General

Der liberale Zionismus im Zeitalter Trumps

von
Omri Böhm, deutsche Übersetzung von Jürgen Jung, Der
Semit
, 30. Dezember 2016. 
Seit Wochen schon sind jüdische Organisationen überall in den USA durch ein
heikles Phänomen beunruhigt. Donald J. Trump,  ein skrupelloser, mit
antisemitischen Parolen hausierender Politiker, wurde zum nächsten
amerikanischen Präsidenten gewählt, und er hat Stephen K. Bannon zu seinem
Chefberater bestimmt, eine prominente Figur der “Alt-Right”-
[alternativ-rechten]Bewegung, die weißen Nationalismus, Antisemitismus,
Rassismus und Frauenfeindlichkeit propagiert. 


Obwohl Bannon selbst gegenüber
solchen Ansichten “null Toleranz” zum Ausdruck gebracht hat, legt sein
vergangenes Verhalten etwas anderes nahe. Seit vier Jahren Leiter von
“Breitbart News” verschaffte er der Bewegung und ihrer Ideologie die
einflussreichste mediale Plattform des Landes.
Dennoch haben weder die mächtigsten jüdischen Organisationen in den USA
noch führende israelische Politiker eine klare Haltung gegenüber dieser
Ernennung eingenommen. Sie haben sie sogar begrüßt.
Unmittelbar nachdem Trump Bannon ernannt hatte, schickte sich die „Zionist
Organization of America” an, diesen zu ihrem jährlichen Gala-Dinner einzuladen,
wo er Naftali Bennet, Israels Erziehungsminister, und Danny Danon, den Verteter
des Landes bei der UNO, treffen sollte (Danon erschien allerdings nicht). Ron
Dermer, Israels Botschafter in Washington, erklärte öffentlich, dass er sich
darauf freue, mit der Trump-Regierung zusammenzuarbeiten, einschließlich
Bannons. Und Alan Dershowitz, der forsche Prof. em. der Rechtswissenschaft der
Harvard-Universität, der Nicht-Zionisten regelmäßig als Antisemiten
verunglimpft, zog es in diesem Fall vor, sich nicht etwa gegen Bannon, sondern
gegen dessen Kritiker zu wenden. „Es ist nicht legitim, jemanden einen
Antisemiten zu nennen, weil man möglicherweise nicht seine politische Meinung
teilt,” betonte er. 
Das Bündnis, das sich zwischen der zionistischen Führung und Politikern mit
antisemitischen Tendenzen zu schließen beginnt, verfügt über die Macht, das
jüdisch-amerikanische Bewußtsein auf Jahre hinaus zu transformieren. In den
letzten Jahrzehnten haben sich viele jüdische Gemeinden der USA daran gewöhnt,
in einem politischen Widerspruch zu leben. Einerseits kann eine große Mehrheit
dieser Gemeinden  zu Recht stolz sein auf ihre wirkmächtige liberale
Tradition, die zurückreicht auf Vorbilder wie Louis Brandeis – ein Verteidiger
sozialer Gerechtigkeit und der erste jüdische Richter am Verfassungsgericht
[„Supreme Court”] – oder Rabbi Abraham Joshua Heschel, der [im Zusammenhang der
Bürgerrechtsbewegung] in Selma neben Dr. Martin Luther King marschierte.
Andererseits haben sich diese Gemeinden oft mit dem Zionismus identifiziert,
einer Agenda, die in der Negierung eines [links-]liberalen
Politikverständnisses verwurzelt ist.
Um diese inhärente Spannung angemessen zu würdigen, sollte man Hillary
Clintons Worte aus der zweiten Präsidentschaftsdebatte bedenken: „Es ist
politisch wichtig für uns, nicht – wie Donald – zu sagen, wir schließen
Menschen aufgrund ihrer Religion aus. Wie kann man das machen? Wir sind ein
Land, das auf religiöser Freiheit begründet ist.” Clinton spricht sich hier für
einen Mindeststandard liberalen Anstands aus, den wenige amerikanische Juden zu
leugnen geneigt sind. Aber sie ist nicht die kommende Präsidentin. Trumps
Bereitschaft, diese Norm zurückzuweisen, läßt nun innnerhalb der jüdischen
Gemeinden wie auch bei anderen amerikanischen Minderheiten die Alarmglocken
läuten.
Aber in Bezug auf Israel hat jeder liberale Zionist die Negierung dieses
Minimums liberaler Normen nicht nur toleriert, sondern sich zu dieser Negierung
als Kern seiner innersten Überzeugungen bekannt. Während der Liberalismus auf
der Idee beruht, dass der Staat in Fragen von Religion und Rasse neutral zu
sein hat, geht der Zionismus von der Vorstellung aus, dass der Staat Israel
nicht israelisch, sondern jüdisch ist. Das Land gehört als solches zuerst und
vor allem nicht seinen Bürgern, sondern dem jüdischen Volk –
einer Gruppe, die durch ethnische Zugehörigkeit oder religiöse Konversion
definiert ist.
So lange wie der Liberalismus in Amerika außer Frage stand und seine
Ablehnung auf Israel beschränkt war, ließ sich diese Spannung entschärfen. Aber
da sie in der rapide sich verändernden Landschaft amerikanischer Politik ins
Licht der Öffentlichkeit dringt, läßt sich diese Doppelmoral nur noch schwer
rechtfertigen.
Diese Schwierigkeit wurde anfang des Monats bei einer Veranstaltung an der
A&M-University in Texas offenkundig, als Richard Spencer, einer der
ideologischen Vordenker des weißen Nationalismus der „Alt-Right”-Bewegung 
– die er „eine Art weißen Zionismus” nannte – öffentlich aufgefordert wurde
durch den [in der Hillel-Tradition stehenden] Rabbi Matt Rosenberg, mit ihm
„die radikale Inklusion” und „Liebe” der jüdischen Religion zu studieren.
„Wollen Sie wirklich die radikale Inklusion in den Staat Israel?” erwiderte
Spencer. „Soll etwa der ganze Nahe Osten nach Tel Aviv oder Jerusalem kommen.
Würden Sie das wirklich wollen?” Spencer argumentierte weiter, dass Israels
ethnisch begründete Politik der Grund dafür sei, dass die Juden eine so starke,
zusammenhaltende Identität aufwiesen, wofür er sie bewundere.
Der Rabbi fand keine Worte, um ihm zu antworten, und sein Schweigen klingt
immer noch nach. Es machte klar, dass ein Argument, das nicht eine
Doppelmoral umfaßt, schwer zu haben ist.
Rechte Politiker und Kommentatoren in den USA haben diese Doppelmoral seit
Jahren unter Druck gesetzt. In ihrem Buch (von 2015) “Adios, America” schreibt
die [rechtslastige] Kommentatorin Ann Coulter: Palästinenser fordern das Recht,
in ihre Heimat von vor 1967 zurückzukehren, aber Israel sagt ganz zu Recht,
dass die Veränderung von Israels Ethnizität die Idee Israel verändern würde.
Nun, die Veränderung von Amerikas Ethnizität würde auch die Idee Amerika
verändern. Man möge uns unumwunden erklären, warum wir nicht das tun können,
was Israel tut. Ist Israel etwas Besonderes? Für einige von uns ist auch
Amerika etwas Besonderes.
Coulter bringt allerdings die Daten durcheinander. Die Palästinenser
verlangen nämlich nicht “ein Rückkehrrecht” in ihre Heimat von vor 1967,
sondern in ihre vor-1948er Heimat. Mit anderen Worten, das Problem ist nicht
die Besatzung, die auch viele liberale Zionisten als Verbrechen ansehen,
sondern der Zionismus als solcher. Widerstand gegenüber dem “Rückkehrrecht” der
Palästinenser ist Konsens zwischen linken und rechten Zionisten, weil auch
liberale Zionisten darauf bestehen, dass Israel das Recht habe, den Juden die
ethnische Mehrheit in ihrem Lande zu sichern. Das ist der Grund dafür, dass
Rabbi Rosenberg Spencer nicht antworten konnte. Wenn du aber den Zionismus
ablehnst, weil du die Doppelmoral ablehnst, würden Organisationen wie AIPAC
[American Israel Public Affairs Committee] oder die „Jewish Federation of North
America” dich als Antisemiten denunzieren.
Es ist wichtig zu betonen, dass in manch wesentlicher Hinsicht der
Vergleich zwischen der weiß-christlich-ethnisch orientierten Politik der
„Alt-Right”-Bewegung und dem Jüdischen Staat nicht nur irreführend, sondern
abgründig ist. Die Geschichte der Juden – einer kleinen Minderheit, die
Verfolgung, Pogrome und den Holocaust erlitt – ist mitnichten jener der weißen
Christen vergleichbar. Dies ist eine wichtige Einschränkung und der Grund,
warum Richard Spencer, wenn er von „Alt-Right” als einer „Art weissem
Zionismus” spricht, eine schändliche Lüge verbreitet. Es muss möglich sein, mit
Israel zu sympathisieren und Verständnis für die historischen Umstände des
Zionismus zu haben, aber jegliche Sympathie für „Alt-Right” abzulehnen.
Unglücklicherweise lassen es antizionistische Kritiker zuweilen an der Sensibilität
für diese Unterscheidung fehlen.
Aber trotz  – oder besser wegen – der Sympathie für und der
Solidarität mit Israel muß jeder Jude, der sich dem Liberalismus verpflichtet
weiß, darauf beharren, dass nichts in der jüdischen Geschichte den Juden
gestatten kann, die Rechte anderer ethnischer oder religiöser Minderheiten zu
verletzen, und dass es in unserer Geschichte keinen Hinweis darauf gibt, dass
es klug für uns wäre, so etwas zu tun.
Dies ist umso mehr wahr, als der Zionismus sich durch die Zurückweisung
liberaler Prinzipien  unmittelbar in den Zusammenhang antisemitischer
Politik einordnet, wie sie von der „Alt-Right”-Bewegung propagiert wird,
anstatt dieser zu widersprechen. Die Vorstellung, dass Israel der den Juden
gehörende ethnisch bestimmte Staat sei, impliziert, dass Juden, die ausserhalb
dieses Staates leben – sagen wir, in Amerika oder Europa – sich nur einer
diasporischen Existenz erfreuen; ein anderer Ausdruck dafür, dass sie in einem
Land leben, das nicht wirklich das ihre ist. Angesichts dieser Logik ist es für
Zionisten und antisemitische Politiker nur natürlich, dass sie gemeinsame Ideen
und Interessen teilen. Jeder Amerikaner, der an einer „Birthright Israel Tour”
[bezahlte Bildungsreise nach Israel] teilgenommen hat, dürfte wissen, dass
links-orientierte Israelis durchaus mit Amerikas „Alt-Right”-Bewegung darin
übereinstimmen, dass die Juden idealerweise “in ihrem eigenen Land leben
sollten.”
Da diese Übereinstimmung so natürlich ist, weist sie eine lange und
bedeutsame Geschichte auf. Im vergangenen April wurde Heinz-Christian Strache,
der Vorsitzende von Österreichs weit rechts stehender Freiheitlicher Partei, in
Israel mit offenen Armen von Mitgliedern der Koalitionsregierung Netanyahus
begrüßt. Straches Partei steht heute in erster Linie für eine anti-islamische
und Anti-Immigrationspolitik, wurde aber ursprünglich von österreichischen
Nazis gegründet. Jörg Haider, der damalige Vorsitzende der Partei, war
berüchtigt wegen seiner Sympathie für gewisse politische Maßnahmen Hitlers. Ein
anderer einschlägiger Fall ist Geert Wilders, der fremdenfeindliche
rechtsextreme holländische Politiker. In diesem Monat wurde enthüllt, dass
Wilders Besuche in Israel und seine Treffen mit israelischen
Regierungsmitgliedern so häufig stattfanden, dass der holländische Geheimdienst
seine “Verbindungen mit Israel und ihre möglichen Auswirkungen auf seine
Loyalität” untersuchte.
Dieses Phänomen ist auch in den USA einigermaßen vertraut angesichts der
engen Bindungen zwischen den fundamentalistisch-evangelikalen Christen – deren
Ansichten zur Rolle der Juden in einem größeren messianischen Plan schlicht
antisemitisch sind – und dem Staat Israel. Aber mit Trump hält diese Art der
Zusammenarbeit Einzug in das Zentrum der amerikanischen Politik.
Nichts demonstriert diese Allianz besser als die Ernennung David Friedmans
zum Botschafter der Vereinigten Staaten in Israel. Friedman, ein glühender
Unterstützer des israelischen Besatzungsprojekts, hat behauptet, die liberalen
zionistischen Anhänger von „J-Street”, die der Besatzung kritisch
gegenüberstehen, seien “schlimmer als die Kapos” – Juden, die mit ihren
Nazi-KZ-Wächtern kollaborierten. Tatsächlich sind es jedoch Friedmans eigene
politische Aktivitäten, die auf einer Linie mit antisemitischen Prinzipien liegen
und mit antisemitischer Politik kollaborieren.
Die „Erbsünde” solcher Allianzen läßt sich zurückverfolgen bis ins Jahr
1941, zu einem Brief an hohe Nazifunktionäre, der in jenem Jahr entworfen wurde
von Avraham Stern, bekannt als Yair, einem der frühen führenden zionistischen
Kämpfer und in den 1930er Jahren Mitglied der paramilitärischen Gruppe „Irgun”.
Später war er Gründer von „Lehi”, einer anderen derartigen Gruppe. In dem Brief
schlägt Stern vor, mit „Herrn Hitler” bei der “Lösung der jüdischen Frage”
zusammenzuarbeiten, und zwar durch die Schaffung eines „judenfreien Europas”.
Die Lösung könne nur erreicht werden, so fährt Stern fort, durch die
„Ansiedlung dieser Massen in der Heimstatt des jüdischen Volkes in Palästina”.
Zu diesem Zweck schlägt er vor, sich mit den „Kriegsanstrengungen” der
Deutschen zu verbinden und einen jüdischen Staat auf einer “nationalen und
totalitären Grundlage” zu errichten, der “vertragsmäßig mit dem Deutschen
Reich” verbunden sein sollte.
Die Existenz dieses Briefes zu ignorieren, war genauso folgerichtigt wie
die Entschärfung der konzeptionellen Grundlagen, die ihn möglich machten. Aber
derartigen Tendenzen muss entgegengetreten werden. Sie bekräftigen die Logik,
die hinter der Abfassung des Briefes stand: die Sanktionierung des Zionismus
bis hin zur Tolerierung von Antisemitismus. Das ist die Logik, die liberale
amerikanische Juden gegenwärtig zu bekämpfen haben, aber sie wird sich schwer
entwurzeln lassen. An Stern wird in jeder größeren israelischen Stadt durch
Straßennamen erinnert, und es ist keineswegs abwegig zu vermuten, dass Yair
Netanyahu, der Sohn des Ministerpräsidenten, der Stern als ein mythisches
Vorbild für den zionistischen Kampf feierte, nach Sterns Kampfnamen benannt wurde.
Die Vergleiche zwischen Trump und Hitler – gängiger in Artikeln im
Vorwahlkampf als heute – werden sich hoffentlich als gänzlich übertrieben
erweisen. Aber selbst dann versprechen die kommenden Jahre, dem amerikanischen
Judentum eine Entscheidung abzuverlangen, die es gern vermieden hätte:
festzuhalten an seiner liberalen Tradition als dem einzigen Weg, humane,
bürgerschaftliche und jüdische Rechte zu sichern, oder die Prinzipien zu
akzeptieren, die den Zionismus antreiben. Im Zeitalter Trumps auf beiden Alternativen
zu beharren, wird sich vermutlich nur schwer durchhalten lassen.
Omri Boehm ist Assistenzprofessor der Philosophie an der New School for
Social Research in New York. Er ist Autor von „The Binding of Isaac, a
Religious Model of Disobedience” und dem jüngst erschienenen “Kant’s Critique
of Spinoza.”