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Saudiarabien, reich, skrupellos, braucht dringend Geld

Erich Gysling, Infosperber, 22. Okt 2018 – Saudiarabien: Reich geworden durch Erdöl, auf neue Einkommensquellen angewiesen, wenn die Wende zum modernen Staat gelingen soll.


Ob die Ermordung des Publizisten und Regimekritikers Jamaal Kashoggi der Karriere des saudischen Heisssporns Mohammed bin Salman ein unrühmliches Ende bereiten könnte, darüber wird derzeit viel spekuliert. Wahrscheinlich ist der Sturz des 33jährigen nicht – MbS, wie der Brutalo hoch oben in der Hierarchie des Königreichs trendig genannt wird, findet sehr wahrscheinlich Mittel und Wege, Sündenböcke für das Verbrechen im Konsulat von Istanbul zu finden. 18 «Verantwortliche» wurden ja schon identifiziert, im hektischen Bemühen, MbS zu entlasten. Merkwürdig nur, dass zumindest vier der 18 zur allernächsten Sicherheits-Entourage von Mohammed bin Salman gehören oder zumindest gehörten. Dass «Er», der doch alles im Lande kontrolliert, ständig persönlich über Tausende Details entscheidet, nicht gewusst haben soll, dass einige seiner engsten Mitarbeiter eigenmächtig nach Istanbul reisten, ist schlicht unmöglich.
Doch jetzt ist, aus saudischer Perspektive, Eile geboten – die «Welt» soll raschmöglichst in ihrem traditionellen, naiven Vertrauen in das saudische System bestärkt werden, denn das eigentlich unglaublich reiche Land braucht, und zwar dringend, Geld.
Wie das? Hunderte Milliarden Dollar haben saudische Geschäftsleute und Tausende Prinzen, also Angehörige der weit verzweigten Monarchie, im Ausland parkiert, mindestens 20 Milliarden davon auch in der Schweiz. Der Strom von Saudi-Geldern, die nach Europa oder in die USA oder anderswohin fliesst, nahm in den letzten Jahren sogar noch zu, während der Fluss von Dollars hinein ins Märchenland stagnierte. Die Weltbank stellte, zum Beispiel, für 2016 fest: 7,45 Milliarden flossen als Investitionen hinein, 8,93 Milliarden hinaus. Lehrreicher ist vielleicht folgender Auszug aus der Saudi-Statistik: Vor drei Jahren, als der Erdölpreis tief lag, hatte Saudiarabien Devisenreserven von 674 Milliarden, schrieb aber im betreffenden Jahr ein Minus von zwischen 90 und 100 Milliarden. Hätte sich hinsichtlich Ölpreis nichts verändert, wäre Saudiarabien in wenigen Jahren dem Bankrott entgegen geschliddert. Im Jahr danach betrug das Defizit noch immer rund 70 Milliarden, im Folgejahr etwa 50 Milliarden. Jetzt, für 2018, wird Saudiarabien möglicherweise wohl kein Minus mehr verzeichnen – der Ölpreis ist wieder angestiegen. Und könnte, wie schön für das Saudi-Regime, demnächst weiter ansteigen, dann nämlich, wenn Iran, dank dem vom US-Präsidenten diktierten Export-Embargo (gültig ab dem 4. November) zusätzlich stranguliert wird.
Die Zeit drängt
MbS hat, klar, die finanzielle und wirtschaftliche Schieflage seines Glanz-und-Gloria-Reichs längst erkannt. Niemand sonst weiss wohl besser Bescheid über die erkennbaren Engpässe: die Förderung von Erdöl geht zurück, jene von Erdgas (das für den Transport verflüssigt wird) steigt. Saudiarabien hat relativ wenig Gasreserven, und die Erdölressourcen, so mächtig sie dargestellt werden können (zweitgrösste Menge nach dem Pleite-Staat Venezuela…), sind auch etwas trügerisch. Denn mit der traditionellen Technologie können von diesen Ressourcen in Saudiarabien nur rund 25 Prozent den Verbrauchermarkt erreichen (für das Nordsee-Öl galt lange: 80 Prozent – Trend allerdings jetzt auch hier rückläufig). Staaten anderseits, die «stark» sind im Erdgas, legen auf dem Weltmarkt zu. Da spielen ausgerechnet Qatar und Iran eine wesentliche Rolle, d.h. zwei Länder, die der saudische Haudegen MbS als Erzfeinde ausgemacht hat und die er entweder isolieren oder notfalls auch mit Krieg überziehen will.
Scheut er denn nicht das Kriegsrisiko? Offenkundig nicht, das zeigt der Konflikt um Jemen. Saudische Flugzeuge werfen Bomben, die in den USA hergestellt worden sind, auf die Zivilbevölkerung im Nachbarland ab. Zehntausend Todesopfer, eine Million Cholera-Erkrankte, fünf bis sieben Millionen Hungernde – nicht der Rede wert für MbS. Er ist, im Gegenteil, entschlossen, diesen Krieg auf hoher Intensität weiter zu führen und kauft daher in den USA, aber auch in Europa, Waffen für Milliarden. Deutschland liefert, Frankreich liefert, noch mehr liefern die USA (bis 2021 sollen oder wollen US-Rüstungskonzerne Waffen im Wert von über 350 Milliarden nach Saudiarabien exportieren). Die Schweiz lieferte im letzten Jahr Rüstung für «nur» 18 Millionen. Jahre vorher war es mehr, damals, als die Pilatus-Trainer-Flugzeuge für «nicht-militärische Zwecke» exportiert wurden.
Auch nicht-militärische Ziele
Doch MbS führt nicht nur Krieg, er hat auch eine friedliche Vision, in deren Kernbereich sich ein Städtebau-Projekt namens Neom befindet. Die in jeder Hinsicht zukunftsgerichtete, ökologisch «neutrale» Stadt am Roten Meer, soll in unmittelbarer Nähe zum jordanischen Aqaba gebaut werden, als Dienstleistungszentrum und Tourismus-Magnet vor allem. Mehr als 425 Milliarden Dollar sollen respektive können in dieses Projekt investiert werden – womit wir bei der Aktualität angelangt wären, bei der am Dienstag beginnenden internationalen Investorenkonferenz in Riad.
Saudiarabien hoffte, bei dieser Tagung (es gab im letzten Jahr bereits eine Art Vorkonferenz) konkrete Zusagen von ausländischen Investoren zu erhalten. Die Zeit drängt – nach dem Willen von MbS soll Neom ab 2025 irgendwie sichtbar werden, ab 2030 dann die Welt schon durch ganze Stadtbereiche beeindrucken. 2030 ist ja, gemäss MbS, ein Schicksalsjahr für Saudiarabien: bis dann müsste das Land in seinem Wesen umgewandelt sein. Weg von der Abhängigkeit vom Erdöl (jetzt beansprucht der Erdölsektor, Binnen- und Aussenwirtschaft zusammen gerechnet, mehr als 85 Prozent der Wirtschaftsleistung), hin zu einer Dienstleistungsgesellschaft.
Ist das machbar, wurde MbS immer wieder gefragt. Ja, antwortete er – denn die Gesellschaft werde jetzt rasant und konsequent umgebildet. Wie? Frauen dürfen Autofahren. Es gibt Kinos. In Einkaufszentren ertönt Musik. In einzelnen Hochschulen dürfen Frauen direkt oder indirekt (in diesem Fall übertragen von einem Raum in den anderen) an Vorlesungen teilhaben. Nur: wenn Frauen oder Intellektuelle wirkliche Reformen verlangen, landen sie schnurstracks im Gefängnis. Konkret: die paar Schritte hin zu einer liberaleren Gesellschaft werden konterkariert durch Repression und Brutalität. Die Ermordung Kashoggis war (bisher, wer weiss, was noch kommen wird) das krasseste Beispiel des menschenverachtenden Vorgehens Saudiarabiens unter MbS.
Fast schon vergessen ist, dass das Regime vor rund zwei Jahren den libanesischen Premier Hariri als Geisel nach Saudiarabien entführte – die Affäre endete nur dank dem Eingreifen des französischen Präsidenten Macron. Qatar erklärt, glaubwürdig, dass Saudiarabien mindestens vier seiner Staatsbürger gefangen halte. Nicht beendet ist die Sado-Bestrafung des saudischen Menschenrechts-Aktivisten Badawi, der scheibchenweise tausend Peitschenhiebe erhält. All das sind wohl eher zufällige Beispiele für das Verhalten des Regimes – niemand weiss, was sich dort abspielt, wo keine internationale Beobachtung stattfindet.
Unerwartet im Interesse der Weltöffentlichkeit
Verständlich, dass Saudiarabien mit Irritation zur Kenntnis nimmt, dass jetzt viele ausländische Manager, auch sehr viele Politiker, sich entschlossen haben, die für das Land so wichtige Investorenkonferenz zu boykottieren. Heisst das, dass das für die Superstadt Neom erwartete Geld nicht fliessen wird?
Nun, da ist wohl das letzte Wort noch nicht gesprochen – bisher erwies sich, dass die Aussichten auf Gewinn allfällige humanitäre Bedenken übertrumpft haben. Das saudische Regime jedenfalls wird alles nur Denkbare tun, um seinen Kronprinzen rein zu waschen und die Rückkehr zum courant normal in den internationalen Beziehungen herbei zu führen. Das Regime wird da auch keine Mühen und Kosten scheuen – man bedenke nur schon, dass Saudiarabien im Jahr 2017 volle 27 Millionen Dollar einzig für Lobbying in Washington aufgewendet hat. Und was sind schon ein paar Millionen im Vergleich zur gesamten finanziellen Macht des Königreichs? Solange sich die Macht nicht in Ohnmacht verwandelt, ist es fast quantité negligeable.