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„Wo Bekanntschaften fehlen, machen sich Vorurteile breit“

von Ismail Karadöl, Islamiq, 17. März 2018. Rassismus,
Hass und Vorurteile umringen uns. Wie können wir Vorurteilen entgegentreten und
wie entstehen sie überhaupt? Ismail Karadöl versucht in die Mechanismen der
Vorurteilsbildung zu blicken und sie zu brechen.


Nur mit Begegnungen kann man Vorurteile bekämpfen. ©
shutterstock

Es ist mitten in der Nacht und du
kannst nicht schlafen. Du stellst dich vor das Fenster deines Zimmers und
wirfst einen Blick auf die Straße. Plötzlich bemerkst du einen Transporter, der
auf den Gehweg fährt und dort stoppt. Ein Mann steigt aus dem Wagen, geht in
Richtung Hauswand, greift sich dort ein Fahrrad, hebt es hoch. STOP! Wir
drücken jetzt mal kurz auf unsere mentale Pause-Taste. Was meinst du, was da
gerade passiert?

„Fahrraddieb“, „Polizei“
Was ich beschrieben habe, ist ein
wahres Erlebnis. Aber die Geschichte geht noch weiter. Es ist schon lange her,
da hörte ich tief in der Nacht, mitten im Schlaf, nebenan im Zimmer meinen
Vater lauthals schreien: „Fahrraddieb“, „Polizei“! Er hat nämlich genau das
gesehen, wovon ich berichtet habe. Er dachte sich: „Das gibt´s doch nicht. Da
will jemand unbemerkt im Dunkeln Fahrräder klauen. Ich muss was tun“.
Das hat ihm zumindest sein Gehirn so
vorgespielt. Denn unser Gehirn ist ein zuverlässiger Produzent von kleinen
Filmchen. Es reichen ihm meist nur 2-3 Bilder, um daraus einen Film zu machen.
Aus der Perspektive des Schutzes für einen Menschen bietet das natürlich
Vorteile. Aber das ist nichts Neues. Wir bilden uns ständig unsere ganz eigene
Meinung über die Dinge, die wir wahrnehmen, und handeln nach diesen Urteilen.
Wenn Gerechtigkeit zu
Ungerechtigkeit führt
Die meisten, denen ich diese
Geschichte erzähle, denken wie mein Vater. Und viele würden ähnlich handeln,
denn der Mensch hat einen angeborenen Gerechtigkeitssinn. Aber was passiert,
wenn der Drang, Gerechtigkeit walten zu lassen, zu einer Ungerechtigkeit führt?
Jedenfalls war es in Wirklichkeit nicht so, wie mein Vater es in dem Moment
vorgespielt bekommen hat. Wir drücken wieder auf die Play-Taste und sehen mal,
wie es weiter geht.
Der Mann mit dem Fahrrad in der Hand
geht bis zum Straßenrand und stellt es dort ab. Er steigt wieder in seinen Van,
fährt damit ein Stück auf dem Bürgersteig und parkt in eine Ecke, die er nur
über den Gehweg erreichen kann. Steigt dann wieder aus, nimmt das Fahrrad vom
Straßenrand und stellt es wieder dorthin, wo es anfangs gestanden hat. Er geht
unbeeindruckt von meinem Vater zur Haustür seiner Wohnung. Mein Vater staunt
und macht gesenkten Hauptes das Fenster zu.
Der Mann war also kein Fahrraddieb,
sondern ein neuer Nachbar, den mein Vater noch nicht kannte. Dieser Nachbar
hatte nach seiner Spätschicht keinen Parkplatz gefunden und wollte sein
Fahrzeug in eine freie Ecke auf dem Bürgersteig stellen. Doch konnte er nicht
zwischen Hauswand und Baum durchfahren, da dort ein Fahrrad stand. Deshalb hat
er es vorsichtig beiseite gestellt, ist durchgefahren und hat es dann wieder
zurückgestellt.

Schutzmechanismus
Wir schließen aus einem
Schutzmechanismus viel zu schnell und viel zu voreilig auf Dinge, die nicht der
Realität entsprechen. Es sind unsere Gefühle, die in diesem Moment die Oberhand
übernehmen. Nicht selten ist es die Angst in uns. Unsere Sorgen und
Befürchtungen. Angetrieben von ihnen dichten wir uns mit schnellen Vorurteilen
unsere eigene Meinung zusammen und handeln auch danach.
Wäre es oft nicht besser, wir würden
ein wenig abwarten und sehen, was passiert? Wäre es nicht besser, wenn wir erst
einmal klar über die Situation nachdenken, bevor wir unsere Meinung bilden und
handeln?
Was wäre noch hilfreich, um
Vorurteile auszuräumen und sich eine gesunde Meinung von Menschen in unserem
Umfeld zu bilden? Natürlich, die Beziehung zu den Menschen. So, wie wir im
Dunkeln sehr vorsichtig sind, weil wir die Lage nicht einschätzen können, uns
vorstellen, wie wir jederzeit gegen eine Wand laufen oder eine Treppe
hinunterstürzen, so ist es auch in unseren Beziehungen, wenn wir andere im Dunkeln
über uns lassen. Sie werden sich uns nur sehr vorsichtig nähern. Was aber, wenn
jetzt auf einmal das Licht angeknipst wird und man sehr klar sehen kann, wohin
der Weg führt?
„Wo
Informationen fehlen, machen sich Gerüchte breit“
, sagt ein bekanntes Sprichwort. Oder an unser Thema angepasst: „Wo
Bekanntschaften fehlen, machen sich Vorurteile breit“.
Was wäre, wenn mein Vater diesen
neuen Nachbarn gekannt hätte, ihn zumindest mal gegrüßt hätte oder wenigstens
wahrgenommen hätte, dass dieser neu in die zweite Etage des gegenüberliegenden
Hauses eingezogen ist? Ich bin mir sicher, dann hätte sich mein Vater in jener
Nacht etwas entspannter verhalten. Ja, er hätte die Situation beobachtet, aber
keine voreiligen Schlüsse gezogen.

Was können Muslime machen?
Auch wir Muslime sind u. a. wegen
unseres Glaubens ständig Vorurteilen ausgesetzt. Einige von uns haben sehr hart
damit zu kämpfen, egal ob im beruflichen Alltag, in der Schule oder in der
Straßenbahn.
Aber was machen wir? Uns nur
beschweren, wie gemein doch alle sind, oder endlose Diskussionen darüber
führen, welchen Beitrag die Medien oder Politiker zum Keimen dieser Vorurteile
geleistet haben? Nein, wir packen unsere Taschenlampen aus und bringen Licht
ins Dunkle. Wir tun das, was wir als Mensch am besten können:
  • Wir sprechen mit den Menschen in unserem Umfeld.
  • Wir lernen diese Menschen kennen.
  • Wir grüßen sie.
  • Wir lächeln ihnen zu.
  • Wir helfen ihnen.
Du wirst sehen, dass das beste
Mittel gegen Vorurteile in einer Gesellschaft eine gesunde Beziehung zu deinen
Mitmenschen ist.