gelegt.“
Woran die Aufklärung des Mordanschlages in Kassel 2006, die Rolle des Verfassungsschutzmitarbeiters Andreas Temme (der unter anderem den erwähnten Benjamin Gärtner als V-Mann geführt hatte) und die Aufklärung des Mordfalles Lübcke scheitern kann, hat „Exif“ auch formuliert:
„Es ist offensichtlich, dass dieses Netzwerk von Spitzeln verschiedener Behörden und Geheimdienste durchsetzt ist und deswegen seit Jahren von den Behörden, allen voran vom Verfassungsschutz, klein geredet und ‚an der langen Leine‘ laufen gelassen wird.“
Es gibt viele Gründe, warum selbst der Mordfall Lübcke nicht aufgeklärt werden kann – ohne Verbindungen offenzulegen, die das „Staatswohl“ tangieren. Und es gibt Gründe, warum das interne Ermittlungsergebnis zu dem Mordfall in Kassel 2006 bis zum Jahr 2134 geheim bleiben müssen.
Quellen:
Tatverdächtiger im Fall Lübcke ist bekannter Neonazi, Exif (Recherche und Analyse) vom 17. Juni 2019