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Jim aus Pittburgh – Straßenmedizin für Obdachlose

Von Denise Nanni und Milena Rampoldi, ProMosaik. Deutsche
Übersetzung von Beyza Ünver. Nachstehend unser Interview mit Jim vom
Operation
Safety Net in Pittsburgh
. Die Organisation
ist Teil des Netzwerks Operation Safety Net von Pittsburgh Mercy Health Systems
und Trinity Health, gesponsert von den Schwestern der Barmherzigkeit.
Es kümmert sich jährlich um Hunderte obdachloser Männer
und Frauen, die auf den Straßen Pittsburghs leben, indem es ihnen Zugang zu
Gesundheitsversorgung, Hoffnung und Würde gewährt. Was uns beeindruckte, war
genau das Wort Würde. Menschen, die obdachlos sind, brauchen vor allem Würde.
Alles andere kommt danach.


Jim schrieb uns: „Ich muss auch sagen, dass ich Ihre Arbeit
bei ProMosaik sehr bewundere. Ihr Kern besteht meiner Meinung nach in der Integration
und sozialen Gerechtigkeit. Ich denke auch, dass wir strategisch und symbolisch
handeln können, um unsere Werte zu leben. Auf diese Weise können unsere Ideen neue
Impulse erhalten. Bisher war ich im Bereich der häuslichen Gewalt tätig. Durch
diese gelang es mir dann eine Verbindung zu den ausgeschlossenen Menschen
unserer Gesellschaft herzustellen, die von der Mehrheitsgesellschaft erniedrigt
werden. Werde nun versuchen, Ihre Fragen zu beantworten.“ Wir danken Jim erneut
für seine wichtigen Impulse.
Mit welchen Hauptproblemen und Bedürfnissen haben
Obdachlose zu kämpfen?  
Ich habe weltweit am Aufbau von Straßenmedizinprogrammen mitgewirkt
und sehe eine Gemeinsamkeit darin, dass diejenigen, die auf den Straßen
schlafen, als „die Anderen“ betrachtet werden. Ausgrenzung ist sowohl ein
Mechanismus als auch die Erfahrung der Menschen, die auf den Straßen schlafen.
An vielen Orten der Welt besteht die rauhe, schlafende Bevölkerung entweder aus
Immigranten oder Einheimischen, die unter einem historischen Trauma leiden. In
Verbindung mit Armut und Trauma gibt es eine breite Palette von medizinischen,
geistigen und suchtfördernden Bedingungen, die in den USA zu einem
durchschnittlichen Tod vor 47-52 Jahren führen. Die Stigmatisierung und Gewalt,
die Obdachlose erleben, ist schrecklich und universell. Wie bei der häuslichen
Gewalt befinden sich die Opfer in einem komplexen Kreislauf von Verletzungen
und in einer Realität, in der die Dienste sie nicht mehr erreichen. Sie fressen
alles in sich hinein und denken nur mehr ans nackte Überleben.
Ist man einmal auf der Straße, wird die
geistige und körperliche Gesundheit eines Menschen beeinträchtigt. Je länger
eine Person obdachlos ist, desto schwieriger ist es, sich zu erholen.
Obdachlose leiden unter schlechtem Wetter und Gewalt, aber meistens sterben sie
infolge vermeidbarer Verhältnisse wie zum Beispiel durch Misshandlung. Es ist
nahezu unmöglich, aus dem bürokratischen Labyrinth rauszukommen, wenn man auf
der Straße schläft. Die medizinische Versorgung ist unzureichend oder nicht
vorhanden, weil es einfach zu viele Barrieren in der Pflege gibt. Depression
und Selbstmord kommen häufig vor, wie die daraus resultierenden Abhängigkeiten,
die die Erfahrungen ungeschützter Obdachloser noch erschweren.  Entmutigung und Hoffnungsverlust können für
diese Menschen tödlich sein.
Welche sind die wichtigsten Leistungen, die Ihre
Organisation anbietet?   
Mein Programm Operation Safety Net (www.operationsafetynet.net) bringt medizinische Versorgung direkt an die Menschen
vor Ort, die unter Brücken, an Flussufern und in den verlassenen Gebäuden von
Pittsburgh leben. Unsere Teams bieten sofortige medizinische Versorgung aus
Rucksäcken, sowie materielle Unterstützung, um dem Wetter standzuhalten. Von da
an arbeiten wir mit den Obdachlosen zusammen, um sie zu den gewünschten
Diensten zu bringen. Dazu gehören primäre medizinische Versorgung, Wohn-,
Rechts- und Pflegedienste. Wenn Menschen sich in Wohnräumen o.ä.
aufhalten, versetzt dies unsere Mitarbeiter in die Lage, sie zu begleiten, um
sie zu unterstützen und ihre Rechte durchzusetzen. Diesen Prozess der
Befürwortung möchte ich „in REACH“ nennen (Zusammenarbeit, Befürwortung, Innovation,
Integration und Zelebrierung). Wir haben über 1400 Obdachlose in eigenen
Wohnungen untergebracht. Wir koordinieren auch die medizinische Versorgung der
Obdachlosen in verschiedenen Kliniken, Krankenhäusern und Notdiensten unserer
Stadt, um die Pflege zu verbessern und Kosten zu senken. Medizinische Bildung
ist einer der Hauptaspekte unserer Bemühungen. Ich glaube, dass ein „Straßenklassenzimmer“
 für den Bewusstseinswandel unserer
zukünftigen Leader unerlässlich ist – viele von ihnen haben ihre eigenen
Programme gestartet oder fokussieren nun auf soziale Gerechtigkeit.
Ich habe auch eine internationale
Organisation gegründet, die sich für die Förderung und Entwicklung der
Straßenmedizin als globale Bewegung einsetzt. Das Institut für Straßenmedizin (
www.streetmedicine.org) hat Partner in über 100 Gemeinden auf sechs Kontinenten
und veranstaltet jedes Jahr ein jährliches Internationales
Straßenmedizin-Symposium. Obwohl das Institut für Straßenmedizin keine direkte
Pflege anbietet, dient es als Bezugspunkt einer wachsenden Bewegung, die
direkte medizinische und soziale Betreuung für Menschen anbietet, die auf den
Straßen schlafen, wo immer sie sich auch befinden. Das Institut bietet eine
direkte Beratung für Gemeinschaften an, die ihre eigenen Programme erarbeiten
und erleichtert die Verbesserung der bewährten, straßenmedizinischen Arbeit.  
Kooperieren Sie mit Behörden und Instituten
vor Ort? Wenn ja, wie?
Alle Straßenmedizinprogramme wie meines
müssen über Jahre Beziehungen zu den Behörden dieses Bereiches aufbauen. Es ist
ein fortwährender Kampf, der durch Politik und Vorurteile erschwert wird. Die Hauptmitglieder
unserer Organisation widmen den Behörden viel Zeit und entwickeln positive
Lösungen. Wir sitzen in einer Vielzahl politischer Ausschüsse. Unsere
Glaubwürdigkeit im Bereich der Arbeit auf den Straßen ist sowohl ein Vorteil
als auch eine zu erfüllende moralische Verpflichtung. Wenn möglich, schließen
wir die Obdachlosen mit ein. Im Rahmen des oben genannten „REACH“-Prozesses arbeiten
wir daran, die Obdachlosen wieder mit dem Rest der Gemeinschaft zu
verbinden, indem wir jede Gruppe in den Prozess der Lösungserarbeitung sämtliche
Aspekte einbinden. Wir arbeiten auf allen Ebenen, von den Einzelpersonen bis
zum Bürgermeister, der uns auf unseren Straßenrunden begleitet, um Fürsorge zu
leisten. Die Medien können auch dazu beitragen, die Straßenmedizin in den Fokus
der Öffentlichkeit vor Ort zu rücken.
Denken Sie, dass Institutionen und politische
Entscheidungsträger handeln könnten, um die Obdachlosigkeit zu verhindern? Wenn
ja, wie?
Ich denke, dass Institutionen und politische
Entscheidungsträger die Aspekte betrachten müssen, die zur Obdachlosigkeit
führen. Außerdem könnten sie Lösungen wie bezahlbares Wohnen und
realitätbezogene Unterstützungssysteme für Obdachlose und eine bessere
Koordinierung der Ressourcen anbieten. Die Straßenmedizin ist der Beweis dafür,
dass diese Systeme scheitern. Wie in den meisten Fällen wäre die Prävention
weit besser als eine verzögerte Antwort auf diese chronische Katastrophe.