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Aziz Krichen: „Gramsci hätte nicht nur den Tunesiern, sondern der ganzen Welt, viel zu sagen“


von
Milena Rampoldi, ProMosaik. Der tunesische Soziologe und Ökonom Aziz Krichen,
Autor des Buches
La Promesse du Printemps (Das Versprechen
des Frühlings),
eine Bilanz der ersten Phase der Post-Ben Ali-Ära, die Ansätze für die weitere  Demokratisierung darlegt, und des
bemerkenswerten Artikels
L’affaire  de Jemna : question paysanne et
révolution démocratique en Tunisie
, hat die folgenden Fragen unserer Redaktion
beantwortet.

Milena
Rampoldi: Was hätte Gramsci den Tunesiern des 21. Jahrhunderts zu sagen?

Aziz
Krichen: Gramsci hätte nicht nur den Tunesiern, sondern der
ganzen Welt, viel zu sagen.

Was mich
betrifft, schulde ich ihm einen großen Teil meiner intellektuellen Bildung.
(Vor langer Zeit habe ich übrigens, mit anderen Autoren, am Buch „Gramsci et le
monde arabe“ (Gramsci und die arabische Welt) mitgewirkt). Gramsci ist in
Tunesien, sogar in der Intelligenz, unzureichend bekannt. Das Fehlen der
Übersetzung seiner Schriften ins Arabische erklärt nicht alles. Seine Analysen
der Eliten und der Agrarfrage sind sehr nützlich. 

Wie
beurteilen Sie die demokratische Transition in Tunesien persönlich und
allgemein?

Wir
haben eine erste Etappe der Transition hinter uns. Diese hat uns in die Lage
versetzt, das politische System zu liberalisieren. Außerdem haben wir dadurch
eine demokratische Verfassung erhalten. Aber die zweite und wichtigere Etappe –
die der gründlichen Veränderung unserer wirtschaftlichen Strukturen – muss noch
durchlaufen werden. In der ersten Phase habe ich meine Aufgabe als Demokrat erfüllt;
heute gebe ich mein Bestes, damit die zweite Phase ins Rollen kommt.

Welche
Rolle spielt die Soziologie, um die Gesellschaften des Südens zu verstehen und
zu analysieren, indem man von der Rhetorik Abschied nimmt? Wie sieht es mit der
Soziologie in Tunesien und allgemein  in
der arabischen Welt aus?

Theoretisch
spielt sie eine wesentliche Rolle. In der Praxis ist sie aber vollkommen
unbedeutend. Unsere Soziologen sind durch 
60 Jahre Diktatur kastriert worden.

Halten
sich Ihrer Meinung nach die politischen Kräfte, die sich auf den Islam berufen,
an die islamische Botschaft der sozialen Gleichheit?

Diese
soziale Botschaft ist im schiitischen Islam vorhanden, aber im sunnitischen
Islam fast verschwunden. Bei den Muslimbrüdern gab es zwar Sayyid Qutb, der
angefangen hatte, sich mit der Angelegenheit zu befassen. Aber seine weiteren
Werke haben diese Dimension dann vollkommen außer Acht gelassen. Die
tunesische, islamistische Partei Ennahdha besteht aus eingefleischten Anhängern
des Ultraliberalismus.