Ägypten: Rückblick auf ein Gemetzel
von Rabha Attaf, Tlaxcala, deutsche Übersetzung von Milena Rampoldi. Es handelt sich um den brutalsten Anschlag, der in der jüngsten Zeit in Ägypten verübt wurde. Die Bilanz ist schwerwiegend: den ägyptischen Behörden zufolge gab es 305 Tote, wovon 27 Kinder, und 128 Verletzte.
An diesem Freitag, den 24. November 2017, umkreisten vierzig maskierte Männer mit militärischen Uniformen, während die Gläubigen in der Moschee Al-Rawda in Bir Al-Abd, einem Dorf von ungefähr 2.500 Einwohnern im Norden der Sinaihalbinsel, beteten, das Ort mit vier Fahrzeugen. Nach der Explosion einer Bombe im inneren Bereich des Gotteshauses schossen sie mit automatischen Gewehren auf die Menschen in der Moschee; aber auch draußen wurde auf alle geschossen, die zu fliehen versuchten. Daraufhin steckten die Angreifer die Fahrzeuge in Brand, um die Straßen zu blockieren und flohen dann, als die Armee eintraf. Der Angriff dauerte nur 20 Minuten. Einer Zeugenaussage zufolge, die über die Webseite Mada Masr veröffentlicht wurde, stammten die meisten, in der Moschee betenden Gläubigen aus den Ortschaften von Scheikh Zuweid und Rafah.
Die genau durchgeplante Handlungsweise des Kommandos lässt wohl einige Fragen offen. Und dies vor allem, weil sich bis heute noch niemand zu diesem Attentat bekannt hat. Die ägyptischen Behörden haben sich darum bemüht, einen Schuldigen zu finden, und zwar den „Islamischen Staat der Provinz Sinai“. Der offiziellen Version zufolge handelt es sich hierbei um eine Untergruppe der Ansar Beit Al-Maqdis (Die Partisanen von Jerusalem), die im August 2013 al-Qaida den Treueeid schwuren und dann 2014 zum IS wechselten. Es gibt natürlich keine Beweisquelle für diese Mutation, außer den ägyptischen Mukharabat (Geheimdiensten).
Die Ägypter lassen sich aber nicht täuschen. In den sozialen Medien klagen sie die republikanische Garde an, auch wenn die Angreifer während ihres bis auf die Sekunde durchplanten Angriffs eine IS-Flagge schwenkten, um eine Täterschaft nachzuweisen und so auch die anderen Pisten zu verwischen. Das Ganze erinnert an das gefürchtete grüne Regiment („katiba Al-Khadra“), das in Algerien wütete und u.a. für die Massaker von Bentalha, Rais und Beni-Messous vom August und September 1997 verantwortlich war und deren Überlebende vollkommen beängstigt bis in die Vororte von Algier flohen. Nachdem das Staunen vorüber war, offenbarten die Zeugenberichte der Militärs, die aus Algerien flohen, schlussendlich, dass diese Terrorgruppe von der algerischen DRS (militärischen Nachrichtendienst) fabriziert wurde, um, gemäß dem Prinzip der französischen Militärdoktrin des Krieges zwecks Aufstandsbekämpfung (Counterinsurgency), die Rebellengruppen der FIS (des militärischen Arms der FIS nach dem Militärputsch vom Januar 1992) vom Rest der Bevölkerung zu isolieren.
Wie dem auch sei: sicher ist, dass die Ansar Beit Al-Maqdis im Sinai erst nach der „Revolution vom 25. Januar 2011“ auftauchte. Die ersten bewaffneten Aktionen betrafen den gleichzeitigen Angriff gegen den ägyptisch-israelischen Grenzposten Kerem Shalom, in der Nähe der südlichen Spitze von Gaza, und die Sabotagen der Gasleitungen, die Israel und Jordanien versorgen. Die Gruppe der Ansar Beit Al-Maqdis hat sich seitdem darauf beschränkt, sich zu den tödlichen Angriffen gegen die Polizeistationen oder die ägyptische Armee sowie gegen die Transporte der Beamten zu bekennen. Dutzende Polizisten und Soldaten wurden in Hinterhalten und Autobombenanschlägen ermordet. Seit dem Putsch von Marschall al-Sissi entstanden andere bewaffnete Gruppen im Norden der Sinaihalbinsel und im Besonderen im Dreieck zwischen den Städten El-Arisch, Rafah und Scheikh Zuweid. Es handelt sich hierbei um eine Wüstenregion mit einem reduzierten Umfang, in der sich die Bevölkerung in einem dauernden Aufstand gegen die Zentralregierung befindet und brutal unterdrückt wird, weil sie als Komplizin der „Dschihadisten“ und Partisanen des ehemaligen Präsidenten Morsi angesehen wird, die sich der Verhaftung entzogen. Diese letzteren führen hier einen wahren „Guerillakrieg“ gegen die Armee, die in die Region eingesetzt wurde. Seit Oktober 2014 wurde der Notstand in der gesamten Region des nördlichen Sinai ausgerufen. Sogar Journalisten dürfen nicht dahin reisen. Es sei an dieser Stelle hervorgehoben, dass die Ortschaft von Bir Al-Abd, wo sich das Gemetzel in der Moschee ereignete, in einer Entfernung von nur 40 Kilometern von El-Arisch, dem Hauptort des Nordsinai, liegt, wo sich eine wichtige Militärkaserne befindet.
Die dritte Infanteriearmee befindet sich dauerhaft auf dem Sinai, im Besonderen im Norden und der Grenze zu Gaza und Israel entlang. Die ägyptische Armee, die pro Jahr einen Zuschuss von 3 Milliarden von den USA erhält, gilt als eine der besttrainierten Armeen der Welt. Seit 1981 organisiert der Pentagon jede zwei Jahre ein großes Manöver in Ägypten, das sogenannte Bright Star, an dem US-Militärs, die ägyptische Armee und ägyptische Spezialkräfte teilnehmen. Die letzte Operation fand im September 2017 statt. Für die USA ist Ägypten strategisch extrem bedeutend. Daher gehört es auch zum sogenannten CentCom (Zentralkommando), dessen Verantwortungsbereich die Ölländer des Nahen Ostens umfasst. Ägypten hat im Besonderen die Aufgabe, die Waffenlieferungen nach Gaza aufzuhalten.
Ist das wirklich reiner Zufall? Der Angriff ereignete sich, während der Grenzübergang von Rafah zwischen Ägypten und Gaza drei Tage wieder geöffnet werden sollte. Dies erfolgte nach einer Versöhnungsvereinbarung zwischen Fatah und Hamas, die letzten Monat in Kairo unter der Schirmherrschaft der ägyptischen Nachrichtendienste getroffen worden war. Die rivalisierenden Palästinenser haben unter anderen auch akzeptiert, die Verantwortung für den Rafah-Grenzübergang an eine Einheitsregierung zu übergeben. Natürlich ist der israelische Nachbar mit Sicherheit nicht begeistert von dem, was sich gleich nach der Aufhebung der Gazablockade ereignen könnte. 2014 hatte Israel von Ägypten die Einrichtung einer Pufferzone an seiner Grenze verlangt. Dies führte zum Abriss der Viertel von Rafah, die Israel am nächsten liegen, und die brutale Vertreibung ihrer Bewohner durch die ägyptische Armee, während eine elektronische Barriere der Grenze entlang errichtet wurde. Vor kurzem wurden Bewohner im Namen des Kriegs gegen den Terror aus El-Arisch vertrieben. Sowas treibt junge Männer, aus Zorn oder auf der Flucht, in die Arme der bewaffneten Gruppen!
Das Massaker von Bir Al-Abd ist eine wahre Ohrfeige für Marschall al-Sissi, der sich für den einzigen Garanten der Sicherheit in der Region hält. „Wir werden hart zurückschlagen!“, schlug er anlässlich der ad-hoc Konferenz nach der Ankündigung des Anschlags erbost mit der Keule. Und damit den Worten des Präsidenten auch gleich Handlungen folgen, haben Drohnen, gemäß einer anonymen Quelle aus militärischen Kreisen, die vom TV-Sender Sky News Arabic verbreitet wurde, in der Wüstengegend von Al-Rischa „Fahrzeuge, die Terroristen“ transportierten, getroffen. Diese Informationen wurden aber nie offiziell bestätigt!
Man kann aufgrund der derzeitigen Lage nicht ausschließen, dass es in der Region unter dem Deckmantel des Kampfes gegen den Terror zu noch mehr Unterdrückung und zu neuen nicht-reklamierten Anschlägen kommt, sogar in anderen Regionen Ägyptens. Die Beduinen der Sinaihalbinsel werden in der Tat von den Regierungsmedien regelmäßig als „Vaterlandsverräter“ und ihre Kinder als „Komplizen der Terroristen“ verleumdet. Eine Strategie, um die Anprangerung des Volkes nach jedem Anschlag von der Armee abzuleiten, die junge, unerfahrene Soldaten in die Sinairegion schickt, die dann den Angreifern zum Opfer fallen.