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Jean-Claude Amara: „Im Mosaik von Droits devant !! begegnen sich der Künstler und der Papierlose, der Student und der Obdachlose, der Rentner und das Kind…

by Milena Rampoldi, ProMosaik e.V., herausgegeben von Fausto Giudice, Tlaxcala 12.01.2016.… der Afrikaner und der Bretone, der Maghrebiner und der Moldawier, der Mann und die Frau des Nordens und des Südens“


 

Jean-Claude Amara, Sprecher des französischen Vereins Droits devant !!(Rechte vor!!), ist Mitbegründer des Vereins Droit au logement (DAL, Recht auf Wohnung) und der internationalen Zivilkampagne für den Schutz des palästinensischen Volkes (Campagne Civile Internationale pour la Protection du Peuple Palestinien). Er ist auch der Verfasser des Buches Droits devant!!(2011). Wir hatten ein Gespräch
Milena Rampoldi: Für uns weist der „Aufruf der 58“ in dieser schwierigen Zeit für Frankreich eine ganze besondere Bedeutung auf. Kannst du uns die Motivationen und das Ziel des Aufrufs schildern?
Jean-Claude Amara: Der Aufruf der 58 wurde gleich nach dem Ausruf des Ausnahmezustandes durch die Regierung am 16. November 2015 ins Leben gerufen. Die Regierung wollte sich nicht nur der Herausforderung der terroristischen Bedrohung stellen, sondern schon eher jegliche Demo verbieten, die sich für den Kampf für die Gleichberechtigung einsetzt. Am 22. November, 9 Tage nach den Attentaten vom 13. November, haben wir, verschiedene Organisationen, worunter auch Droits devant!!, den Entschluss gefasst, diesem Verbot zu trotzen, indem wir eine Demo zur Unterstützung der Einwanderer organisierten. Nach dieser Demo wurden 58 von uns, die während der Demo fotografiert worden waren, in verschiedenen Polizeistationen verhört. Nach diesen Verhören war es für uns alle klar, dass wir im Falle einer Teilnahme an einer verbotenen Demo verfolgt werden würden. Denn der Ausnahmezustand war ausgerufen worden, wie es schon 1955 während des algerischen Befreiungskrieges der Fall gewesen war. 

Trotz dieser Einschüchterungen organisierten wir am 26. November eine Zusammenkunft und am 29. eine neue Demo, die beide verboten wurden und zu einer absolut unverhältnismäßigen Polizeirepression und zur Verhaftung von 300 Personen führte, die dann alle am nächsten Tag wieder freigelassen wurden. Wir bestanden aber darauf, und die Regierung fing an, vor unserer Entschlossenheit zurückzuschreiten, indem sie das Versammlungsverbot ausschließlich auf die Avenue des Champs-Élysées und die Umgebung des Bourget beschränkte, wo das internationale COP 21-Treffen stattfand. Somit genehmigte die Präfektur zum ersten Mal seit dem 13. November eine Demo der Arbeitslosen und Menschen in prekären Beschäftigungsverhältnissen, die am 6. Dezember stattfand. Am 12. Dezember versammelten sich 20 000 Menschen in der Nähe des Eiffelturms, auf dem Champ de Mars infolge der COP 21, auf Aufruf des Netzwerkes ALTERNATIBA, an dem Droits devant!! seit mehreren Monaten teilnimmt.  

Seitdem fanden andere Demos statt, im Besonderen die zwecks Unterstützung der Migranten vom 19. Dezember, die 3500 Menschen zusammenbrachte, und die vom 5. Januar zur Unterstützung des palästinensischen Volkes, und weitere Demos werden  stattfinden. Die Verfolgungen der 58 sind fallengelassen worden. Es entstand eine breite Gruppierung von ungefähr 100 Organisationen, die auf Dauer eine nationale Bewegung gegen die Verewigung des Ausnahmezustands darstellen wird, und die absolute Verweigerung seiner Eintragung in die französische Verfassung anstrebt.

Dieser erste Sieg ist das Ergebnis der Konvergenz, der soliden Einheit, der Entschlossenheit der Bewegungen die, vor allem dank der langen Erfahrung der kollektiven Kämpfe des DAL und von Droits devant!! an der vordersten Front, Breschen geschlagen haben, wo vorher einige dachten, es handelte sich um eine unüberwindliche Mauer.
Wir werden nie dem dauerhaften Terrorzustand nachgeben, der von einer Regierung aufrechterhalten wird, die hinter dem roten Tuch des Sicherheitsstaates, mit dem Beistand von sklavischen Medien, von einer erstarrten öffentlichen Meinung erlitten wird und versucht, sich der vollständigen Aufgabe des Kampfes für die gleichen Rechte zu entledigen. Wir werden nicht hinnehmen, dass ein „innerer Feind“ erzeugt und stigmatisiert wird, der all die zusammenfasst, die „von anderswo kommen“, keine Papiere haben oder Jugendliche in den Vorstädten sind. Wir werden auch nicht hinnehmen, dass sich eine Islamfeindlichkeit entwickelt und banalisiert wird, die die Front national begünstigt und Hollande und sein Umfeld in ihrer politischen Kleinkrämerstrategie unterstützen, um, ganz nach dem Beispiel von Mitterrand, die Rechten in den Wahlen von 2017 zu schwächen. 
Deswegen waren die Organisation und Einheit der Papierlosen nie so wesentlich. Denn die politische Reife und Legitimität all dieser Genossinnen und Genossen, die nach zwanzig Jahren harter Kämpfe erreicht wurden, werden einen Schwerpunkt darstellen, um durch ihre Entschlossenheit langfristig eine soziale Front eines transparenten und sichtbaren Kampfs und einen Schutzwall gegen die Verbreitung des Faschismus in Frankreich zu errichten. Es war nie so wichtig, im eigenen Denken und in den eigenen Handlungen das Motto umzusetzen, nach dem der Angriff die beste Verteidigung ist. 

Ein Dach, ein Recht!
MR: Welche sind die Hauptziele von Droits Devant!!? Wie kann man den Kampf der Papierlosen  mit dem Kampf für die soziale Gerechtigkeit und gegen den Rassismus und die Islamfeindlichkeit verbinden? Wie muss sich unser Kampf nach den letzten Wahlen in Frankreich ändern? Was kann man gegen Marine Le Pen und ihre WählerInnen unternehmen? 
JCA: Im Oktober 1990 wurde der Verein Droit Au Logement (DAL, Recht auf Wohnung) gegründet. Damals wurde er von einer kleinen Gruppe von Militanten (Einwanderern und Franzosen) organisiert.
Neben seiner Hauptforderung der Beschlagnahme leerstehender Immobilien, vergrößerte sich DAL sehr schnell und nahm in den ersten Jahren Tausende Menschen mit schlechten Wohnbedingungen und Obdachlose in seinen Reihen auf.
In diesen Jahren besetzten wir Dutzende leerstehender Immobilien, organisierten Lager und Veranstaltungen in dauernder Konfrontation mit den Behörden und der Regierung. Es gelang uns, Hunderte von Wiederansiedlungen und darauffolgende Fortschritte im Bereich der Anerkennung des Rechts auf Wohnung für alle zu erreichen.  
Am 18. Dezember 1994 haben wir, nach vier Jahren intensiven Kampfes des DAL, entschieden, starken Druck auszuüben, um die Regierung zu zwingen, das 1945 verabschiedete Beschlagnahmegesetz für die leerstehenden Immobilien anzuwenden, das seit Jahrzehnten von den darauffolgenden Regierungen in die Schublade gelegt worden war.
Im Rahmen dieser Initiative, die sich an ganz Frankreich wandte und auch jenseits der französischen Grenzen bewegte, haben wir den Entschluss gefasst, auch einen Verein zu gründen, der sich jenseits des Rechts auf Wohnung, für die Gleichheit der Rechte in ihrer Gesamtheit (Papiere, Arbeit, Kultur, Gesundheit…) einsetzt.
An diesem 18. Dezember besetzten um die 1000 Menschen, wovon 250 schlecht untergebrachte Menschen und Obdachlose, die sich darin niederließen, ein riesiges Gebäude von 12.000Quadratmetern, in der Strasse  du Dragon, im Zentrum von St-Germain des Prés, das einem der größten Händler Frankreichs, dem Unternehmen COGEDIM, gehörte.
In diesem Moment entstand, in diesem eroberten und verführten „Drachen“, der Verein Droits devant !!, unter dem gemeinsamen Vorsitz des Sângers Jacques Higelin, des Genetikers  Albert Jacquard und des Arztes Léon Schwarzenberg und des aus der Kirche ausgeschlossenen Bischofs Jacques Gaillot. Ich selbst hatte das Amt des Generalsekretärs inne.
Dreizehn Monate einer unglaublich dichten Besetzung, die noch einmal zur Wiederansiedlung von 250 Menschen mit schlechten Wohnbedingungen und Obdachlosen führte. Dieser Zeitraum erlaubte dem Verein Droits devant !! auch, sich zu festigen und Fuß zu fassen, indem er seine Aktionen in seinen drei Hauptbereichen durchführte: Kampf und Solidarität  – Kreation und Kultur – Wissensaustausch.  
Im Mittelpunkt unseres „Dragon“, entfalteten sich diese drei Bereiche dann durch die Gründung einer Volkshochschule, die sich sehr schnell als ein wahrer Schmelztiegel der Reflexion, des Handels und der Debatten behauptete.
Die Volkshochschule stützte sich auf der dauernden Konfrontation und der dauernden Debatte zwischen den „OHNE (SANS)“ (ohne Papiere, ohne Arbeit, ohne Wohnung…) und den „MIT (AVEC)“ (Forschern, Künstlern, Akademikern….). Dies ermöglichte die Erarbeitung eines gemeinsamen kulturellen, sozialen und politischen Sockels, der ein wesentliches Prinzip umsetzte, das jede kollektive, kämpferische Kraft anwenden muss, und zwar Analyse, Pädagogik und kollektives Handeln.
In allen Kämpfen der letzten 15 Jahre hat sich Droits devant !! immer an dieses Prinzip gehalten, nach dem man von der Wirkung auf die Ursache schließt und jegliche Notsituation auf ihren Hintergrund zurückführt.
Beispielsweise müssen die Ursachen ermittelt werden (Landraub, Verarmung, Plünderung), die im südlichen Teil unserer Welt Hunderttausende Menschen zur Auswanderung zwingen. Genau diese Menschen bilden dann im Norden den langen Zug dieser modernen Sklaven ohne Papiere. Dies ist wesentlich, um das Übel an der Wurzel zu packen.
Unser langjähriger Kampf an der Seite des palästinensischen Volkes gegen die Apartheid und den Kolonialismus ist genauso wesentlich. Denn jedes Recht, das sich dieses seit 60 Jahren vollkommen straffrei gedemütigte und unterdrückte Volk erobert, stärkt den Geist und den Kampf der Beleidigten, Unterdrückten und Gedemütigten der ganzen Welt.
 Um die Verbreitung der Armut, der Ausschlüsse und der sozialen Unsicherheit  besser bekämpfen zu können,  muss den meisten Menschen klargemacht werden ,  dass die soziale, wirtschaftliche und kulturelle Globalisierung  deren Hauptursache ist,  wenn gleichzeitig die Reichtümer noch nie zuvor so opulent und schlecht verteilt waren. Dies ist eine sehr langwierige Bemühung, ohne die man die Gleichheit der Rechte nicht erlangen kann. 
Im Mosaik von Droits devant !! begegnen sich der Künstler und der Papierlose, der Student und der Obdachlose, der Rentner und das Kind, der Afrikaner und der Bretone, der Maghrebiner und der Moldawier, der Mann und die Frau des Nordens und des Südens. 
In einer Gesellschaft, die unter ihrer kulturellen, intellektuellen und geistigen Leere leidet, möchte Droits devant!! die Politik und die Poetik, die Ebene der Fantasie und der Forderungen miteinander verbinden, um einen öffentlichen Raum zurückzuerobern, in dem Bullen, Überwachungskameras, Gleichgültigkeit und Gewalt die Solidarität, Spontaneität, Poesie und den langen und hartnäckigen Schrei aus UNSEREN Straßen verdrängt haben. 
Wir sind die Erben der Revolution der Sansculotten von 1789, der Pariser Kommunarden von 1871, der Volksfront von 1936, der Barrikaden von 68 und werden es auch in Zukunft sein. Wir sind die Kinder von Hugo, Voltaire, Diderot, Zola, Louise Michel, Saint-Just, Robespierre… Lauter Ereignisse, Männer und Frauen, deren großer Hauch der Gerechtigkeit und Freiheit sich in unsere Gedanken, Emotionen und Rebellionen einschreibt.
Sandkörner im Getriebe des allmâchtigen Profits, Wurzelstöcke in Brachfeldern, werden wir uns weiterhin vermehren, jenseits von Heeren und Grenzen, Raubiedlern und Folterern, Bergen und Meeren, Stacheldrahtzäunen und Wachtürmen.
SIE globalisieren die Unterdrückung, WIR globalisieren die Widerstände.