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Rohingya: die vergessenen Opfer des Antihumanismus

von Milena Rampoldi, ProMosaik, 17. Dezember 2016.

Aleppos Bewohner durchleben
die Hölle auf Erden. Doch auch Muslime am anderen Ende der Welt leiden. Die Schandtaten
gegenüber der Rohingya zu verurteilen ist jedoch keine muslimische, sondern eine
menschliche Pflicht. 
Der Völkermord ist wohl mit Sicherheit die extremste Ausdrucksform des
Antihumanismus, der sich durch alle Religionen, geschichtlichen Epochen und
Kulturen zieht. Aber das Bewusstsein, dass es sich auch wirklich um Völkermord
handelt, ist wiederum abhängig von der Kultur und Religion, in der sich dieser
extreme Antihumanismus äußert. Und in diesem Zusammenhang ist der Fall der
Volksgruppe der Rohingya in Myanmar emblematisch. Die Rohingya bleiben
unbekannt und vergessen. Da es den Tätern die Möglichkeit bietet, ihre
Verbrechen weiterhin ungestört und ungestraft zu begehen und vor allem periodisch
zu wiederholen.
Entmenschlichung
der Anderen
Jeder Völkermord basiert auf der
Entmenschlichung des Anderen, um jegliches Gewissensproblem von Anfang an vom
Tisch zu haben. Menschen sind keine Menschen, weil sie auf der falschen Seite
stehen oder noch besser nie da hätten sein sollen und demzufolge enteignet und
vertrieben werden können. Das ist die Hauptthese des bis ins Extrem
durchgedachten Antihumanismus. Wie der Humanismus, der als seine positive
Kehrseite gilt, ist auch der Antihumanismus ein politisches, pragmatisches
Wirtschaftsmodell. Denn die Auslöschung des Anderen bedeutet die Durchsetzung
meiner Interessen in einem menschenleeren Land, die Ausbeutung der Ressourcen
dieses Landes und die Verwandlung dieses Landes in meinen eigenen religiösen und
kulturellen Raum.
Im November 2016 zeigte Human Rights
Watch auf, wie Myanmar systematisch Einrichtungen, Infrastrukturen und
lebensnotwendige Gebäude in der Rohingya Region im Staat von Rakhine zerstört.
Dem offiziellen Narrativ der Regierung
zufolge wären die Rohingya eingewanderte Eindringlinge, die nicht zur Region,
sondern Bengalen aus dem Nachbarland Bangladesch gehören. Sie sind vogelfrei
und haben kein Recht auf Bürgerrechte, Staatsbürgerschaft, und da sie auch entmenschlicht
wurden, stehen ihnen auch keine grundlegenden Menschenrechte zu. Sie werden von
der buddhistischen Mehrheit verfolgt.
Die Sicherheitskräfte und die Regierung
von Myanmar sind die Organisatoren des schleichenden Völkermordes. Aber das
Narrativ dient auch der Bevölkerung als Rechtfertigung, um diese Menschen zu
vertreiben und zu töten.
Hilflos und staatenlos
Der Antihumanismus kennzeichnet aber
nicht nur die Täter, sondern auch die Nachbarländer, die zwar den Völkermord
gegen die Rohingya stark denunzieren, wie Malaysia, Indonesien und Bangladesch,
gleichzeitig aber die Rohingya-Flüchtlinge nicht ausreichend in ihren Ländern
aufnehmen oder die Grenzen aus Überforderung schließen, wie im Falle von
Bangladesch, dessen Regierung auch Repressalien der Soldaten von Myanmar befürchtet.
Die UNHCR spricht von
Zwangsvertreibungen und Tötungen von Rohingya im Rakhin Staat in Myanmar. Am
meisten leiden natürlich die Frauen unter diesem schleichenden Völkermord. Denn
diese kann man dem Entmenschlichungsnarrativ zufolge wie Freiwild vergewaltigen.
Einher mit der Vertreibung geht natürlich der Hunger dieser Menschen, die
Traumatisierung einer ganzen Generation von Menschen, die niemand will und
niemand als Menschen sieht.
Die Regierung im Bangladesch weist
Beschuldigungen zurück und behauptet, eine weitere Aufnahme der Rohingya würde
die Gewalt gegen die noch nicht geflohenen Rohingya in den Dörfern des Rakhin
Staates nur noch verschärfen. Aber zu den grundlegenden Menschenrechten der
Rohingya gehört nicht nur das Widerstandsrecht 
gegen die Gewalt der Mehrheit, auf das sich beispielsweise die Yaqeen
Kämpfer berufen, sondern auch das Recht auf Asyl in einem Nachbarland, um der
bewaffneten Gewalt zu entkommen. Und dies gilt vor allem für die schwächeren
Menschen, worunter Frauen, Kinder und ältere Leute.
Ein Wort möchte ich noch zu den
Widerstandskämpfer sagen, denn auch sie sind Teil des Narratives der Regierung
von Myanmar. Sie werden als muslimische Terrorgruppen bezeichnet, aber was sie
fordern sind nicht religiöse Rechte als Muslime, sondern grundlegende
Menschenrechte und Bürgerrechte, wie die Staatsbürgerschaft, die ihnen 1982 von
der Militärdiktatur aberkannt worden war.
Die Widerstandskämpfer sprechen nicht
von religiöser Verfolgung, weil sie Muslime sind, sondern sprechen von
Verfolgung als ethnische Gruppe von Menschen und von Vertreibung aus ihrer
Heimat, von den dauernden Angriffen gegen ihre Dörfer und die systematische
Tötung von Zivilisten, von Vergewaltigungen und von Menschenhändlern.
Sie fordern die zivilisierte
Völkergemeinschaft auf, die Rohingya zu retten. Ländereien der Rohingya werden
vom Staat konfisziert. Die Rohingya fordern keine besonderen Rechte als
muslimische Minderheit, sondern eine gerechte und gleiche Behandlung wie alle
anderen Bürger von Myanmar, das sich als eine demokratische Republik
bezeichnet. Sie leisten berechtigten Widerstand gegen die extremistischen
Buddhisten und fordern ihre Rechte, die in einem Rechtsstaat für alle Bürger
gelten.
Wie soll es weitergehen?
Wie gelingt es uns nun, das Narrativ
umzukippen und ein friedliches und menschenwürdiges Leben für die Rohingya in
einem Myanmar-Rechtsstaat zu gewährleisten?
Der erste Schritt ist der
internationale Druck auf den Staat Myanmar, der Dialog mit der buddhistischen
Mehrheit und eine dringende Untersuchung der Verbrechen der Regierung von
Myanmar gegen die Minderheit der Rohingya, wie von Amnesty International
gefordert.
Die Tötungen der Rohingya, die
Vergewaltigungen und die Folter, die Zwangsverlegungen und die
Bewegungseinschränkungen müssen sofort ein Ende finden, so auch die
Arbeitsverbote.
Der zweite Schritt besteht in der
sozialen Umsetzung in der Rakhin Region eines toleranten Zusammenlebens
zwischen den verschiedenen Ethnien und Religionen mit der Unterstützung von
Friedenstruppen, welche Menschen, die gegen die Menschenrechte anderer
verstoßen, strafrechtlich verfolgt werden. Zu diesem Zwecke sind Projekte in
den Dörfern und Städten notwendig, um sich gegenseitig kennenzulernen und die
Vorurteile und die Narrative abzubauen. In diesem Rahmen kann man dann auch die
humanistischen Traditionen des Buddhismus und des Islam, die Friedenskonzepte
in Buddhismus und Islam, die Diversität und Gleichberechtigung, die Kultur in
Form von Musik, Dichtung, Kunst und Geschichte aufarbeiten, um die
Menschlichkeit und Menschenwürdigkeit des Anderen respektieren und leben zu
lernen.
Erforderlich sind auch
Entwicklungshilfemaßnahmen zu Gunsten der Rohingya-Gemeinden, um ihnen aus der
Armut zu helfen und sie dazu in die Lage zu versetzen, wirtschaftlich und
sozial wieder an Ansehen und Selbständigkeit zu gewinnen. Hier wären
beispielsweise Mikrokredite und Projekte für Frauen, Bildungsprojekte für
Kinder, Empowerment und Traumatherapie von großem Belang. Und der Wiederaufbau
aller zerstörten Dörfer, einher mit dem Rückkehrrecht aller Rohingya in ihre
Heimat.
Denn ein Volk, das einem Völkermord
entgegensieht, der sich immer wieder wiederholt, ist traumatisiert. Und ein
kollektives Trauma zerstört das Vertrauen und die Hoffnung ganzer Generationen.
Somit lautet das Zauberwort Bewusstseinsbildung: Rohingya sind Menschen, sind gleichberechtigte
Bürger Myanmars und gehören der muslimischen Minderheit an. Diese ist die
Umkehrung des Antihumanismus in Humanismus. Man braucht nicht Muslim zu sein,
um die Rohingya zu unterstützen. Es reicht, wenn man Mensch ist.