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Die Filmtage von Bejaia: ein Raum der überwachten Freiheit in Algerien


Rim Ben Fraj ريم بن فرج


Übersetzt von 
Milena Rampoldi ميلينا رامبولدي میلنا رامپلدی Милена Рампольди



Herausgegeben von 
Fausto Giudice Фаусто Джудиче فاوستو جيوديشي


Wenige Fahrstunden von Tunis entfernt,  fanden die Filmtage Rencontres cinématographiques de  Béjaïa vom 3. bis zum 9. September 2016 statt. Bejaia, auf Tamazight Bgayet, die ihre Einwohner immer noch Bougie nennen, ist eine Schwesterstadt von Kelibia.
Wie sie lebt sie am Meer. Und mit ihr teilt sie die Liebe zum Film. Diese Treffen, die vom Verein Project’Heurts
organisiert wurden und dessen freiwillige aktive Mitglieder zwischen 20
und 40 Jahre alt sind, haben bei ihrer 14. Ausgabe zum ersten Mal einen
Zensurakt erlebt.
Das
Programm war reichhaltig und vielfältig, auch wenn die algerischen
Filme das Bild beherrschten. Und wie in Kelibia während des
internationalen Festivals des Amateurfilms FIFAK (Festival international
du film amateur de Kélibia) waren die Nächte auch hier aufgrund des
Rhythmus der Begegnungen kurz: es geht alles am Morgen mit dem Café-Kino
in der Cafeteria des regionalen Abdelmalek-Bouguermouh- Theaters los,
wo man über Angelegenheiten wie der Alterität im Kino oder die
Kinoarchivierung in Algerien oder sogar von der Süd-Süd-Kooperation
unter Filmproduzenten gesprochen hat.
Nach
dem Frühstück in der Kasbah, der Altstadt, wo die Besprechungen
fortgesetzt werden, beginnen dann um 14 Uhr die Vorführungen, die um 17
und 20 Uhr weitergehen. Jeder Filmvorführung folgt eine Debatte. Abends
wird das Ganze dann beim Abendessen fortgesetzt.
Bejaia, Kelibia, Gabès: Befreiung vom Joch des Staates
Wie
das FIFAK- Festival und das internationale arabische Filmfestival von
Gabès, das FIFAG, sind die Treffen von Bejaia ein unabhängiges, von
einem Verein organisiertes Kinoevent. Die Initiative spiegelt den Wunsch
nach einer wahren Filmerziehung wieder. Und vor allem bringen diese
Initiativen den Willen zum Ausdruck, jenseits der vorherrschenden Logik
im gesamten Maghreb zu handeln, nach der der Staat in Sache Kunst und
Kultur alles bestimmen soll.
Ungefähr
dreißig Filme wurden in diesem Jahr vorgeführt. Davon hatten 20
Prämiere. Mehr als 20 Filmproduzenten waren auch vor Ort. Die
künstlerische Leiterin, Laila Aoudj, erklärte das Auswahlkriterium der
Filme wie folgt: „ein Kino, das mehr Fragen aufwirft, als es Antworten
gibt, und ein neugieriges Kino, das zweifelt und Zweifel aufwirft.“
béjaia
Kader Sadji, ein Mitglied des lokalen
Literaturcafés, erklärt, dass er „jedes Jahr an diesen Treffen
teilnimmt, weil es eines der seltenen Events in Algerien ist, auf dem
man sorgfältig, ohne Staatseingriff ausgewählte Filme ansehen kann. Auf
diese Weise unterscheiden sich diese Treffen von den Festivals, die das
Kulturministerium organisiert, auch weil die Organisatoren ihr Bestes
tun, um ihre Unabhängigkeit zu wahren.“
Mit
einem Budget unter 8 Millionen algerische Dinar (65 000€) hat sich 14.
Ausgabe der Herausforderung gestellt, ihrem Wesen und den Perspektiven
dieser Treffen treu zu bleiben. Dies betonte der Direktor der Treffen
und Vorsitzende des Vereins, Abdenour Hochiche: „Von Anfang an haben wir
eingesehen, dass die Filmtage von Bejaia ein Austauschraum und eine
Plattform für eine Debatte rund um den Film und die FilmmacherInnen sein
müssen, unabhängig davon, ob es dabei um hiesige oder ausländische
Filme handelt. Und wir bleiben dieser Linie weiterhin treu“. Aber ein
unvorhergesehenes Detail hat diese Begegnungen in Verwirrung gebracht.
Zensur des Films „Vote Off“ und Änderung des Programms
Die
Vorführung des Films des jungen algerischen Regisseurs Fayçal Hammoun,
die für Donnerstag, den 8. September geplant war, musste abgesagt
werden.
Hochiche
erklärte, dass „alle Aufführungen in Algerien, unabhängig davon, ob sie
kommerziell oder im Rahmen einer kulturellen Veranstaltung stattfinden,
einer Genehmigung, d.h. einem Visum, unterliegen. Und dieser Film hat
sein Visum nicht erhalten.“
Diese
Zensur ist eine großartige Prämiere in der Geschichte der Treffen.
„Vote Off“ ist ein Dokumentar, der die Präsidentschaftswahl von 2014
offensichtlich harmlos aufarbeitet, bei der der bettlägerige Präsident
auf Lebenszeit Abdelaziz Bouteflika zum vierten und (zweifellos) letzten
Mal gewählt wurde.
Offensichtlich
gibt es in Algerien Themen, die man mit einer Kamera am besten nicht
behandeln sollte. Die Organisatoren, Produzenten und der Regisseur des
Films haben natürlich gegen diese willkürliche Zensur protestiert. Aber
sie haben von den Behörden keine Antwort erhalten.
Sie
haben somit anstatt der Filmvorführung eine öffentliche Debatte über
die Unabhängigkeit des Films organisiert und auch über das Gesetz, das
eine staatliche Genehmigung als verpflichtend vorschreibt, um Filme
vorzuführen.
Die Teilnehmer an der Debatte haben die folgende Erklärung verfasst:
„Wir
Künstler, Kinoliebhaber, Gewerkschaftler, Journalisten, politische und
Vereinsmilitanten, Bürger der Republik, sind durch die Zensur des Films
„Vote Off“ des Regisseurs Fayçal Hammoum, produziert von Thala
productions, der für die 14. Ausgabe der Kinotage von Béjaïa geplant war
bestürzt und skandalisiert.
Dieses
Verbot verfolgt willkürlich das Ziel, das Recht jeden Bürgers auf freie
Meinungsäußerung zu unterbinden. Und dieses Recht ist ein Recht, das in
der Verfassung verankert ist.
Das
Treffen zwischen einem Film oder jeglichem Kunstwerk und der
Öffentlichkeit ist eine lebenswichtige Notwendigkeit, wie das Recht zu
träumen, zu kritisieren und zu debattieren. Es ist einfach absurd,
diesen Wunsch und diese Offenkundigkeit länger zu ignorieren.
Wir
sind der Ansicht, dass es ohne Freiheit keine Kreation, Kunst, Kultur
und Schönheit gibt. Wir unterstützen den Filmmacher Fayçal Hammoum und
die Künstler. Wir werden uns auch weiterhin mobilisieren, um uns
tatkräftig und überzeugt für das künstlerische Schaffen einzusetzen und
Freiräume zu erhalten.
Wir denunzieren diesen x-ten Angriff gegen die künstlerische Gestaltungs- und Ausdrucksfreiheit und fordern die Aufhebung des Verbotes der Vorführung von  ‘Vote Off’.
Wir
halten uns für ausreichend bewusst und reif, um ein jegliches Werk zu
schätzen und widersetzen uns dieser überholten und absurden
Bevormundung.“
Die tunesische Präsenz
Tunesien
war in Bejai präsent, und dies nicht nur als Gegenstand der Bewunderung
von Seiten der Algerier – aufgrund der zurückeroberten
Ausdrucksfreiheit, der Solidarität der Zivilgesellschaft, des Dynamismus
der Amateurregisseure oder der Stellung der Frauen im öffentlichen
Leben – sondern auch physisch, mit Taher Chikhaoui, Kehna Attia und
Saber Zamouri, ohne den Filmvorführer der Treffen, Aymen Farhat, zu
vergessen.
Aus
Tunis, wo er lebt, kam auch der junge tunesisch-ägyptische Filmmacher
Alaeddine Aboutaleb, der seinen 12-minütigen Animationsfilm „Diaspora“
präsentierte, der in Karthago und anderswo ausgezeichnet wurde.
„Was
mir bei diesen Treffen gefällt“, meint Alaeddine, „ist, dass es keine
Preise und Zeremonien gibt. Es sind wahre Treffen unter Kinoliebhabern,
um über die Welt des Films zu sprechen.“
Die
Kinotage vergeben zwar keine Preise, aber seit 2 Jahren werden zwei
Stipendien vergeben, eines nach dem dreitägigen „Filmlabor“, eines für
die Drehbuchförderung, das andere für die Unterstützung der
Fertigstellung/Montage, in Form von Finanzierungen und
Künstlerresidenzen.
Das
Stipendium „les ateliers sauvages-Hafid Tamzali“ in Höhe von 200.000
algerische Dinar [=1700 €], zuzüglich einer Residenz von vier Wochen,
wurde Abdelghani Raoui für sein Projekt  “Techniquement dur” übergeben.
béjaia
Das Stipendium “Mouny Berrah d’aide au montage” in Höhe von 300.000 algerische Dinar [=2450 €], zuzüglich einer Residenz  von
acht Wochen, wurde gemeinsam Sabrina Draoui für ihr Projekt “Hada
Maken” und Ouahib Mortada für sein Projekt “Mineurs” übergeben.
Träumen wir mal: dass tausend  unabhängige
Festivals in unseren gemarterten Ländern blühen, um unsere
Gesellschaften dabei zu unterstützen, sich durch den immer erneuerten
Zauber der siebten Kunst neu aufzubauen.