Berlin-Wahlen: Clanherrschaft und linkes Potential Diese Stadt ist einfach nicht normal
von Arnold Schözel, Junge Welt, 18.09.2016 |
Arnold Schölzel |
Abgeordnetenhauswahlen in Berlin: »Große Koalition« abgewählt. Zugewinne für Linke, AfD und FDP. Diese Stadt ist einfach nicht normal.
Berlin ist bei Wahlen nicht repräsentativ für die Bundesrepublik – ähnlich wie es London jüngst beim »Brexit«-Referendum nicht für Großbritannien war. Die Gründe dafür sind vor allem sozialer Natur. Die Hauptstadt ist die Armutsmetropole der Republik. Die mit bösartigen Methoden betriebene Entindustrialisierung Ostberlins nach dem DDR-Anschluss hat Folgen bis heute, ebenso der Wegfall der »Zitterprämie«, der Steuervergünstigungen für Betriebsansiedlungen im Westberlin des Kalten Krieges.
Berlin bedeutet weit überdurchschnittliche Arbeitslosigkeit, ein konstanter Rekordanteil bei Hartz-IV-Beziehern – 16,4 Prozent der Bevölkerung im Juni 2016 gegenüber 9,4 Prozent in den östlichen und 6,4 Prozent in den westlichen Flächenländer –, eine Altersarmut, die in manchen Stadtteilen 14 Prozent der Bevölkerung zu Beziehern von »Hilfe zum Lebensunterhalt« macht, und eine Armut unter Kindern (32 Prozent), die nur von Bremerhaven oder Ruhrgebietsstädten knapp übertroffen wird. Die Stadt ist einmalig zerrissen. Lagen in den 90er Jahren die durchschnittlichen Familieneinkommen in Marzahn noch gleichauf mit denen in Zehlendorf, klaffen heute Welten zwischen dem Südwesten und dem Nordosten der Stadt. Vor 20 Jahren wohnten dort DDR-Arbeiter und -Intellektuelle, heute hat sich dieses Milieu weitgehend aufgelöst und wurde durch einen soziologischen Flickenteppich ersetzt. Oft handelt es sich um ghettoähnliche Verhältnisse – für Alte, für Russlanddeutsche, für Langzeitarbeitslose.
Die Nazis vertrieben jede Menge Nobelpreisträger in Mathematik, Physik und Medizin aus Berlin, die Bundesrepublik veranstaltete bei Bibliotheken, Kunst und Medien, an Hochschulen und Akademien Ostberlins einen personellen Kahlschlag, der in Bezug auf seinen Umfang weltgeschichtlich seinesgleichen sucht. Ähnliches gab es in keinem ehemals sozialistischen Land, in dieser Dimension auch in keinem anderen ostdeutschen Bundesland. Wenn sich Berlin auf Wunsch der Kanzlerin eine Sanierung der Staatsoper leistet, deren Kostensteigerung prozentual mit der Elbphilharmonie in Hamburg oder dem Flughafen BER mithalten kann, wird das im Berliner Lokalwahlkampf kein Thema.
Die beiden »großen« Parteien CDU und SPD sind seit jeher in Berlin mehr eine Einheitspartei als anderswo, allein schon deswegen, weil beide zusammen eine Art politischer Arm der Westberliner Baumafia sind. Eine Lokalspezialität. In Westberlin kostete zu Frontstadtzeiten und mit fetten Subventionen aus Bonn ein Kilometer neue U-Bahn einfach doppelt soviel wie in München oder Düsseldorf. Die Berliner S-Bahn ist 25 Jahre nach dem Anschluss Schrott. Das hatten die deutschen Faschisten und ihr Weltkrieg nicht geschafft. Berlin ist zweifellos ein Korruptionszentrum der Bundesrepublik, allerdings wegen seiner vergleichsweise niedrigen Wirtschaftskraft auf provinziellem Niveau.
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Foto: Jörg Carstensen/dpa
Was Hannover am Schröder-Maschmeyer-Hells Angels-Biotop hat, besitzt Berlin gleich mehrfach. Die »Freitagsrunde« der Immobilienwirtschaft mit einem früheren SPD-Fraktionsgeschäftsführer als Lenker nimmt einen vorderen Platz ein. Da sorgt der frühere SPD-Bausenator Peter Strieder offenkundig dafür, dass im Stadtzentrum gesetzliche Auflagen für Wohnungsanteile bei Neubauten elegant umgangen werden. Und wenn das kurz vor den Abgeordnetenhauswahlen herauskommt, interessiert es die sogenannte Opposition einen feuchten Kehricht. Da fungiert ein ehemaliger Regierender Bürgermeister, Walter Momper (SPD), als Türöffner für Spekulanten, na und? Das war in Berlin seit den Gründerjahren Anno 1870ff. nie anders. Die Grünen haben einen Landesschatzmeister und Kandidaten namens Marc Urbatsch, über den der NewsletterTagesspiegel-Checkpoint am Freitag vor der Wahl schreibt: »Er tritt an ›für den Erhalt der sozialen Infrastruktur‹ und sagt zum ›Sturm der Veränderung‹ in Moabit: ›Bläst er einem ins Gesicht, spürt man steigende Mieten, die Angst sich den Kiez bald nicht mehr leisten zu können.‹ In Halle kaufte Marc Urbatsch als Geschäftsführer der Firma Operatio in großem Stil Mietshäuser auf.« Wie in jeder Großstadt gibt es aber in Berlin eine linke, in großen Teilen antikapitalistische, außerparlamentarische Bewegung, die zahlenmäßig größte in der Bundesrepublik. Die Demonstration gegen TTIP und CETA am Sonnabend stellte das erneut unter Beweis. Ihr Potential für mögliche Veränderungen auch in der Bundespolitik wird von den zuständigen Behörden und von regierenden Parteien genau beobachtet und bearbeitet. Mag sein, dass diese Strömung zum beachtlichen Zuwachs der Linkspartei beigetragen hat. Diese hat allerdings das Ergebnis, das sie vor ihrer zehnjährigen freiwilligen Gefangenschaft in einer der korruptesten bundesdeutschen Landesregierungen 2001 mit 22,6 Prozent hatte, bei weitem nicht wieder erreicht. Sie kann der AfD dankbar sein, dass nun alles auf eine weitere Regierungszeit hinausläuft. Die Linke selbst hat dafür in einer Weise geworben, als ob sie an Wohnungsnot, der Katastrophe im öffentlichen Dienst oder Vernachlässigung der Infrastruktur unschuldig sei. Der Regierungsmalus verblasste offenbar vor dem Willen vieler Wähler, den Bürgerblock mit seinen in Berlin Kreide fressenden Rechtsauslegern von der Stadtregierung fernzuhalten. |