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Das Uganda-Feature (I)

von Claus Folger, September 2018
„Wir, die Bewohner der Wohlstandsinsel Europa, sind die Hehler und Stehler des Reichtums der sogenannten Dritten Welt. Auf deren Kosten und Knochen haben wir uns bereichert (…)“, schrieb neulich der ehemalige CDU-Minister Norbert Blüm in der Süddeutschen Zeitung. Die Erste Welt macht die Dritte Welt kaputt?! Stimmt das? 

„Es ist wie das Paradies Gottes“, antworte ich ernsthaft auf die Frage eines Einheimischen, der wissen möchte, wie mir die kleine Insel Bussi am Victoriasee in Uganda gefällt. Trotz Kahlschlags des einst dichten Regenwaldes, um Holz und Holzkohle für die Menschen auf dem Festland zu gewinnen, bin ich begeistert. So schön ist Uganda, so überschießend die Natur. Tiere nah und unmittelbar, Früchte und Gemüse, das den Menschen aus den Ohren zu wachsen scheint und ein Klima, das alles toppt. Keiner leidet unter Hitze wie wir in Deutschland. Es braucht auch keine energiefressenden Klimaanlagen wie in Saudi-Arabien. Und es ist auch nie zu kalt, um heizen zu müssen. Eigentlich dürfte es in Uganda keinen Hunger und keine Energieprobleme geben! Doch ist Uganda in punkto Energiegewinnung hoffnungslos zurückgeblieben, so dass es auch heute noch ca. 90% seines Energiebedarfs durch Holz und Holzkohle decken muss. Im Industriesektor steigt der Nutzholzverbrauch rasant, weil Holz z.B. zur Herstellung von Zement, PVCs, Farbe etc. benötigt wird.
Als Konsequenz holzt Uganda seine Wälder massiv ab. Laut des Wasser- und Umweltministeriums verliert Uganda jedes Jahr 100.000 Hektar. Die Bewohner bleiben ohne Wasserressourcen. Dürre und Überschwemmungen drohen. Außerdem weist die Regierung zunehmend Plantagen aus, z.B. für die Produktion von Palmöl, anstatt die Nahrungssicherheit für die eigene Bevölkerung sicherzustellen. Die Zeitung NEW VISION verweist auf den letzten National-Food-Security-Assessment-Report, wonach im Januar 2017 fast elf Millionen Ugander unter einer Nahrungsmittelkrise litten. Kann ein derart fruchtbares Land noch schlechter verwaltet werden? Präsident Museveni wollte sogar ein Drittel von Mabira Forest, des größten Regenwaldes in Uganda, für Zuckerrohr kahlschlagen lassen, um die wirtschaftliche Zukunft Ugandas sicherzustellen. 
Uganda hat keine Zukunft, wenn die Regierung mit multinational aufgestellten Unternehmen kooperiert und der eigenen Bevölkerung das Land wegnimmt, um für den Export produ­zie­ren zu lassen. Dazu spekulieren in Erwartung von ausländischen Investoren reiche Ugander mit Land und treiben ihre Landsleute, die sich bislang durch Subsistenzwirtschaft ihr Auskommen sicherten, in den Hungertod. So zerstört die Gier der wenigen – der Politiker, die in die eigene Tasche wirtschaften (oder warum gibt es immer wieder Berichte, nach denen Regierungssoldaten gewaltsam an der Vertreibung der lokalen Bevölkerung mitwirken?), der Investoren und Spekulanten – die Lebensgrundlage für hunderttausende Menschen. 
Überhaupt scheint es mit der Loyalität der Ugander untereinander nicht sehr weit bestellt zu sein. Nicht genug, dass laut eines Menschenhandel-Reports des US-Außenministeriums hohe Regierungsstellen in Menschenhandel involviert sind. Die Wochenzeitung The EastAfrican berichtet von Zuständen in Uganda, wie sie sonst nur für den Kongo und für den Süd-Sudan vorstellbar wären. Demnach verkaufen reiche und alte Ugander tausende Jugendliche mit dem Versprechen auf Jobs an Sklavenhändler im Mittleren Osten, wo sie unter entwürdigenden Umständen an ihrer Arbeit zugrundegehen. Kann eine Gesellschaft noch tiefer sinken, wenn die Alten bereits die Jungen verraten und verkaufen? 
„Verrat scheint in der DNA Ugandas eingezeichnet zu sein“, meint die Zeitung und bezieht sich dabei nicht nur auf die Ehefrauen, die das Gehalt ihrer Ehemänner für ihre Liebhaber verprassen, während jene als Soldaten gegen militante Islamisten in Somalia kämpfen. Es geht immerhin um die Gründung des modernen Uganda um 1900. Dabei verschleppten hochrangige Beamte MwangaII, den letzten souveränen König von Buganda, um dessen Königreich herum die Briten den ugandischen Staat formten, installierten an seiner Stelle einen Babykönig und rissen anschließend tausende Quadratkilometer Land an sich, indem sie behaupteten, der Babykönig habe es ihnen gegeben. 
Wie die ugandischen Medien mit dem eigenen Land ins Gericht gehen, ist sehr erfrischend. Bei Wikipedia heißt es lediglich: Der nach der Flucht vakante Thron von Buganda wurde mit dem erst einjährigen Sohn Mwangas Daudi Chwa II. besetzt, dessen Amtsgeschäfte von drei von den Briten eingesetzten Ministern geführt wurden. Verschleppung von den eigenen Leuten oder Flucht vor den Briten? Wer sagt die Wahrheit?
Sub-Sahara Afrika ist von einer Vielzahl unterschiedlicher Ethnien, Königreiche und Clans gekennzeichnet, wobei für die Mitglieder des eigenen Clans, die sich eine Abstammungslinie zu einem gemeinsamen Vorfahr einbilden, immer zuerst gesorgt wird. Nachdem unter der Herrschaft Obotes 1967 die Königreiche in Uganda quasi abgeschafft wurden, rehabilitierte der aktuelle Präsident Museveni ab 1986 vier Königreiche. Buganda, das größte Königreich, setzt sich mittlerweile aus 52 Clans – ursprünglich gab es in Buganda fünf Clans – zusammen, wobei jeder Clan ein Totem als Symbol hat. Ich besuche seinen ehemaligen Königspalast in der Hauptstadt Kampala. Mein Guide betont die vorwiegend kulturelle, traditionelle, also eher harmlose Rolle der Königreiche für Uganda, widerlegt sich aber selbst mit seiner Aussage, dass im Laufe der Geschichte die meisten Könige gestürzt wurden und viele von ihnen skrupellose Mörder waren. 
Es wird oft argumentiert, dass viele politische Probleme in Sub-Sahara Afrika daher rühren, dass diese Länder unter völliger Missachtung von lokalen politischen Traditionen und ethnischen Gruppierungen von Europäern kreiert wurden. Dazu müsste man belegen, dass diejenigen afrikanischen Staaten, die ihre Wurzeln in vorkolonialen Königreichen haben, frei von politischen Unruhen waren. Am Beispiel Ugandas wird dies schon einmal nicht gelingen. Ist es sogar die Fortführung einer alten Tradition, dass die Ugander seit ihrer Unabhängigkeit 1962 keinen friedlichen Machtwechsel hinbekommen haben?
Mein Stadtführer ist der Auffassung, dass es in Uganda 56 Stämme gebe, „mehr als in jedem anderen afrikanischen Land“. In Ruanda seien es mit den Hutu und Tutsi dagegen nur zwei. Dies ist zu hinterfragen. Werfen wir daher einen Blick auf die Ermordung der Tutsi durch die Hutu 1994 in Ruanda, die als Völkermord bezeichnet wird. Nach Artikel II a.) der UN-Völkermordkonvention versteht man darunter die Tötung von Mitgliedern einer nationalen, ethnischen, rassischen oder religiösen Gruppe. In der Vorkolonialzeit jedoch wurden als Hutu die Menschen in der Landwirtschaft bezeichnet, als Tutsi die wohlhabendere Gesellschaft, die Land und Vieh besaß. Durch sozialen Auf- und Abstieg waren die Grenzen fließend. Tutsi und Hutu hatten dieselbe Religion und Sprache. Sie waren also keine verschiedenen Ethnien, sondern der soziale Status eines gemeinsamen Volkes. Nach dem Selbstverständnis der vorkolonialen Zeit kann es somit 1994 keinen Völkermord gegeben haben. Die Ethnizität/der Stammeskonflikt als Erklärungsmodell für den sogenannten Völkermord scheidet daher aus. 
Heute pflegen Europäer keine rassenideologischen Ansätze mehr wie zur Kolonialzeit. Es gibt keine Kolonialherren mehr, die ethnische Unterschiede der Ruander voraussetzen. Vielmehr verstehen im 21. Jahrhundert Ethnologen und Anthropologen die Einwohner Ruandas als ein einziges Volk, die Abanyarwanda, die – wie auch schon vor der Einwanderung der Europäer – dieselbe Sprache sprechen: das Kinyarwanda.
Auch wenn der Vergleich zu Ruanda hinken sollte, kann ich die Idee, dass es im 
21. Jahrhundert in Uganda 56 Stämme geben soll, nicht ernstnehmen. Für mich ist das ein abstammmungsideologisches Konstrukt. Ein Beispiel aus Ghana: Als ich die dortige Hauptstadt Accra besuchte, empfand ich die Bevölkerung als sehr homogen. Bis auf ein paar weiße Einsprengseln sahen aus meiner Perspektive schließlich auch alle Menschen sehr ähnlich aus. Alle sprechen Englisch. Nun traf ich in Frankfurt eine Bekannte aus der Ashanti-Region in Ghana, die sich, wie sie mir erzählte, in Accra überhaupt nicht wohlfühlte. Sie verbindet die Geschäftsstadt Accra vielmehr mit multikulturellem Chaos, da sie im Gegensatz zu mir die einzelnen Stämme mit ihren jeweiligen Sprachen herausdestilliert. Im Vergleich zu Accra ist eine Stadt wie Frankfurt allerdings 1000 Mal so international bzw. multikulturell. 
Dass Stämme in Afrika überbewertet werden, sieht auch The EastAfrican so. Die Zeitung stellt die Frage: Was würde sich alles ändern, wenn wir es ablehnen würden, uns auf der Grundlagen von Stämmen mobilisieren zu lassen und stattdessen Allianzen auf der Grundlagen von gemeinsamen Interessen bildeten? Und was würde sich ändern, wenn wir aufhören würden zu denken, dass unser Stamm, unsere Religion und unser Geschlecht den anderen überlegen ist und wir stattdessen Bündnisse auf der Basis unseres Charakters schließen würden?
Das unmoderne Uganda steht eher für Sektierertum und Stammesdenken als für Loyalität zum eigenen Land. In Kampala erfahre ich, dass Inder eher schlecht gelitten sind, da sie die Einheimischen als billige Arbeitskräfte ausbeuten sollen. Um die Wirtschaft voranzubringen, holten die Briten die ersten Inder gegen 1900 ins Land. Sie fügten sich schnell ein in die koloniale Hierarchie, in der sie zwar unter den Briten, aber über den Afrikanern standen. Um ihre privilegierte Stellung zu behalten, blieben sie unter sich, Freundschaften mit Afrikanern gab es kaum, Hochzeiten schon gar nicht. Diktator Idi Amin enteignete die Inder, die etwa 80% der Wirtschaftskraft des Landes ausmachten, und jagte sie als „asiatische Blutsauger“ 1972 aus dem Land. Einige sind mittlerweile wieder zurückgekommen, darunter der Hotelbetreiber Sadrudin Alani. Er hat auch gleich eine Idee, wie man Inder, der er für deutlich geschäftstüchtiger als Afrikaner hält, „besser integrieren“ kann. Sie sollen endlich als eigener Stamm anerkannt werden – es wäre der 57. in Uganda. Wie alle anderen Stämme hätten auch sie dann das Recht, Repräsentanten ins Parlament zu entsenden.
Ein Exkurs
Ein sehr plastisches Beispiel für eine falsche Denkweise ist auch Israel, denn dort haben die Zionisten – nach der Verabschiedung des umstrittenen Nationalstaatsgesetzes, das Israel als Nationalstaat des jüdischen Volks identifiziert mit Hebräisch als alleiniger Nationalsprache und dem Selbstversprechen, dass der Staat die Gründung und Konsolidierung seiner rein jüdischen Siedlungen fördern wird – endgültig eine Religionsgemeinschaft zu einem aggressiven Stamm mit territorialen Ansprüchen umdefiniert. Juden finden sich schon wieder auf der anderen Seite der Mauer wieder. Nur dieses Mal sind es nicht „böse“ Christen wie diejenigen, die im deutschsprachigen Raum seit dem Mittelalter für Juden abgeschlossene Stadtviertel vorsahen. Es ist ihr eigener Apartheidstaat, der sie von ihren Mitmenschen trennt! Ohne eine ausgeprägte und gelebte Stammesideologie ist ihr über Jahrhunderte ausdauernder Hang zur Selbstisolierung nicht nachvollziehbar. 
Ein „Juden-Gen“ als Fakt gibt es heute vorwiegend in der jüdisch-israelischen Gesellschaft. In Deutschland hat man nach 1945 damit aufgehört, die Menschen in Rassen einzuteilen. Abgesehen von denjenigen Christen, die es heute als ihre christliche Pflicht ansehen, das „auserwählte Volk“ und das ihm zugeschriebene Land zu schützen. 
Fortsetzung folgt (…)