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SCHULUNTERRICHT Lehrblätter vergleichen Erdoğan-Politik mit Nazi-Regime

Von Ekrem Şenol, MiGAZIN, 12. September 2016.
In Arbeitsblättern für den Schulunterricht wird der türkische Präsident
Erdoğan den Schülern als angehender Diktator nähergebracht, seine Politik mit
Deutschland im Jahr 1933 verglichen. Türkische Elternverbände, Schüler und
Politiker kritisieren, das Schulministerium ist desinteressiert.
Arbeitsblätter für den
Politikunterricht des Schulbuchverlages “Westermann”.

„Erdoğan auf dem Weg zur Alleinherrschaft?“ Diese Frage wird in Deutschland
seit dem Putschversuch in der Türkei kontrovers diskutiert. In deutschen
Klassenzimmern wird die Antwort vorgegeben. Auf Arbeitsblättern des
Schulbuchverlages „Westermann“ für den Politikunterricht der Jahrgangsstufen 9
bis 13 wird Erdoğan den Schülern als Despot und Diktator vorgestellt.
„Erdoğans Strategien des
Machtausbaus“ würden „gewisse Gemeinsamkeiten mit der Situation nach dem
Reichtagsbrand 1933 aufweisen“, heißt es in den Lehrmaterialien. Ergänzt wird
der Textteil mit einer Karikatur aus
einer britischen Tageszeitung „The Guardian“. Darauf ist Erdoğan zu sehen, wie
er ein Hakenkreuz an die Stelle des Halbmondes auf der türkischen Fahne malt.
Auf einer weiteren Abbildung der britischen Wochenzeitschrift „The Economist“
prangt die Titelstory „Democrat or sultan?“. Die Antwort auf die rhetorische
Frage liefert das Magazin gleich mit: Auf dem Foto ist Erdoğan im Sultanskostüm
abgebildet.
Endgültige Abrechnung
An anderer Stelle heißt es im Hinblick auf den Putschversuch: „Was Erdoğan
bisher auf legalem Weg nicht erreichen konnte, die Machtkonzentration auf seine
Person, sollte in der Folge durch Mittel umfassender Repression gegen
Journalisten, oppositionelle Abgeordnete und protestierende Bürger auf den Weg
gebracht werden“. Schon vor dem Militärputsch habe es „willkürliche
Verhaftungen“ gegeben. Der gescheiterte Militärputsch scheint Erdoğan nun „die
Berechtigung verschafft zu haben, endgültig mit seinen Gegnern abzurechnen“.
Mehrere kritische Auszüge aus Büchern, Zeitungen, Zeitschriften sowie ein
Auszug aus der NS-“Verordnung zum Schutz von Volk und Staat“ aus dem Jahr 1933
runden das Erdoğan-Bild ab. In zwei Doppelstunden sollen die Schüler die
vorgegebenen Inhalte verknüpfen, analysieren und „mögliche politische
Strategien Erdoğans“ erarbeiten.
Grundsätze für den
Schulunterricht
Die Grundsätze für die politische Bildung im Schulunterricht sind im
sogenannten „Beutelsbacher Konsens“ festgelegt. Danach soll das, was in der
Gesellschaft kontrovers diskutiert wird, auch in der Schule „kontrovers“
dargestellt werden. Der Beutelsbacher Konsens weist ausdrücklich darauf hin,
dass es nicht erlaubt ist, Schüler im Sinne einer erwünschten Meinung zu
überwältigen und damit an der „Gewinnung eines selbstständigen Urteils“ zu
hindern.
Ministerium kommentiert
Relativierung nicht
Ob die Lehrmaterialien zur Politik Erdoğans diesen Grundsätzen entsprechen,
wollte das Nordrhein-Westfälische Schulministerium nicht kommentieren. Auf
Anfrage des MiGAZIN wurde mitgeteilt, dass die Lehrkraft dafür sorge, „dass die
politische Situation in der Türkei bzw. die Einschätzung dieser aus
verschiedenen Perspektiven betrachtet wird“. Lose Arbeitsblätter würden „nicht
durch das Ministerium hinsichtlich ihrer Lehrplankonformität und auch nicht
hinsichtlich ihrer politischen Stoßrichtung geprüft.“ Das obliege
ausschließlich der Verantwortung des herausgebenden Verlags.
Unkommentiert ließ das Ministerium auch die Frage, ob die Vergleiche der
Erdoğan-Politik mit dem Nazi-Regime bei Schülern einen relativierenden oder
verharmlosenden Effekt im Hinblick auf die deutsche Geschichte haben könnte.
Das Schulministerium sei, „nicht zuständig für die inhaltliche Bewertung von
solchen Lehrmitteln“, sagte eine Sprecherin dem MiGAZIN.
Yeneroğlu: An Skrupellosigkeit
kaum zu überbieten
Für den Vorsitzenden des Menschenrechtsausschusses der Türkischen
Parlaments, Mustafa Yeneroğlu (AKP), ist diese Erklärung inakzeptabel. Der
türkische Abgeordnete, der in Deutschland aufgewachsen und zur Schule gegangen
ist, ruft das Bildungsministerium auf, seinem Prüfungsauftrag nachzukommen und
„solche Propagandamaterialien nicht ungeprüft für den Schulunterricht
freizugeben“. Vom Verlag sei eine Klärung des Sachverhaltes zu verlangen. Der
türkische Staatspräsident werde in den Arbeitsblättern „dämonisiert und Schüler
in staatlicher Obhut einseitig indoktriniert“, so Yeneroğlu. Der Text „wimmele
nur von unwahren Tatsachenbehauptungen und Schmähkritik“.
Überrascht ist Yeneroğlu vor allem über die Vergleiche mit dem Nazi-Regime.
„Zu meiner Schulzeit wäre das noch undenkbar gewesen“. In diesen
Lehrmaterialien würden „Hitler und das Nazi-Regime verharmlost, der Mord an
sechs Millionen Juden relativiert, die Einzigartigkeit des Holocaust in Frage
gestellt“. Der Vergleich der Niederschlagung des Putschversuchs in der Türkei
mit der Situation nach dem Reichstagsbrand sei „an Skrupellosigkeit kaum zu
überbieten.“
Langer: Nicht nützlich
„Nicht nützlich“ und
„relativierend“ findet auch Armin Langer Vergleiche mit der NS-Zeit. Der
ehemaliger Student des jüdischen Abraham Geiger Kollegs und Mitgründer und
Koordinator derSalaam-Schalom
Initiative
 sagte dem MiGAZIN: „Ich glaube, es ist respektlos
den Opfern der NS-Zeit gegenüber, sie für aktuelle politische Zwecke zu
instrumentalisieren.“
Lehrer: Arbeitsblätter verstörten
Schüler 
Hasan Aydın1, Lehrer an einer Realschulschule im
Ruhrgebiet, erklärt, dass solche Lehrmaterialien eine abstoßende Wirkung auf
viele türkeistämmige Schüler haben. Viele von ihnen hätten durch persönliche
Erfahrungen ein ganz anderes Türkeibild als das, was in den deutschen Medien
dargestellt werde. „Die Menschen in der Türkei gehen zur Arbeit, in die Kinos,
ins Theater oder an den Strand. Ihre Verwandten und Freunde führen ein ganz
normales Leben. Natürlich war der Putschversuch ein großer Schock und es gibt
Probleme bei der Aufarbeitung, aber es gibt nichts, was einen Vergleich mit der
deutschen Geschichte rechtfertigen könnte“, so Aydın.
Und deshalb verstörten solche Arbeitsblätter die Schüler im Unterricht. Die
Folgen seien äußerst kontraproduktiv: „Entweder verschließen sie sich der
Diskussion, weil sie vielleicht mit Erdoğan aympathisieren oder aber sie
schlussfolgern im Hinblick auf ihre persönlichen Erfahrungen – und das ist noch
schlimmer -, dass es in der Nazizeit dann ja gar nicht so schlimm gewesen sein
kann“.
Türkischer Elternverband:
Darstellung kann Schüler radikalisieren
Kritisch bewertet auch die Föderation Türkischer Elternvereine in
Deutschland (FÖTED) die Arbeitsblätter. Sie sieht in der Abhandlung des Themas
eine „überzogene Darstellung“. Das gelte insbesondere für den „Vergleich mit
Nazideutschland, welches ein Unikum in der Weltgeschichte ist“, teilte Ali Sak,
Bundesvorsitzender der Föderation, dem MiGAZIN mit. FÖTED versteht sich als
Sprachrohr von Eltern türkischer Herkunft und setzt sich für die Verbesserung
der Chancen türkischstämmiger Kinder im Erziehungs-, Bildungsbereich ein. Ihr
gehören bundesweit mehr als 80 Mitgliedsvereinen an.
Besonders befremdlich findet Sak die in dem Text verwendete
Hakenkreuz-Karikatur. „Durch den Vergleich würden die Verbrechen des dritten
Reiches stark relativiert.“ Auch wenn der autoritäre Stil Erdoğans nicht zu
leugnen sei und antidemokratische Züge enthalte, sei die „Art und Weise des
Umgangs mit dem Thema problematisch und, zumindest in dieser Form, pädagogisch
zweifelhaft“. Diese Darstellung könne Schüler mit türkischem
Migrationshintergrund „polarisieren und eventuell auch radikalisieren“.
„Kleiner Erdoğan“ – Schüler
gehänselt
Recep Demir1, Schüler an einem Kölner Gynasium, hat
die Arbeitsblätter im Politikunterricht der 9. Klassse selbst erlebt. Schon bei
der zweiten Frage verweigerte er die Mitarbeit. „Bei diesem Text mussten wir ja
zu einem ganz bestimmten Ergebnis kommen, nämlich dass Erdoğan schlecht ist. Da
mache ich nicht mit“, so der 15-Jährige. Eingegangen sei der Lehrer auf seine
Argumente nicht. Ergebnis: „Ich habe einen negativen Eintrag in das Klassenbuch
bekommen und einige Mitschüler haben mich als ‚Kleiner-Erdoğan‘ gehänselt“.
Receps Vater „kann nicht
verstehen, wie man Schülern solche Hetz-Blätter vorlegt“. Er werde ein Gespräch
mit dem Schuldirektor und dem Lehrer führen, kündigte er dem MiGAZIN an. Auch
die Erklärung des Schulministeriums ist für den zweifachen Vater nicht
nachvollziehbar. „Ich kann mir nicht vorstellen, dass das Schulministerium
keinen Einfluss auf die Lehrmaterialien hat. Die würden sofort einschreiten,
wenn es nicht um Erdoğan ginge.“ (es)
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Name
geändert  []  []