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Nirit Sommerfeld: Die Palästinenser sind die Nachfolgeopfer des Holocaust

Von Milena Rampoldi, ProMosaik. Anbei ein
aufschlussreiches Interview mit Nirit Sommerfeld, Schauspielerin, Autorin und
Aktivistin für die Gerechtigkeit in Palästina/Israel, u.a. im Verein BIB, den
wir bereits anhand eines Interview mit Prof. Dr. Rolf Verleger vorgestellt
hatten. Der BIB setzt ich aktiv für die sofortige Beendigung der Besatzung
Palästinas ein. Mit diesem Interview verfolge ich vor allem das Ziel,
aufzuzeigen, wie Deutschland seine blinde Unterstützung Israels zum Wohl des
gesamten Nahen Ostens aufgeben muss. Und diese blinde Unterstützung Israels
durch Deutschland hat aber auch viel mit der israelischen Hasbara und ihren
Methoden zu tun, die auch Nirit direkt erlebt hat.

Nirit Sommerfeld
Anbei eine kurze Information aus der Webseite von Nirit, auf der sie ihre
vielfältigen Tätigkeiten vorstellt:
Geboren bin ich in Israel – in dem Wüstenstädtchen
Eilat am Roten Meer – und bin dort, in Ostafrika und in Deutschland
aufgewachsen. Meine Eltern waren Hoteliers; von ihnen habe ich meine
Leidenschaft fürs Reisen, vor allem aber auch fürs Gastgeber-Sein geerbt. Nach
meiner Schauspielausbildung am Mozarteum in Salzburg habe ich als
Schauspielerin am Theater und für Film und Fernsehen gearbeitet und tue das
nach wie vor. Doch war mein Leben auch von vielen anderen Berufen geprägt. Ich
habe Drehbücher geschrieben und allerlei andere Texte, habe als Sprecherin und
Moderatorin gearbeitet, habe vor und hinter der Kamera gewirkt, Musik gemacht,
eine Band gegründet, eine Agentur gemanagt, Leute gecoacht, andere Künstler
unterstützt und Regie geführt. Knapp zwei Jahre lang war ich Intendantin des
Kleinen Theater Haar. Seit 2010 konzipiere und begleite ich politische Reisen
nach Israel und Palästina, um Menschen einen differenzierten Blick auf die
aktuelle Situation in der Region zu ermöglichen. Nicht zuletzt habe ich zwei
wundervolle Töchter und lebe mit Mann und Hund in der Nähe von München. Diese
Website soll dazu dienen, den vielen Facetten meiner unterschiedlichen
Tätigkeiten eine Plattform unter einem Dach zu bieten. Alle Besucher lade ich
herzlich dazu ein, mit mir auf die Reise zu gehen – virtuell im Netz, bei einem
meiner Auftritte oder vielleicht sogar im wirklichen Leben bei einer meiner
nächsten Ausflüge in den Nahen Osten. In jedem Fall freue ich mich über Besuch:
Auf meinem nächsten Konzert, bei meinem nächsten Theaterabend, bei einem meiner
Vorträge oder auch als Kommentar zu meinem Blog.
Milena Rampoldi: Als Israelkritiker, Antizionisten oder sogar als liberale Zionisten hat man
es in Deutschland schwer. Wie funktioniert die Hasbara in Deutschland konkret?
Nirit Sommerfeld: “Hasbara” ist
hebräisch und bedeutet “Erklärung”; damit soll Israels politisches
Vorgehen erklärt und gerechtfertigt werden – möglichst mit einem
wissenschaftlichen Touch. Viele jüdische Kreise bemühen sich heftig darum,
jegliche Kritik an Israel im Keim als antisemitisch und israel-feindlich zu
ersticken. Dafür müssen meist leicht verfälschte geschichtliche Fakten
herhalten – bis hin zu Behauptungen, die man leider nur noch als
Propagandalügen bezeichnen kann. Die bekannteste ist wohl die auf Herzl
zurückzuführende Behauptung, es gäbe in der Levante “Ein Land ohne Volk
für ein Volk ohne Land”, was heute so klingt: Es hat nie ein
palästinensisches Volk gegeben – das ist eine bloße Behauptung der
Palästinenser, damit sie uns das wegnehmen können, was wir aufgebaut haben.
Andere “Erklärungs”-muster lauten: Seit 2.000 Jahren wurden wir verfolgt,
erst seit der Staatsgründung haben wir einen sicheren Zufluchtsort in Israel;
alle arabischen Nachbarn wollen uns ins Meer werfen; wir sind die einzige
Demokratie im Nahen Osten mit der moralischsten Armee der Welt – und somit
steht auch der Westen in der Pflicht, uns zu verteidigen. Das alles nimmt man
in Deutschland gerne auf, mischt es mit berechtigten und unberechtigten
Schuldgefühlen, bemüht die deutsche Verantwortung gegenüber dem ‘Jüdischen
Volk’ und zitiert die Merkel’sche Staatsräson. Das ist dann “Hasbara”
in Deutschland.
Milena Rampoldi: Wie lief
es bei Ihnen? Wie erwirken Menschen ein solches Redeverbot?
Nirit Sommerfeld: Mein Fall verlief nach
altbekanntem Muster: Sehr kurz vor einer geplanten Veranstaltung werden
Veranstalter, Raumvermieter, Bürgermeister, Pfarrer oder Kulturreferenten mit
Emails oder Anrufen davor “gewarnt”, sich Antisemiten und
Israel-Hetzer ins Haus zu holen. In meinem Fall schrieb eine stadtbekannte
Stolpersteingegnerin eine diffamierende Mail, in der sie behauptete, die Kirche
könne ihre Räume gleich der NPD oder Nazis überlassen, wenn ich da aufträte.
Über mich stand nicht ein wahres Wort in der Mail, nur Behauptungen und
Beschuldigungen, die durch nichts zu belegen sind, etwa dass ich BDS-Aktivistin
sei. Auch Brot für die Welt, Misereor und medico international wurden
“unmoralische Kampagnen” und “Israelhass” vorgeworfen.
Spätestens hier hätte man seitens der Kirche aufhorchen müssen und sich auch im
eigenen Interesse fragen müssen, wes Geistes Kind hier spricht.
Die Absenderin ist Mitglied der israelitischen Kultusgemeinde und hat dort eine
privilegierte Position; das ist insofern wichtig zu erwähnen, als dies
letztlich den Ausschlag dafür gegeben hat, dass man ihrer Mail trotz ihres
eindeutig diffamierenden und hetzerischen Inhalts überhaupt Beachtung geschenkt
hat. Meine Frage, ob ich auch ausgeladen worden wäre, wenn die CSU oder der
Hundezüchterverein so eine Mail geschrieben hätte, wurde unumwunden verneint.
Hinzu wurde mir noch erklärt, es gebe “Vorbehalte gegen meine Person in
der Landeskirche”.
Milena Rampoldi: Wie
Hannah Arendt so schön sagte:
Je ewiger“ der Antisemitismus, desto sicherer die ewige“ Existenz des jüdischen
Volkes“.
Was halten Sie davon, hier das jüdische Volk mit
dem zionistischen Staat zu ersetzen?
Nirit Sommerfeld: Ich
habe schon mal Schwierigkeiten mit dem Begriff des ‘Jüdischen Volkes’. Ich habe
mich schon als Kind – lange vor der Lektüre von Shlomo Sands “Die
Erfindung des Jüdischen Volkes” – gefragt, wieso wir Juden alle so
unterschiedlich aussehen: Von groß, weißhäutig und rotblond über orientalisch
bis hin zu zierlich-jemenitisch oder äthiopisch-schwarz mit Kraushaar. Zweifellos
haben sich unsere Vorfahren in den vergangenen 2.000 Jahren der Diaspora gut
mit den Einwohnern ihres jeweiligen Gastlandes vermischt, bis es ihr eigenes
Heimatland wurde. Dort, wo sie ihr Jüdischsein aufrecht erhalten konnten und
wollten, wurden sie fast immer zu irgend welchen Zeiten verfolgt, vertrieben
und ermordet. Das schweißt zusammen, da hat Hannah Arendt Recht. Nichts macht
eine Gruppe so stark wie ein gemeinsamer Feind, genau das erleben wir ja heute
in Israel. Meine große Kritik an der israelischen Art, den Konflikt öffentlich
zu kommunizieren, besteht u.a. darin, dass schon Schulkindern eingebläut wird,
die ganze Welt sei gegen uns. So gespalten die israelische Gesellschaft nach
innen auch sein mag – der unmittelbare Feind in Gestalt sämtlicher Araber um
uns herum, der uns hasst und uns im Meer versenken will, hilft dem Zusammenhalt
des jüdisch-israelischen Volkes ebenso wie der angeblich in aller Welt
schwelende Antisemitismus. Dabei leugne ich nicht, dass es beides gibt: Araber
und Antisemiten, die uns Juden den Tod wünschen. Aber ist das die Mehrheit? Was
ist mit unseren europäischen und amerikanischen Freunden? Kann es sein, dass
die alle sofort zu Antisemiten mutieren, sobald sie Kritik an der israelischen
Besatzung üben?! Und was ist mit 22 arabischen Ländern, die mit der
‘Arabischen Initiative’ Israel wiederholt seit 2002 ein Friedensangebot
gemacht haben, inklusive der Anerkennung des Existenzrechts Israels? Man fragt
sich wirklich manchmal, ob wir den Antisemitismus so sehr brauchen, um uns
selbst zu definieren.


Milena
Rampoldi: BIB sehe ich von außen als eine Initiative, die sich gegen die
Besatzung ausspricht und nicht das Existenzrecht Israels in Frage stellt. Warum
tut man sich heute in Deutschland so schwer, gegen den Kolonialismus zu
kämpfen, wenn es um Israel geht?

Nirit Sommerfeld: Kämpfen wir in anderen Fällen wirklich gegen den
Kolonialismus? Die Wahrheit ist doch, dass man sich vom Kolonialismus nur
deswegen abwendet, weil das heute nicht mehr vertretbar ist. Wir profitieren
doch nach wie vor gerne von der Ausbeutung der Schwachen und Armen … Aber
zurück zu Israel: Wenige durchschnittlich gebildete Deutsche würden im
Zionismus den Kolonialismus erkennen. Dafür haben jüdische Lobbyisten seit dem
Ersten Weltkrieg und die israelische Staats-PR nach 1948 hart gearbeitet. Wie
oben erwähnt, man holte sich “ein Land ohne Volk” – und gerade nach
dem Holocaust tat Deutschland doch alles, um aus dieser unerträglichen Schuld
herauszukommen, u.a. durch die Förderung der israelischen Staatsgründung. Dass
dies auf Kosten der Palästinenser erfolgte, kam entweder niemandem in den Sinn
(unwahrscheinlich!) oder schien nicht wichtig zu sein (sehr wahrscheinlich –
man war ja geübter Kolonialist!). In Wahrheit hat Deutschland, hat ganz Europa
nochmals große Schuld auf sich geladen, indem durch die Entsorgung des
jüdischen Problems und die Verlagerung in den Nahen Osten die Palästinenser zu
Nachfolgeopfern des Holocaust wurden. Gerade darin sehen wir von BIB eine große
Notwendigkeit und Pflicht, aber auch eine Chance für Deutschland, hier eine
Vermittlerrolle zu spielen und selbst Verantwortung zu übernehmen in der Lösung
dieses gar nicht so alten Konfliktes.
Milena
Rampoldi: Wie wird die Besatzung in Israel vom Staat gerechtfertigt?
Nirit Sommerfeld: Gar
nicht. Nach israelischer Lesart gibt es keine Besatzung, sondern einen
‘temporären militärischen Zustand’. Und der muss sein, mit der alle Argumente
aushebelnden Begründung: Security.
Leider befindet sich
dieser ‘temporäre Zustand’ bereits im 50. Jahr seiner realen Existenz, mit weit
über einer halben Million jüdischer Siedler, einer Zerstückelung des
Westjordanlandes in Zonen, mit Checkpoints, extremen Einschränkungen für
Palästinenser, Enteignungen, Verhaftungen, Menschenrechtsverletzungen,
Ressourcenraub (Wasser!) und einer Mauer, die neben Landnahme und
Einschüchterung und nur einem Zweck dient: Jede Form des Miteinanders zu
verhindern. Die allermeisten jungen Menschen beider Seiten sind sich noch nie
begegnet.
Milena
Rampoldi: Welche Strategien sehen Sie, um der Besatzung ein Ende zu setzen?

Nirit Sommerfeld: Zunächst muss der politische Willen geschaffen werden,
überhaupt etwas zu verändern. Auf zivilgesellschaftlicher Ebene in Israel und
Palästina gibt es zahllose Beispiele von friedenswilligen Menschen beider
Seiten, die sich in NGOs oder Gruppen organisieren: Parent’s Circle, Combatants
for Peace, Woman in Black und viele mehr. Dem gegenüber stehen jedoch andere
Interessen, denn wir dürfen nicht vergessen, dass Viele von der Besatzung profitieren:
Der Straßen- und Wohnungsbau boomt, an Sicherheitssystemen, Zäunen, Mauerbau
etc. lässt sich viel Geld verdienen, ebenso an Industrieanlagen, die auf
besetztem Gebiet von israelischer Seite hoch subventioniert werden. Details
dazu findet man auf
www.whoprofits.org .
Israel müsste sofort den Siedlungsbau beenden und Schritt für Schritt einen
Rückzug aus dem Westjordanland planen – aber diese Absicht scheint ja in
keinster Weise vorhanden zu sein. Meine israelischen Freunde sagten mir, als
ich nach zwei Jahren das Land 2009 wieder verließ: “Wir schaffen das nicht
von alleine. Ihr müsst vom Ausland aus etwas dafür tun, damit sich hier etwas
ändert!”. Das war für mich eine starke Motivation, BIB mitzugründen und
mich in diesem Bündnis so stark zu engagieren. Wir haben es uns zur Aufgabe
gemacht, Politiker und Medien darin zu bestärken, Israel auf Augenhöhe zu
begegnen und unsere unbestrittene besondere Verantwortung als Deutsche sehr
ernst zu nehmen. Dazu haben wir auf unserer Website ein eigenes Kapitel
DIE
ROLLE DEUTSCHLANDS

eingerichtet.
Zudem unterstütze ich eine Kampagne namens
SISO: Save Israel – Stop the Occupation. Namhafte
Israelis und jüdische AkademikerInnen und KünstlerInnen aus aller Welt fordern
das Ende der Besatzung nach dem Motto: Wenn Dir an Israel etwas liegt, dann ist
Schweigen keine Option mehr. Auch hier heißt die Strategie zunächst: Aufklärung
über die wahren Folgen der Besatzung – auch für Israel – und Willensbildung, um
neue Wege zu beschreiten. Denn jedem, der darüber nachdenkt, wird schnell klar:
Mit dieser Besatzung ist eine friedliche, sichere Zukunft auch für Israel nicht
möglich. Die demografische Entwicklung steht dem ebenso entgegen wie eine drohende
internationale Isolation.

Milena Rampoldi: Wie
kann man sich als Künstler und Intellektuelle heute für die Rechte der
Palästinenser einsetzen?

Nirit Sommerfeld: Wir Künstler haben nahezu Narrenfreiheit und können all
unsere Mittel einsetzen, um zumindest auf die Situation aufmerksam zu machen. Nicht
jeder hat so eine Popularität wie Daniel Barenboim mit seinem West Eastern
Divan Orchestra oder der ehemalige Pink Floyd Musiker Roger Waters, der sich
vehement gegen die Besatzung einsetzt und sogar zum künstlerischen Boykott
auffordert. Aber jeder Künstler, jeder Intellektuelle hat eine gewisse
Reichweite, die er nutzen sollte. So hat der australische Pianist Michael Leslie
ein Klavierkonzert mit Verlesung aller 30 Artikel der Menschenrechte
konzipiert. Er und der Schauspieler Christian Schneller spenden die Einnahmen
an medico international in Palästina. Ich habe mein neues Bühnenprogramm
Nicht ganz kosher! genannt und erzähle sehr persönlich von meinen
eigenen Erfahrungen, habe Lieder und Texte geschrieben und will den Menschen
durch Musik und Geschichten sinnlich erfahrbar machen, dass es etwas gibt,
wofür es sich lohnt, den Mund aufzumachen. Zusammen mit der Schriftstellerin
Linda Benedikt habe ich die Polit-Revue
REALITY CHECK geschrieben, die mit Humor, Musik und Satire
über die Besatzungsrealität aufklärt. Intellektuelle müssen sich trauen, die
Diskussion auch – nein, gerade in Deutschland zu führen, weil die Deutschen mit
ihrem “Nie wieder!” nicht nur den Juden gegenüber, sondern allen
Opfern von Unterdrückung, Unrecht und Gewalt verpflichtet sind. Wir dürfen
daher nicht nur, wir müssen Kritik üben an einer Politik, die eine ganze Region
ins Verderben führen wird und mitnichten ein Garant für Sicherheit ist! Wir
müssen die Einhaltung unserer eigenen Standards und Werte fordern, wenn wir mit
Israel auf Augenhöhe Partner sein wollen! Nur mit einer gerechten Lösung für
alle Menschen in Israel und Palästina wird der Nährboden für Frieden im Nahen
Osten gelegt werden können.