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Der Moment des „Arabischen Frühlings“ in der Türkei: kein Sisi und kein Gülen mehr Ein Interview mit Eric Walberg

von Lachin Rezaian, MEHR, 19. Juli 2016, deutsche Übersetzung von Milena Rampoldi, ProMosaik. 

TEHERAN, Jul. 19 (MNA) – Der
kanadische Journalist und Experte des Nahen Ostens, Zentralasiens und Russlands
meint, dass die türkische Version der sozialen Medien den „Arabischen Frühling“
in der Türkei anspornte.
Der kanadische Nahostexperte Eric
Walberg ist der Meinung, dass die Rolle der sozialen Medien in der Türkei
entscheidend war für die Mobilisierung einer breiten Öffentlichkeit, die
innerhalb weniger Minuten auf die Straßen strömte, um den Präsidenten Erdogan
zu unterstützen.



„Ein Glück für
Erdogan, dass das Militär nicht wie in Ägypten so monolithisch war wie in
kemalistischen Zeiten, in denen es von einem rücksichtslosen General angeführt
war, der eifrig daran arbeitete, die herangewachsene Demokratie zu
zerquetschen“, sagte er. Walberg betonte, dass die türkische Version der
sozialen Medien den spezifischen türkischen „Arabischen Frühling“ anheizte.
In einem Interview
mit Mehr News, beantwortet Eric Walberg Fragen
zum Thema.

Wer sind Ihrer
Meinung nach die tatsächlichen Haupttäter des versuchten Putschs in der Türkei?
Die Auswirkungen des
Putschversuches vom 15. Juli halten an. 260 Menschen wurden getötet und 1.400
verletzt. Verhaftet und vom Dienst suspendiert wurden:
* Ein Drittel der 360 türkischen Generäle
* 257 Beamte im Büro des Ministerpräsidenten, inklusive Erdogans Flügeladjutant
* 50.000 Soldaten, Polizisten, Richter, zivile Beamte und Lehrer
* 500 Menschen bei der Generaldirektion für religiöse Angelegenheiten,
* Die Akademiker erhielten ein Ausreiseverbot, um die Gefahr zu vermeiden, dass
mutmaßliche Putschisten an den Universitäten das Land verlassen können.
Das Gefühl von
Unbehagen, Unzufriedenheit und fehlenden Vertrauens gegenüber Erdogan nahm seit
seiner Entscheidung zu, die Türkei in den syrischen Aufstand von 2012 zu involvieren.
Dies diente als Nährboden für den Terrorismus und die Flüchtlinge und öffnete
diesen auch die Tore der Türkei. Der Putsch war eine erwartete Katastrophe,
obwohl Erdogan im Laufe des letzten Jahrzehnts immer in der Lage gewesen war,
das Militär unter Kontrolle zu halten.
Er riss eine Brücke
nach der anderen hinter sich ein – Israel, Syrien, Russland, die Kurden und den
Westen. Vor dem Putschversuch wurde ihm am Ende bewusst, dass seine Handlungen
gescheitert waren und dass es nötig war, das Gemetzel, die Flüchtlinge und die
Feindseligkeiten um ihn herum einzudämmen.
Der Funke des Putschs
soll von einer kleinen Gruppierung des Generalstabs, von Anhängern des
einflussreichen Predigers Fethullah Gülen, gezündet worden sein. Sie zählten
auf die Teilnahme anderer Erdogans überdrüssigen Offizieren und erwarteten
nicht Hundertausende von Menschen, die innerhalb weniger Minuten auf die
Straßen strömten, um den belagerten Präsidenten zu unterstützen. Der Putsch
scheiterte aber erst nach 60 Todesopfern.
Erdogan hat seit
seiner Machübernahme im Jahre 2003 schon mehrere Säuberungen hinter sich, um
die Türkei von der Atatürk-Tradition der militärischen Herrschaft zu befreien. Er
säuberte die Klasse der Offiziere nach dem Massenprozess mutmaßlicher
Verschwörer, die als terroristische Organisation Ergenekon, einer
Splittergruppe der Operation Gladio
der CIA, bekannt ist. Es war aber kein weiser Schachzug, sich in der Justiz auf
die Anhänger von Gülen zu verlassen.
2011 wurden mehr als
500 Menschen verhaftet. Die meisten von ihnen kamen frei. Es stellte sich
heraus, dass viele gerichtliche Dokumente nur ein Fake waren. Aber Ergenekon
und Gladio sind kein Fake. Die bedenkliche Ergenekon-Ermittlung und die
Korruptionsermittlungen, die auch von den Anhänger von Gülen verbreitet wurden
und Erdogans Sohn Bilal zum Ziel hatten, führten 2013 zu einem scharfen
Vorgehen gegen Gülens Anhänger. Jetzt wird es ernst, und die Anhänger von Gülen
in der Regierung hatten ihren guten Grund, um sich mit den anderen Widersachern
von Erdogan zu verbünden.
Aber der „tiefe
Staat“ hinter dem Putsch besteht nicht nur aus den Überbleibseln von Ergenekon
und den Gülen-Rivalen von Erdogan. Der Arbeitsminister Süleyman Soylu teilte
Haberturk TV Folgendes mit: „Die USA stecken hinter diesem Putschversuch.
Verschiedene US-Zeitungen haben über mehrere Monate daran gearbeitet. Wir fordern
seit Monaten von den USA die Auslieferung von Fethullah Gülen. Die USA müssen
ihn ausliefern.“
Eine der Zeitungen,
auf die sich Soylu bezieht, ist unter anderem die Webseite des American
Enterprise Institute, wo im März ein Artikel von Michael Rubin mit dem Titel
„Könnte es in der Türkei zu einem Putsch kommen?“ veröffentlicht wurde. Darin
wurde Erdogans Schicksal mit dem des gestürzten ägyptischen Präsidenten Morsi
verglichen. Eine andere dieser Zeitungen ist 
 Washington Post, in der eine
Ansprache des ehemaligen US-Botschafters in der Türkei, Eric Edelman, Erdogan
aufforderte, „Reformen einzuleiten oder zurückzutreten.“
Könnte es sein, dass
Rubin und Edelman und ihresgleichen sogar die Bequemlichkeitsverbündeten des
Islamischen Staats dazu auffordern, terroristische Bombenanschläge in Istanbul
und Ankara zu verüben, um dem nervösen Militär einen Vorwand für einen Putsch
zu liefern? Ist denn der Putsch ein neokonservatives Mittel der „sanften
Macht“, um in der Türkei einen biegsameren Präsidenten an die Macht zu bringen?
Welcher ist Ihrer
Meinung nach der Grund für die frühzeitige Unterdrückung des Putsches? Warum
gelang es, dem Putsch sofort entgegenzuwirken?
Ein Glück für
Erdogan, dass das Militär nicht wie in Ägypten so monolithisch war wie in
kemalistischen Zeiten, in denen es von einem rücksichtslosen General angeführt
war, der eifrig daran arbeitete, die herangewachsene Demokratie zu
zerquetschen. Und die sozialen Medien spielten eine entscheidende Rolle in der
Mobilisierung der breiten Öffentlichkeit innerhalb von Minuten, um die Leute auf
die Straßen zu holen. „Es gibt keine größere Macht als die des Volkes“,
ermahnte der Präsident im Staatsfernsehen, während seine Anhänger gegen die
Meuterer an den Barrikaden kämpften. Die türkische Version der sozialen Medien
heizte den eigenen türkischen „Arabischen Frühling“ an.

Welche positiven
oder negativen Auswirkungen hat der gescheiterte Putsch auf die Zukunft der
Türkei, auf Erdogans Regierung und auf das Militär selbst?
Die Zukunft der
Türkei ist nach 15 Jahren Kontrolle immer noch in Erdogans Händen. Aber die
Zukunft sieht nicht rosig aus. Rückblickend ist der Drehpunkt in einer bereits
chaotischen internationalen Lage der ursprüngliche „Arabische Frühling“ von
2011. Bis zu jenem Zeitpunkt erschien der charismatische Erdogan wie ein neues
Gesicht der muslimischen Welt: ein schlauer, kluger Mann, der dem Imperium (den
USA und auch Israel) strotzte und versuchte mit dem Schreckgespenst der Türkei,
den Kurden und deren Partei, der PKK, Frieden zu schließen.
Aber ob nun durch
Hybris oder Pfusch, scheiterten diese Vorhaben. Seine „Null-Probleme“-Politik
mit den Nachbarn wendete sich in sein Gegenteil. Denn die Türkei ist nicht von
Freunden, sondern nur von Feinden umgeben.
2011 kehrte er in
Libyen Muamar Gaddafi den Rücken und 2012 seinem „Freund“ Bashar Assad. Libyen
wurde zu einem gescheiterten Staat und zu einem Hafen für Terroristen. Assad
wurde dazu gebracht, seine militärische Macht gegen eine kunterbunte Gang von
al-Qaeda und naiven Verwestlichten zu nutzen, um zu vermeiden, dass Syrien dasselbe
Schicksal trifft.
Aber Erdogan setzte
auf das falsche Pferd. Assad hatte sich geweigert, auf den Rat seines Freundes
Erdogan zu hören und den syrischen Staat zu teilen und der Opposition die Macht
zu übergeben, die inzwischen immer mehr von al-Qaeda Gruppen beherrscht war und
heute vom sogenannten Islamischen Staat angeführt wird; wobei dieser Islamische
Staat weder ein Staat noch islamisch ist. Assad weigerte sich, dem Westen zu
vertrauen, der ihn von Anfang an schon im Blickfeld behielt. 
Die syrische
Revolution, wurde im Unterschied zu Tunesien und Ägypten, weil sie vom
lybischen Beispiel gelernt hatte und das Militär auf Assads Seite stand, todgeweiht.
Seitdem geht es für die Türkei bergab. Russland verlor die Geduld, weil der
Westen ein solches Chaos veranstaltet hatte und nun auch von der Türkei unterstützt
wurde. So entschied sich Russland einseitig, sich Iran anzuschließen, um Assad
zu unterstützen und die Siege des IS rückgängig zu machen. Dies erfolgte in
einem verblüffenden Wechsel gezielter Bombenangriffe, die die USA und ihre
Verbündeten wortlos und schließlich erleichtert und gleichzeitig undankbar
ließen.
Der Höhepunkt kam mit
dem Abschuss der russischen Flugzeuge durch Erdogan, ein unwichtiges Ereignis,
angesichts der wahren Krise der syrischen Flüchtlinge. Sie waren das Ergebnis
seiner eigenen Handlungen. Sie strömten zusammen mit den Terroristen in die
Türkei. Als dann der Islamische Staat die implizite Unterstützung Erdogans
verloren hatte, gelangten seine Selbstmordattentäter nach Istanbul und Ankara.
Der Verzicht Erdogans
auf Assad wiederholt die Untergrabung durch die USA des letzten afghanischen
Führers Najibullah im Jahre 1992. Diese führte zur Stärkung der Taliban und
al-Qaeda, dem Islamischen Staat von heute. Die Syrer erfahren nun die
Wiederholung des Kollapses von Afghanistan, mit Millionen von Flüchtlingen,
einem falschen „Islamischen Staat“ und dem doppelten Spiel des Westens. Der
Unterschied besteht nur darin, dass diesmal die Türkei an Bord der Verschwörung
ist und es Russland überlassen wird, das Chaos wieder aufzuräumen.
Die Überbleibsel der
Kemalisten werden das Militär verlassen. Das ist aber keine rosige Zukunft. Wie
konnte Erdogan einen solchen Fehler begehen?

Welche Fraktionen
und Parteien in der Türkei könnten vom Putsch profitieren und welche nicht?
Die Gülenbewegung,
die in der Vergangenheit mit Erdogan verbündet war und hinter dem Putsch steht,
hat einen großen Verlust erlitten. Viele Schulen der Bewegung und ihr gesamtes
Vermögen wurden beschlagnahmt und ihre Mitglieder verhaftet. Der Putsch hat
Gülens Bewegung das Genick gebrochen.
Infolge der vom
Himmel gesendeten Atempause der letzten Woche erfindet sich Erdogan nun neu und
kehrt zu seinem Versprechen von 2003 bezüglich der „Null-Probleme“ mit den
Nachbarn zurück. Er entschuldigte sich bei den Russen, klärte schnell die
Missverständnisse mit Israel und verzichtete auf jeglichen Wunsch, ein
Übereinkommen mit den Gruppierungen des Islamischen Staates zu erzielen. Er
sendet sogar Friedenssignale nach Ägypten, obwohl es kein Übereinkommen mit dem
ägyptischen Putschisten geben wird.
Vielleicht werden ihm
seine wichtigsten Nachbarn, die Kurden, nach so langem Leid eine günstige
Gelegenheit verschaffen, obwohl er dort so hart durchgegriffen hat. Sogar als
Erdogan 2013 seinen Angriff gegen die Gülenbewegung startete, sah es so aus,
als würde diese blutende Wunde der türkischen Gesellschaft am Ende heilen. Nach
den Friedensangeboten auf beiden Seiten, hielt Abdullah Öcalan eine Ansprache
aus dem Gefängnis und forderte die militanten Anhänger der PKK, ihre Waffen
niederzulegen oder diese in den Nordirak zu bringen.
Die syrischen und
türkischen Kurden haben unter Beweis gestellt, die einzigen verlässlichen
Gruppen vor Ort zu sein, die den Biss haben, gegen den Islamischen Staat zu
kämpfen und dies auch tun werden. Und es waren sie, die es sogar geschafft
haben, den kochenden Erdogan gegen seine westlichen Verbündeten zu stellen. Nun
ist Erdogan aber darum bemüht, diesen syrischen Albtraum irgendwie zu beenden.
Der Putsch ist eine zeitgemäße Fanfare, die aufruft, gegen den gemeinsamen
Feind, den Islamischen Staat, zu kooperieren. Erdogan, Kurden, Russen, Iraner
und –verspätet—auch der Westen sind auf dieselbe Seite geschoben worden.

Der gescheiterte Putsch hätte nicht zu einem besseren Zeitpunkt kommen
und scheitern können. Erdogan wollte eine militärische Offensive gegen den
Präsidenten Assad in Syrien starten. Er wurde aber selbst geputscht. Aber er
wurde verschont. Wird Erdogan nun in der Lage sein, den weisen Spruch zu nutzen? Denn wie ein türkisches Sprichwort so schön sagt: „Egal, wie lange du den falschen Weg gegangen
bist, kehr um.“