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Schulische Inklusion – ein Artikel von Amelia Massetti


von Amelia Massetti, Il Mitte, 6. Dezember 2017. Deutsche Übersetzung von Milena Rampoldi, ProMosaik. 
  

Der Verein Artemisia e.V. Inklusion für alle basiert auf dem
Grundsatz der Inklusion und seiner Umsetzung in Deutschland, auch indem man
Bezug auf das didaktische System nimmt, das seit mehr als 40 Jahren in Italien
experimentiert wird.

Italien hat eine wahre Revolution durchlebt. Dank der Initiative des
Psychiaters Franco Basaglia wurde das Gesetz Nr. 180 vom 13. Mai 1978
erlassen, das die Schließung der psychiatrischen Krankenhäuser in die Wege
leitete und dann auch die Sonder- oder Differenzialschulen jener Zeit schloss.

Italien war weltweit wegweisend für die Abschaffung
der psychiatrischen Krankenhäuser.


Diese Entwicklung begann mit der Einrichtung von Aufnahmemodalitäten für
jegliche Diversität auf der Grundlage des grundlegenden Ansatzes der Inklusion.

Im Laufe der Jahre wurden verschiedene didaktische Inklusionsansätze experimentiert.
In diesem Rahmen wurden Möglichkeiten der kognitiven Entwicklung der Menschen
mit verschiedenen Fähigkeiten hervorgehoben. Der Pädagoge der
Inklusionsdidaktik Dario Ianes bestätigt unter anderem, dass die „Heterogenität
der Hauptschlüssel ist, der entdeckt, bewertet und genutzt werden muss
”.

Prof. Dr. Clemens Dannenbeck meint: „Die Inklusion ist kein
(visionärer) Zustand, sondern ein dauernder Reflexionsprozess.“

Gerade die Vision und ihre dauernde Überarbeitung versetzen den Menschen in
die Lage, sein Denken zu erweitern und nach innovativen Modalitäten zu suchen,
die ihn erheben, indem er seine Individualität überbrückt, um sich dann mit
seiner Diversität als Teil der Gemeinschaft zu fühlen, ohne von dieser
ausgeschlossen zu werden.

Artemisia e.V. Inklusion für alle ist nicht nur
ein Beratungs- und unterstützendes Netzwerk, das Eltern italienischer und nicht
italienischer Kinder mit und ohne Behinderung aufnimmt, sondern auch eine
Netzwerk für Menschen mit Behinderung und Fachleuten in Deutschland, die gegen
Diskriminierung und Ausgrenzung ankämpfen.

Wir haben von der fehlenden Aufnahme eines italienisch-deutschen Mädchens
mit Down-Syndrom in einer zweisprachigen Schule in Berlin erfahren. Wie ist
dies möglich, ohne dass sich die Familie widersetzen kann oder diesen
Ausschluss offen denunzieren darf?

In den zweisprachigen deutsch-italienischen Schulen in Berlin sind die
Lehrer teilweise italienischer Muttersprache und verfügen über eine didaktische
Ausbildung im Sinne der Inklusion, die sehr wichtig für Deutschland ist. Warum
übernehmen diese Schulen nicht das Inklusionsmodell aus einem Land, das über
mehr Erfahrung auf diesem Gebiet verfügt? Falls der Lehrer während seines
Studiums die Inklusion angestrebt hat, in der das Recht auf Teilnahme aller
Menschen betont wird, wie kann er diese Inklusion dann in einem anderen Land in
Frage stellen, ohne seine Berufsethik auszuklammern?

Ich frage mich, ob das Ganze nicht auf einen politischen Druck
zurückzuführen ist, den man in Italien offen ansprechen sollte. Denn
wahrscheinlich befürchten diese Lehrer, in Deutschland ihren Arbeitsplatz zu
verlieren. Und diese negative Situation schadet dem Prozess der europäischen
Vereinigung, im Rahmen dessen alle Menschen respektiert und die gegenseitigen
Erfahrungen und Kompetenzen der verschiedenen Länder aufgewertet werden, um die
Lebensqualität nicht nur der Menschen mit Behinderung, sondern der gesamten
Gesellschaft zu verbessern.

Eine Gesellschaft, die sich nicht um die Rechte der Menschen mit
Behinderung kümmert und die schwache Schichten einfach ausschließt und in ein
anderes, getrenntes System packt, ist keine bessere Gesellschaft. Der Zweck der
EU besteht nicht in der Trennung und Differenzierung von Völkern und
Gruppierungen. Denn die Aktivierung der vorhandenen Ressourcen im Rahmen der
Inklusion ist die Hauptaufgabe derer, die diese Befugnisse innehaben und sie
somit managen könnten. Aber wir befinden uns in einem Land, in dem die Aufnahme
von Menschen immer noch ein komplexes und schwieriges existentielles Dilemma
ist. Wir wünschen uns als Verein somit einen offenen und vergleichenden Dialog
zwischen den italienischen Lehrern, die in Deutschland arbeiten, und den
deutschen Schulbehörden. Und dieser Dialog muss sobald wie möglich in die Wege
geleitet werden, um zu vermeiden, dass die rechtsradikalen Kräfte, die aus den
letzten Wahlen so stark hervorgegangen sind, die Errungenschaften aufheben, die
nach einem so langen Kampf erreicht wurden und die in der gesellschaftlichen Teilnahme
aller Menschen, und so auch der Ausländer, worunter der Italiener, bestehen.
Die Italiener gehörten außerdem zu den Gründervätern der EU. Man denke nur an
Alcide De Gasperi und Altiero Spinelli, die ihre Verfassung schrieben.

Wenn wir wirklich eine progressive Kraft sein möchten, so ist es nun an der
Zeit, dies laut zu bestätigen. Und diese Bestätigung soll vor allem von den
schwachen Schichten ausgehen. Diese müssen sich aber vertreten und Teil eines
Veränderungsprozesses fühlen. Die Inklusion ist ein werdender Verlauf und nicht
eine statische Behauptung auf dem Papier. Um dies zu tun, müssen alle menschlichen
Kompetenzen und Ressourcen aktiviert werden, die wirklich daran glauben.

Die UN-Konvention für die Rechte der Menschen mit Behinderung, die von 50
Nationen (nicht aber von den USA) unterzeichnet wurde, verpflichtet alle
Vertragspartner, dafür Sorge zu tragen, um die „vollständige und
wirkungsvolle Teilnahme und Inklusion der Menschen mit Behinderung in der
Gesellschaft“
zu fördern.

2010 hat die EU diese Konvention ratifiziert und festgelegt, dass innerhalb
2020 in der Europäischen Gemeinschaft alle Sonderschulen geschlossen werden
müssen und dass sei es die motorische als auch die ausbildungstechnische
Teilnahme und Zugänglichkeit der Menschen mit Behinderung gefördert werden
muss.

Unter Zugänglichkeit versteht man die „Kapazität der EDV-Systeme, in den
durch die technologischen Kenntnisse zugelassenen Formen und Grenzen, Dienstleistungen
zu erbringen und nützliche Informationen zu übermitteln, und dies ohne jegliche
Diskriminierung derer, die aufgrund einer Behinderung unterstützende
Technologien oder besonderen Konfigurationen benötigen“.

Leider schiebt man des Öfteren die Ausreden vor, es fehle an Personal und Finanzmitteln.
So wird den Familien in Deutschland und oft auch in Italien dieses Recht auf
Zugänglichkeit verwehrt.

Die rechtsradikalen Gruppierungen widersetzen sich der UN-Konvention über
die Inklusion und sprechen von der Unmöglichkeit ihrer Umsetzung in
Deutschland, indem sie behaupten, sie würde das deutsche Schulsystem gefährden.

Der Kölner Hochschullehrer Michael Felten
veröffentlichte 2017 das Buch „Die inklusionsfalle – Wie eine gut gemeinte
Idee unser Bildungssystem ruiniert“
.

Im Februar wird in einer Tagung zum deutschen
Schulsystem über den Misserfolg der Inklusion debattiert. Anstatt zu versuchen
zu verstehen, welche Wege man einschlagen sollte, um das Recht auf Teilnahme
und Gleichberechtigung zu verbessern, läuft Deutschland die Gefahr, in eine
Kultur der Trennung und Teilung und somit der Errichtung von Mauern zurückzufallen.

Die Tatsache, dass man Rechte auf dem Papier
zugesprochen bekommt, heißt noch lange nicht, dass diese auch angewendet werden.

Erfahrungen der Diskriminierung führen zu einer
Menge von Emotionen wie Zorn, Entmutigung, Isolation und Stummheit.

Die Menschenrechte sind universell, unteilbar,
unveräußerlich und bedingen sich gegenseitig und stehen untereinander in einem unzertrennlichen
Zusammenhang. Sie hängen nicht von Bedingungen und Fähigkeiten ab. Sie dürfen
niemandem genommen werden. Denn ihre Grundlage ist die Würde des Menschen.

Wir möchten Sie herzlichst zu unserem neuen Treffen
in Zusammenarbeit mit dem CitizenKcenter
einladen, wo der Verein Artemisia e.V.
Inklusion für alle
mit
den Referentinnen und Anwesenden die Entwicklungen in Deutschland seit 2009 und
das neue schulische Inklusionsprojekt des Senats von Berlin von Anfang 2017 besprechen
wird.

Wann: Dienstag, 12. Dezember 2017, 18 Uhr

Ort: Lychener Straße 53 10437 Berlin.

Wegbeschreibung: U2 Eberswalder oder Straßenbahn 12.

Thema: Von der Theorie zur Praxis: das schulische Inklusionsprojekt in
Berlin

Einführung: Amelia Massetti Präsidentin von Artemisia e.V. Inklusion
für alle

  Inklusion: die UN-Konvention

Referenten: Alice Marchetto, Vize-Präsidentin von Artemisia e.V.
Inklusion für alle

  Das schulische Inklusionsprojekt in Berlin

Cordula Derwisch: Mitglied von Artemisia e.V. Inklusion für alle

  Von der Theorie hin zur Praxis – Förderschwerpunkte, ein neues Inklusionsmodell
in Berlin

Am 10.
Dezember 2017
um 11 Uhr endet beim Klick Kino die Reihe der
Filmvorführungen „Kino und Vielfalt“ mit dem Film „La Pazza Gioia“ von
Paolo Virzì

An der
Debatte werden der Schauspieler Tommaso Ragno und die Psychiaterin Luciana
Degano
, Gründerin des Vereins Salutare in Berlin, teilnehmen.

Ein Vertreter
des Italienischen Kulturinstituts wird bei der Filmvorführung anwesend sein.