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Amelia Massetti von Artemisia: Für eine wahre Inklusion von Menschen mit Behinderung


Von Milena Rampoldi, ProMosaik e.V. – Ein wahres
und lebensnahes Interview mit  Amelia Massetti
von
Artemisia,
einem Netzwerk für italienisch-deutsche Familien mit Kindern oder
Familienmitgliedern mit Behinderung in Deutschland. Amelia weist uns den Weg
hin zur wahren Inklusion, jenseits der Fehltritte der deutschen
Inklusionspolitik. Amelia lebt zusammen mit ihrer Tochter Lia in Berlin. Es besteht
noch großer Handlungsbedarf, um eine wahre Interaktion zwischen Menschen mit
Behinderung und der deutschen Gesellschaft zu erzielen. Die Inklusion nach dem
italienischen Modell könnte in diesem Bereich nützlich sein, diese die Hoffnung
und Zielsetzung von Artemisia.

Foto: Sarah Seagull

Wie hast du
deinen Weg zu Artemisia gefunden?

Meinen Weg zu
Artemisia habe ich über Rete Donne gefunden. Als ich erfuhr, dass es in
Berlin die Plattform für italienischen Frauen im Ausland Rete Donne gibt, habe
ich mich gleich mit der Gruppe in Verbindung gesetzt. Und schon beim ersten
Treffen habe ich mich bereit erklärt, ihr meine Kompetenz im Bereich der
Behindertenerziehung anzubieten. Ich habe auch Eltern oder Familien mit Kindern
mit Behinderung in Deutschland meine Kompetenz angeboten.
Daraufhin wurde
eine Reihe von Treffen zum Thema abgehalten. Ich wurde dann auch damit
beauftragt, ein Projekt auszuarbeiten. Das Ganze ist aber schneller gewachsen
als ich mir zu Beginn vorgestellt hatte. Ich entwickelte zahlreiche Ideen. Das
Projekt erweiterte sich und wird sich noch in verschiedene Richtungen
weiterentwickeln. Ich definiere es als ein Projekt in stetigem Wandel. Es
wächst je nach den verfügbaren Energien und Synergien, die auch von Draußen,
d.h. von den Menschen kommen, die uns unterstützen und ihre Fähigkeiten im
Bereich der Behindertenarbeit anbieten. Artemisia kam eher zu mir, als ich zu
Artemisia. Denn Artemisia hat mich angespornt, diese Ideen weiterzuentwickeln
und eine Plattform zu gründen, die ausgehend von Berlin als Bezugspunkt für
italienische Familien mit Kindern mit Behinderung in Deutschland dienen soll.
Dieses Thema betrifft nämlich ganz Deutschland. Wir brauchen eine Anlaufstelle,
wo wir über diese Themen sprechen können. Auch wenn man die deutsche Sprache
beherrscht, gibt es komplexere Themen, die man nur in der eigenen Muttersprache
ausdrücken kann. Und so entsteht eine zweifache Diskriminierung für ein
italienisches Elternteil oder allgemein für einen Ausländer mit einem Kind mit
Behinderung in Deutschland. Und dies führt zu Isolation und Frustration. Daher
habe ich es für erforderlich angesehen, dieses Projekt ins Leben zu rufen.
Welche sind die
Hauptzielsetzungen von Artemisia?
Artemisia verfolgt
das Ziel, eine Anlaufstelle zu schaffen, in der sich italienisch-deutsche
Familien mit Kindern mit Behinderung treffen, ihre Erfahrungen austauschen und
Informationen über die Verwaltungsprozedur erhalten können- Sie können
gemeinsam dieses komplexe Thema angehen, das sich in einer fremden Kultur wie
der deutschen noch schwieriger gestaltet, wenn man die Sprache nicht
ausreichend beherrscht. Es ist ein Ort erforderlich, an dem man die eigene
Identität behaupten kann. Dies gilt nicht nur für die Eltern der Kinder mit
Behinderung, sondern auch für die Menschen mit Behinderung selbst. Sie befinden
sich hier und sind ausgeschlossen, auch in den zweisprachigen Schulen, wo mehr
Kompetenz in den beiden Sprachen verlangt wird. Es wird ihnen die Möglichkeit
genommen, sich mit der italienischen Kultur zu konfrontieren (dies geschieht
nur im Kreise der Familie), weil sie sich in Deutschland befinden. Einen Ort zu
haben, an dem ich meine Kultur leben, mich mit anderen Italienern und auch mit
anderen Kindern mit Behinderung aus derselben Kultur austauschen kann, ist
meines Erachtens wesentlich und somit auch die Zielsetzung… und wenn sich diese
Struktur dann in ganz Deutschland entwickelt, kann sie auch zu einer
politischen Plattform werden, um auf europäischer Ebene über das Thema der
Inklusion zu sprechen. Wir Italiener haben eine andere Kultur der Inklusion und
eine pädagogisch Methode. Und dies verspüren wir hautnah. Es geht somit darum,
eine Reihe von Vorteilen aufzuzeigen, wenn es um die Inklusion von Menschen mit
Behinderung geht. Wir tauschen die positiven Errungenschaften und die positiven
Aspekte Deutschlands aus und bieten auch unsere positiven Errungenschaften an,
um die Lebensqualität der Familien und Menschen mit Behinderung zu verbessern.
Es handelt sich somit um einen transnationalen Austausch.
Welche sind die
Haupthindernisse für eine wahre Inklusion in Deutschland?
Seit 2006
wendet Deutschland gemäß der Konvention über die Menschen mit Behinderung die
Möglichkeit der Inklusion an den Schulen an. Da die Anwendung der Inklusion
aber von den einzelnen Bundesländern abhängt, entscheiden Schulen, Familien und
Rektoren, die oft kein Interesse an einer Anwendung dieses Inklusionsprinzips
haben. Sie begründen dies oft mit dem Mangel an Finanzmitteln oder Anfragen von
Seiten der Familien mit Kindern mit Behinderung. So setzen sich die Eltern
weiterhin mit den Sonderschulen in Verbindung, da diese ja nicht vollkommen
abgeschafft wurden. In Italien hingegen gibt es keine Sonderschulen mehr. In
Italien wird seit 40 Jahren eine Methode angewendet, die die Inklusion als
Pflicht vorsieht. Die Schulen sind verpflichtet, Kinder mit Behinderung
aufzunehmen. Darin besteht der große Unterschied zu Deutschland. Italien
arbeitet seit 40 Jahren mit der Inklusion. In Italien haben wir eine völlig
andere Methode. Die Deutschen befinden sich noch in einer experimentellen
Phase. Darüber haben wir auch in der Gruppe von Artemisia gesprochen. Die
Deutschen sagen: gut, wir haben Schüler mit Behinderung in der Klasse. Sie
machen aber Nachhilfeunterricht mit einer anderen Methode in einem anderen
Bereich mit Erziehern, die sich um das Kind oder die Gruppe mit Behinderung
kümmern. Das ist aber eher ein Parkplatz und bedeutet eher Ausschluss als eine
wahre Inklusionsmodalität. Denn Inklusion bedeutet, dass das Kind mit
Behinderung in Begleitung einer Fachkraft mit der Klasse zusammenarbeitet. Es
gibt keine Nachhilfelehrer für Schüler mit Behinderung wie beispielsweise in
Italien. Diese Modalität muss in Deutschland reformiert werden.
Die deutsche
Entscheidung zu Gunsten der Inklusion ist auf jeden Fall wesentlich, da im
gesamten Land ein Dominoeffekt entsteht. Aber es sei darauf hingewiesen, dass
Italien die Inklusion viel früher einführte. In Deutschland hört man oft nicht
auf die Vorschläge und 
Eingliederungsmöglichkeiten der italienischen Lehrer, die eine andere
Empfänglichkeit in diesem Sinne haben. Aber genau diese Methode sollte man
anwenden. Daher müssen wir als Gruppe Artemisia eine stärkere, politische
Valenz erzielen. Wir müssen die Bedeutung unserer pädagogischen Methoden und
die Schwierigkeiten in Deutschland auf diesem Gebiet aufzeigen. Sogar die
Lehrer tun sich schwer, anderen Lehrern den Begriff der Inklusion zu erklären.
In Deutschland müssen wir noch viel gemeinsam arbeiten, besonders in den
zweisprachigen Schulen, da sich das Problem der Zweisprachigkeit für die
Menschen mit Behinderung viel schwieriger gestaltet. Genau an dieser Stelle
wird es noch komplexer zu erklären, dass die Menschen mit Behinderung den
Besuch einer zweisprachigen Schule benötigen. Denn ansonsten verlieren sie ihre
ursprüngliche Identität. Man darf somit nicht ausschließen, dass Menschen mit
Behinderung auch zwei oder drei Sprachen erlernen können. Ich kann bestätigen,
dass meine Tochter mehrere Sprachen versteht. Aktiv kann sie aber nur Deutsch.
Hätte sie aber eine zweisprachige Schule besucht, hätte sie die Möglichkeit
gehabt, sich auch auf Italienisch auszudrücken. Aber dies war bis vor wenigen
Jahren undenkbar. Auch für die Menschen mit Behinderung ist das Erlernen
mehrerer Sprachen nicht ausgeschlossen. Vor kurzem durchgeführte Studien zum
Thema bestätigen, dass diese Theorie sich auch auf Menschen mit Downsyndrom
anwenden lässt. Das ist der Punkt. Und man muss berücksichtigen, dass die
Inklusion in Deutschland ein komplexes Problem darstellt. Es ist auch komplex,
weil viele verschiedene Religionen und Kulturen zusammenleben. Der Respekt von anderen
Kulturen und die Inklusion sind miteinander verbundene Themenbereiche. Nicht
nur ich muss die Kultur des Anderen akzeptieren. Wir müssen uns in der Mitte
treffen, ohne dass der Andere seine kulturelle Identität verliert. Wir wollen
uns nicht von den Menschen, die in einem anderen Land leben, assimilieren
lassen. Das ist die wichtige Botschaft, die wir über das Netzwerk Artemisia
verbreiten möchten.
… Deutschland
muss noch sehr viel daran arbeiten und verstehen, was Inklusion bedeutet. Ich
erinnere mich an die Grundschulzeit meiner Tochter in einem
Pilotinklusionsprojekt hier in Berlin… ich hatte große Schwierigkeiten, den Lehrern
klar zu machen, was Inklusion für mich bedeutete… Dasselbe Problem hatte ich
auch mit den Eltern. Ich erinnere mich an die Treffen… Meine Tochter wurde
nicht zu den Geburtstagen eingeladen. Und ich lud immer alle ein, organisierte
große Feste und dachte mir, die Inklusion so zu schaffen. Und dann hörte ich
Eltern, die mir sagten, sie hätten Angst, Lia einzuladen, weil sie nicht
wussten, wie sie mit ihr umgehen sollten. Anstatt so zu handeln, braucht man
doch nur die Mutter zu fragen. Aber es gab keinen Anreiz. Die Lehrer sprachen
nicht mit den Eltern. Sie forderten sie auch nicht dazu auf, die Kinder mit
Behinderung aufzunehmen und einzuladen. In Italien hingegen lädt man auch Kinder
mit Behinderung ein. Die Inklusion ist eine Arbeit, die Lehrer und Eltern
gemeinsam bewältigen müssen.
Welche sind die
positiven Entwicklungen der letzten Jahre in Deutschland?
Viele Schulen
versuchen Kinder mit Behinderung einzugliedern. Menschen mit Behinderung können
sich auch immer leichter in der Stadt fortbewegen. In der Überwindung der
architektonischen Barrieren für Menschen mit motorischen Problemen ist
Deutschland an erster Stelle in Europa. Es gibt auch immer mehr Ampeln mit
Audiosystemen für Blinde. Die Braille-Schrift wird in Museen und anderen
kulturellen Veranstaltungen immer mehr angewendet. Man bemüht sich in
Deutschland sehr um die Inklusion der Menschen mit Behinderung. Aber es fehlt eine
sozial-inklusive Beziehung. An dieser Stelle muss man noch viel tun. Die
Sonderschulen, die Sonderdiskotheken und die vom normalen Leben abgegrenzten
Orte müssen geschlossen werden. Hier muss man anpacken. Das Problem besteht aber
auch darin, dass viele Familien einen geschützten Ort dem Gefühl der Inklusion
in der Gesellschaft vorziehen. Ich glaube, es wird noch Jahre dauern, um über
positive Veränderungen sprechen zu können, beispielsweise hinsichtlich der
Sexualität und des Zusammenlebens. Zurzeit gibt es städtische Wohnprojekte, die
sich nicht am Stadtrand befinden. Denn in der Vergangenheit befanden sich die
Wohngemeinschaften sehr oft am Stadtrand, wo sie teilweise bis heute
untergebracht sind. Dieser Aspekt ist wesentlich und entscheidend für die positive
Entwicklung der Inklusion. Natürlich bietet Deutschland aufgrund seines
stabileren Wohlfahrtsstaates, den Familien und Menschen mit Behinderung mehr
finanzielle Unterstützung. Diese können hier eine bessere Lebensqualität erzielen
und ein sichereres Leben führen als in Italien. Aber auf der sozialen Ebene
gibt es noch sehr viel Handlungsbedarf.
Wie wichtig ist
es, gemeinsam auf einer sozio-politischen Ebene zu handeln, um die Situation zu
verbessern?
Es ist wichtig,
gemeinsam zu handeln und zu arbeiten. Denn nur wenn sich die Menschen, die
Politik und die Institutionen gemeinsam mit den Menschen mit Behinderung und
ihren Familien einsetzen, um ihre Probleme zu verstehen und gemeinsame Wege zu
finden, ermöglicht man den direkt involvierten Menschen die Beziehung zu den
Behörden. Nur so können wir Veränderungen hervorbringen. Dies bedeutet
wirtschaftliche Planung, Chancen für Menschen mit Behinderung zwecks Zugangs
zum Schulleben und zur Arbeitswelt. Die Menschen mit Behinderung sollen nicht
in einer Arbeit in der Behindertenwerkstatt isoliert werden, wo sie nur mit
anderen Menschen mit Behinderung arbeiten. Die einschlägigen Gesetze müssen
geändert werden, um mehr Chancen zu schaffen. Die Menschen mit Behinderung
müssen die Möglichkeit haben, von Anfang an und nicht danach am Schulleben
teilzuhaben. Wenn ich von klein auf Kontakt zu Menschen mit Behinderung habe,
habe ich keine Angst vor ihnen, wenn ich erwachsen werde und lerne, mit ihnen
umzugehen. Das ist der Punkt. Und dies muss politisch umgesetzt werden, nicht
nur in Deutschland, sondern überall. Man muss Gesetzesänderungen einleiten und
wirtschaftliche Investitionen starten. Es handelt sich um eine dauernde Arbeit.
Die Stützlehrer müssen die passende Qualifikation erhalten, um die schulische
Eingliederung der Kinder mit Behinderung zu ermöglichen. Man muss mit den
anderen Lehrern und mit den Eltern zusammenarbeiten, die über viel Erfahrung
und Kompetenz verfügen. Ich wiederhole: es ist wesentlich, das Thema der
Diversität anzugehen. Denn wenn die Diversität mit Angst verbunden bleibt, ist
das ein großes Problem. Denn die Diversität betrifft alles: eine andere Kultur,
eine andere Hautfarbe, die Homosexualität, das Fremde, das Unbekannte. Wenn wir
diese Angst vor dem Anderen abbauen und großflächig und konstant daran
arbeiten, eignen wir uns den Begriff der Diversität an. Die Diversität treibt
meine Entwicklung voran. So finde ich eine Art und Weise, um mit dem Anderen,
der in mir ist, in Kontakt zu treten. Es ist nicht gesagt, dass Menschen, die
begabter sind, auch glücklicher sind. Es ist wesentlich, gemeinsam zu handeln,
indem man die verschiedenen Kompetenzen des Lebens erweitert.
Was können wir
von den Menschen mit Behinderung lernen?
Von den Menschen
mit Behinderung können wir sehr viel lernen. Wir können lernen, Freude für das
Notwendigste zu empfinden. Ich kann euch das Beispiel meiner Tochter mit
Down-Syndrom nennen, die sich mit dem Wenigsten zufrieden gibt. Und dann sehe
ich Andere, die nie zufrieden sind. Und dann sehe ich meine Tochter, die mit so
wenig glücklich ist. Wenn sie ein kleines Ziel erreicht, ist sie glücklich. Wenn
sie etwas alleine und selbständig schafft, macht sie das glücklich. Jeder
kleine Schritt war für sie eine große Errungenschaft. Sie war glücklich. Und
mir hat das viel Kraft gegeben. Und ich habe viel dazugelernt. Wir sind nie
zufrieden. Wir wollen immer mehr. Wir wollen alles besitzen und sind nicht
großzügig. Als Lia klein war, hat sie immer alles mit den Anderen geteilt. Ich
musste mich darum bemühen, ihr zu erklären, dass man nicht alles verschenken
kann. Auch für mich war dies schwierig, da ich auch eine großzügige Person bin.
Ich habe darin eine gewisse Form der Religiosität und der Nicht-Aneignung
verspürt. Man sollte darin eine große geistliche Fähigkeit sehen, die andere
Menschen nicht haben. Menschen mit Behinderung sind dazu fähig, Emotionen zu
verspüren. Die Intuition ist in ihnen sehr stark. Wir müssen diese intuitive
Fähigkeit aufnehmen. Sie unterstützt uns dabei, unsere intuitive Kompetenz, die
in uns steckt und die wir bei Seite gelegt haben, nicht zu verlieren. Dies
sollten wir von den Menschen mit Behinderung erlernen. Wir müssen auch die
Freude verspüren, die wir auf unserem Weg verloren haben. Vielleicht macht uns
das viele Wissen unglücklich. Das ist etwas, was mich immer schon fasziniert
hat, vor allem im Falle meiner Tochter.