General

Nach Nizza wir dürfen dem IS nicht das geben, was er fordert

von Murtaza Hussein, The Intercept, 5. Juli 2016, deutsche Übersetzung
von Milena Rampoldi, ProMosaik. 
Man weiß nicht gerade viel über Mohamed
Lahouaiej Bouhlel, den 31jährigen Mann, den die französische Polizei für das
fürchterliche Verbrechen des Massenmordes letzte Nacht in der Südstadt von
Nizza verantwortlich macht. Als Folge der Tötungen hat der französische
Präsident Francois Hollande den Angriff als „Islamistischen Terrorismus“
denunziert, der mit der militanten Gruppe des Islamischen Staates in Verbindung
steht. Die Unterstützer des IS haben diese Erklärungen im Netz fieberhaft
wiederholt und sich zum Angriff bekannt, den sie als einen anderen Angriff
gegen ihre Feinde in Westeuropa priesen.

Während der Beweggrund des Angriffs immer noch
ermittelt wird, lohnt es sich, zu erörtern, warum der Islamische Staat so heiß
darauf ist, solche Vorfälle auf sich zu nehmen. An der Oberfläche erscheint das
Rasen eines LKWs in eine Menschenmenge, die sich versammelt hat, um die
Feuerwerke des Bastille-Tages zu sehen, wie eine Tat des puren Nihilismus.
Kein militärisches Ziel wurde getroffen. Den ersten Berichten zufolge könnten
die Tötungen zu französischen Angriffen gegen die vom IS bereits schrumpfenden
Territorien in Irak und Syrien führen. Und die französischen Muslime – viele
Opfer des Anschlags sind den Berichten zufolge
Muslime – werden wahrscheinlich mit Sicherheitsrazzien und  den Gegenreaktionen der Bevölkerung zu kämpfen
haben, die infolge eines unverständlichen Aktes des Massenmordes in Angst und
Schrecken versetzt wurde.

Aber die Erklärungen des Islamischen Staates und
die Geschichte zeigen, dass dieses Ergebnis genau das ist, was der IS anstrebt.
In der Ausgabe vom Februar 2015 ihrer Online-Zeitschrift Dabiq  rief die Gruppe zu Gewaltverbrechen im Westen
auf, die die „Grauzone [aus der Welt schaffen würden]“, indem sie Spaltung säen
und einen unlösbaren Konflikt zwischen Muslimen und Nicht-Muslimen in den
westlichen Gesellschaften erzeugen. Ein solcher Konflikt würde die Muslime, die
im Westen leben, „entweder dazu zwingen, sich von ihrer Religion loszusagen …
oder in den Islamischen Staat [auszuwandern] und vor der Verfolgung der Regierungen
und Bürger der Kreuzritter zu fliehen.”

Diese Strategie der Gewaltanwendung zwecks Spaltung
der Gesellschaft imitiert die Taktiken der Gruppe im Irak, wo sie provokative Angriffe gegen die schiitische
Bevölkerung plante, um bewusst einen konfessionsgebundenen Konflikt auszulösen,
der bis heute wütet.

Es kann sein, dass der Islamische Staat keine
direkte Verbindung zu Bouhlel hatte. Im Unterscheid zu vielen vorherigen
Angreifern war er nicht im Visier der französischen Sicherheitskräfte. Es gibt
keine Hinweise, dass er beim IS trainiert wurde oder ins IS-Gebiet reiste. Die
ersten Berichte der Menschen, die ihn kannten, malen ein Bild eines
deprimierten und wütenden Mannes, der „den großen Teil seiner Zeit damit verbrachte,
in einer Bar unten an der Straße zu sitzen, wo er pokerte und trank“. Er ist
ein Kleinkrimineller und wurde schon einmal im Mai 2016 wegen eines Unfalls mit
aggressiver Fahrweise verhaftet.

Aber irgendwie sind diese Details von keinerlei
Bedeutung. Das IS-Terrorismusmodell basiert auf der Umwandlung solcher Menschen
wie Bouhlel zur Waffe; die Gruppe ruft Junge, Wütende und Planlose weltweit dazu
auf, in ihrem Namen auf die Anderen in ihrer Umgebung loszugehen. Auf diese
Weise wird die Macht der verzweifelten Rebellen durch eine Kombination von
sozialen Medien und Propaganda der Tat verherrlicht. Ein
einflussreicher, von der Gruppe verwendeter Text mit dem Titel The Management of Savagery
beschreibt die terroristischen Angriffe als „aufhetzende Opposition“ zwecks
Involvierung normaler Menschen in den Konflikt, damit jeder „ob er nun will
oder nicht Farbe bekennen und wissen muss, auf welcher Seite er steht.“

Die tödlichen Angriffe im Westen, in Paris,
Brüssel, Orlando, usw., lassen aber das Ziel des Islamischen Staates, eine
gespaltene Welt hervorzubringen, der Wirklichkeit näher kommen.
Rechtsradikale, minderheitsfeindliche Parteien
werden in Europa immer beliebter, während Umfragen in den USA zeigen, dass der
Großteil der Öffentlichkeit vorher undenkbare Maßnahmen wie
das Einreiseverbot für muslimische Ausländer in Betracht zieht. Wie ein
Hurrikan in Zeitlupe schadet jedes einzelne Gewaltverbrechen immer mehr der
Möglichkeit einer toleranten, liberalen Gesellschaft. Nach dem gestrigen
Angriff in Nizza, tat der ehemalige republikanische Sprecher Newt Gingrich noch
eins drauf, indem er „in den USA einen Test für jede Person muslimischer
Herkunft forderte“. Er fügte hinzu: „Wenn sie an die Scharia glauben, sollen
sie ausgewiesen werden“. Das war wohl eine eher ironische Behauptung für Gingrich,
der in den letzten Jahren Unterstützung bot, damit die muslimischen Mitarbeiter
in Capitol Hill beten durften und sogar an Planungstreffen für das Islamic Free
Market Institute, einer Gruppe von Befürwortern für den freien Markt, der Scharia-Finanzprodukte anbietet, teilnahm.

Der selbstverständlich nicht umsetzbare Wutausbruch
Gingrichs spiegelt auf jeden Fall die Verhärtung der öffentlichen Meinung
wieder. Mit der Zeit und Zunahme der Angriffe durch Einzeltäter und anderer im
Namen des IS, ist es auch nicht auszuschließen, dass Vorschläge wie dieser Fuß
fassen werden.

Aber sei es von einer strategischen als auch moralischen
Perspektive aus gesehen ist das Schlimmste, was man infolge des Horrors der
Vorfälle wie dem von Nizza tun kann, dem IS genau das zu geben, was er will:
und zwar Polarisierung und Hass zwischen den Gemeinschaften. Vorschläge zwecks
ethnischer Säuberung oder „Krieg der Zivilisationen“ erfüllen vielleicht den
Wunsch, sich zäh zu zeigen, aber in Wirklichkeit unterstützen sie nur das
Narrativ der Gruppe bezüglich einer Welt, die unwiderruflich den religiösen
Linien entlang gespalten ist.

Westeuropa ist in der Vergangenheit größeren Wellen des Terrorismus gegenübergetreten,
ohne auf die Strategie der Terroristen einzugehen oder seine inneren Werte zu
opfern. Die Krise des Islamischen Staates fordert eine ähnliche Stufe der Standhaftigkeit.
Aber nur wenn wir die gestellte Falle erkannt haben, können wir auch vermeiden,
selbst viel schlimmer zu scheitern als eine verzweifelte, fanatische Rebellengruppe
hofft, selbst jemals zu erreichen.