General

In der Türkei schreibt das Volk Geschichte


Von
Denise Nanni, ProMosaik Türkei, 18.07.2016, deutsche Übersetzung von Milena Rampoldi, ProMosaik.
 
Freitagabend
war ich bei Freunden und wir waren gerade dabei, aus dem Haus zu gehen.
Plötzlich erreichte uns die Nachricht, dass Panzerwagen den Verkehr auf der
Bosporos-Brücke gesperrt hatten, aber in dem Moment wusste man noch nicht, worum
es genau ging. Wir kommen dann zu einer kleinen Polizeistation im Viertel von
Cihangir. Die offensichtlich irritierten Polizisten teilen uns mit, dass sich
im Lande gerade ein Putsch ereignet und sie nicht genau wüssten, was in den
anderen Landesteilen vor sich ging. Da beschließen wir, nach Hause
zurückzukehren. Inzwischen sind die Straßen leer geworden. Im Fernsehen wird von
verschiedenen Angriffspunkten berichtet: Das Amt des Generalstabs des
türkischen Militärs und die Polizeistation von Ankara sind eingenommen. Auch
eine Polizeistation von Istanbul wurde von den Soldaten des Putschs
angegriffen. Wenn man sich die Fernsehberichte so anhörte, sah es danach aus,
als wäre der Putsch erfolgreich gewesen. Es sah so aus, als gäbe es deshalb ein
Ausgangsverbot für das Volk. Da haben wir uns entschieden, die Stadt zu
verlassen, bevor die Ausgangssperre auch in Kraft trat. Unser Weg war lang und
dem Zufall überlassen. In der Zwischenzeit hören wir im Radio die Botschaft des
Staatspräsidenten Erdogan, der alle BürgerInnen aufforderte, auf die Straßen zu
gehen, um die Demokratie zu verteidigen. Und ganz plötzlich füllen sich die
Straßen mit Tausenden von Leuten. Als wir nach verschiedenen Routenwechseln und
über Umwege endlich zum Ziel kamen, verfolgten wir die restlichen Ereignisse im
Fernsehen mit. Panzer blockierten verschiedene Straßen, und die Menschenmenge strömte
auf die Straßen. Frühmorgens erhielten wir die Nachricht, dass der
Putschversuch erfolgreich vereitelt worden war. Dann erfuhren wir auch von der
Landung des Präsidenten Erdogan am Flughafen Atatürk in Istanbul.
Einige Bemerkungen zu den Ereignissen und ihren möglichen
Auswirkungen
Es sieht
so aus, als hätte der Eingriff der Bevölkerung den Putsch verhindert. Meiner
Meinung nach war auch der Informant, der die türkischen Geheimdienste darüber
in Kenntnis setzte, dass Freitagnacht ein Putsch geplant war, ausschlaggebend
zwecks Vereitelung dieses Putschversuches. Denn dadurch wurde das Militär
gezwungen, den Putsch vorzuziehen, der eigentlich mitten in der Nach um 4 Uhr am
Samstagmorgen geplant war.
Erdogan fordert das türkische Volk auf, einzugreifen. Die Aufforderung Erdogans war ausschlaggebend. Die
Bevölkerung reagierte. Unabhängig von der Partei- und ethnischen Zugehörigkeit
strömten die Menschen auf die Straßen: nicht nur in Ankara und Istanbul,
sondern im gesamten Land. Sie trotzten dem Militär. Ungefähr 5 Millionen
Menschen waren es den türkischen Medien zufolge. Dies beweist, dass die
Zivilgesellschaft viel reifer ist als viele dachten. Die Parteifeinde Erdogans
haben begriffen, dass es viel Schlimmeres geben kann als die Regierung des „Sultans“,
wie sie ihn nennen. Sie vereinten sich daher mit den AKP-Anhängern im
Widerstand gegen die Armee. Ein anderer bewundernswerter Aspekt besteht darin,
dass das Volk genau wusste, dass es sich gegen die Armee stellen würde. Und
nichtsdestotrotz strömte das Volk auf die Straße, so ganz ohne Waffen. Denn das
Volk wollte klar symbolisieren, dass es den Putsch durch einen friedlichen
Widerstand mit so wenigen Opfern wie möglich aufhalten wollte.
Die Putscharmee. Zu Beginn
der Operationen sah es so aus, als handelte es sich um einen Putsch seitens
einer Minderheit der Armee. Es erschien auch, als wären viele einfache Soldaten
(worunter Jugendliche, die seit wenigen Wochen den Militärdienst begonnen
hatten) den Befehlen von oben gefolgt, ohne zu wissen, Teil eines Ereignisses
zu sein, dass die Türkei 25 Jahre nach hinten katapultiert hätte. Sobald diesen
jungen Leuten dann klar wurde, was sie da gerade taten, legten sie die Waffen
nieder. Die Polizei und die Zivilisten umarmten und küssten diese jungen
Soldaten, als wollten sie sie trösten. Sie werden sich für nichts verantworten
müssen. Denn sie waren sich der Ereignisse nicht bewusst. In anderen Fällen, in
denen die Soldaten das Feuer gegen die Menschenmenge eröffneten, kam es zu
wahren Lynchvorfällen.
Samstag
sah es danach aus, als wäre der Putsch vorüber. Erdogan bat aber die
Bevölkerung immer noch, die Straßen zu besetzen, als fürchtete er, es wäre
alles noch nicht vorbei.  
Die Ereignisse während des Putschs. Sonntag erreichen uns dauernd Nachrichten verschiedener
Operationen der Armee im ganzen Land. Erst dann wurde mir klar, was für einer
großen Gefahr ich überhaupt entkommen war. Wir haben unter anderem erfahren,
dass in Ankara Bauern mit ihren Traktoren die Abflugpiste blockiert hatten, von
wo aus die F16 der Putschisten abfliegen sollten. Einige von ihnen haben ihr
Leben gelassen, bevor die Polizei eingreifen konnte, um die Putschsoldaten zu
fassen. Viele Zivilisten gaben in Istanbul ihr Leben, um das Gebäude des
Rathauses oder die Gegend um den Bosporus zu schützen. Diese sind nur einige
Beispiele, wie die Bevölkerung sich dem Putsch widersetzte und ihr Leben
opferte. Die Anzahl der Toten und Verhafteten nimmt jede Stunde zu. Und es ist
in den nächsten Stunden auch kein Ende in Sicht. Bisher wurden 6000 Menschen
verhaftet.
Die Verhaftung von Akin Öztürk. Der pensionierte General der Luftwaffe wurde als der Kopf
des Putsches oder als rechte Hand des Kopfes schuldig befunden und wurde am
Sonntag festgenommen.
Spannungen mit den USA.
Ein Grund, wofür die Menschen aller Parteien auf die Straße gingen, hatte
vielleicht damit zu tun, dass man schon einen Verdächtigen ermittelt hatte, der
die Zügel in der Hand hatte: und zwar Fetullah Gülen, eine sehr kontroverse
Persönlichkeit, die seit 17 Jahren im freiwilligen Exil in den USA lebt. Gülen stand
in der Vergangenheit Erdogan politisch sehr nahe. Nun hingegen ist er zu einem
offenen Feind der türkischen Regierung geworden. In der Nacht von Freitag zu
Samstag wurde schon förmliche Anklage gegen ihn erhoben. Wenige Stunden später
folgte die Erklärung von Gülen, er hätte mit der Sache nichts zu tun. Jetzt hat
die Türkei ihren Auslieferungsantrag gestellt. Es sollen auch schon Beweise für
seine Schuld erbracht worden sein. In der Zwischenzeit trennte die türkische
Regierung der NATO-Basis von Incirlik in der Nähe von Adana den Strom ab und
ließ sie von der Polizei belagern. Denn höchstwahrscheinlich waren die beiden
von den Rebellen genutzten Flugzeuge gerade aus Incirlik abgeflogen. Das Ganze
lässt die USA in einem gewissen Zwielicht erscheinen. Die Flüge aus der Türkei
in die USA wurden zeitweilig unterbrochen.
Ein Blick in die Zukunft. Am Samstag hielt Erdogan im Viertel von Üsküdar in
Istanbul eine Rede, in der er sich bei allen Parteiführern und bei der
Bevölkerung dafür bedankte, ihre Unstimmigkeiten überwunden zu haben, um das Land
und höchstwahrscheinlich auch sein eigenes Leben zu retten. Denn Freitagnacht
wurde das Hotel auf dem Marmarameer angegriffen, in dem der Präsident gerade
seinen Urlaub verbrachte. Er wurde nur wenige Minuten vor dem Angriff in Sicherheit
gebracht. Plötzlich machte für mich der Tweet des türkischen Journalisten
Tuncay Opçin aus Deutschland Sinn. Darin hieß es: „Sie werden dich im Bett
erhaschen und bei Sonnenaufgang aufhängen.“
Einige
sind der Meinung, Erdogan hätte das Ganze selbst inszeniert, um seiner
Regierung eine autoritäre Wende zu verschaffen. Aber ein Angriff dieser
Größenordnung und die bewiesenen Anklagepunkte gegen Gülen schließen meiner
Meinung nach diese Möglichkeit aus. Wenn die USA dem Auslieferungsantrag
gegenüber Gülen stattgeben würden, könnte man diese Möglichkeit dann vollkommen
ausschließen. Wenn die USA aber Gülen ausliefern, müssen sie indirekt auch ihre
eigene Verstrickung in die Sache zugeben und so auch die Unterstützung des
Putschs durch die US-Regierung. Und dies, glaube ich, wird niemals geschehen.
Was wir
nun hoffen müssen ist, dass Erdogan sich an die vereinte türkische Bevölkerung
erinnern und nicht vergessen wird, dass einige von ihnen ihr Leben gelassen
haben, weil sie seiner Aufforderung gefolgt waren, auf die Straße zu gehen. Wir
müssen nun hoffen, dass dieses Ereignis ihm die Augen geöffnet hat und er
seinen Worten treu bleiben wird, die Interessen des ganzen Volkes zu wahren und
nicht nur die seiner Anhänger, die ihn aus politischen oder wirtschaftlichen
Gründen unterstützen.