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Warum es keinen „Islamischen Staat“ gibt!


von Islamiq, 21 November 2015.
Sprachlich haben Pegida und IS mächtige Verbündete in Deutschland.
Riskante Sprachbilder prägen den Diskurs und führen zur Pauschalverurteilung und
verzerrter Wahrnehmungen realer Verhältnisse. Höchste Zeit für ein Umdenken!
Ein Kommentar von Dr. Elisabeth Wehling.

 

In Deutschland grassiert die
Angst vor dem Islam. Und das nicht erst seit den Pegida-Aufmärschen und dem
Anschlag auf das Pariser Satiremagazin Charlie Hebdo. Nach aktuellen Studien
fühlen sich 57 Prozent der Deutschen vom Islam bedroht. Umfragen von 2005
zeigen darüber hinaus, dass über 60 Prozent meinen, vom Radikal-Islamismus
besessene Terroristen fänden bei anderen Muslimen starken Rückhalt und würden
von ihnen als Helden verehrt.
Während dieses Lauffeuer
viele Bürger ratlos den Kopf schütteln lässt, liegt seine schnelle Verbreitung
aus kognitionslinguistischer Perspektive fast schon unerhört deutlich auf der
Hand. Pegida und radikal-islamistische Terroristen haben nämlich aus
sprachlicher Sicht mächtige Verbündete in Deutschland: die Politik und die
Medien. Gleich welcher Couleur, sie leisten ihnen Beistand, wenn es um die
Verbreitung von Angst vor dem Islam und die Verharmlosung anti-muslimischen
Gedankenguts geht. Ungewollt, sicherlich. Aber dennoch höchst effektiv.
Unsere öffentliche Debatte
ist von riskanten Sprachbildern geprägt. Radikal-islamistischer Terrorismus
wird von uns über Begriffe wie „Islamischer Staat“, „Gotteskrieger“ und
„Gottesstaat“ sprachlich zum Protoyp des Islams erhoben, während eine
anti-muslimische Geisteshaltung zugleich über die Bezeichnung „Islamophobie“
als Angststörung bagatellisiert wird.

Wie wir uns über die öffentliche „Islam“-Debatte
unser Denken einreden

Das ist ganz und gar nicht „nur“ ein sprachliches
Problem, es ist ein kognitives Problem. Denn Worte aktivieren und propagieren
Frames in unseren Köpfen. Dieses Konzept der Kognitionswissenschaften lässt
sich mit „Deutungsrahmen“ übersetzen. Wann immer wir ein Wort hören oder lesen,
aktiviert unser Gehirn automatisch einen Frame, der es innerhalb unseres
abgespeicherten Weltwissens einordnet, um ihm eine Bedeutung zu geben. Frames
umfassen immer sowohl semantische Rollen als auch Schlussfolgerungen über deren
Natur und Beziehung zueinander. Das Wort „Kind“ beispielsweise aktiviert einen
Frame, der auch die semantischen Rollen Mutter und Vater birgt, und diese in
der Beziehung zum Kind als Elternschaft definiert. Schnell wird deutlich: Wann
immer wir ein Wort nutzen, aktivieren wir eine Fülle von Ideen und
Schlussfolgerungen, die weit über das eigentliche Wort hinausgehen.
Sprache aktiviert aber nicht nur Frames, sie
stärkt diese auch in unserem Gehirn. Der Prozess heißt Hebbian Learning: Je
öfter Ideen als zusammenhängend kommuniziert werden, umso stärker wird ihre
synaptische Verbindung. Dabei ist es für unser Gehirn völlig egal, ob wir eine
Idee kritisieren, negieren oder uns anderweitig rhetorisch von ihr
distanzieren. Sobald wir sie benennen, wird der entsprechende Frame aktiviert
und gefestigt. Unser Gehirn kann nämlich nicht isoliert „nicht“ denken. Wenn
ich schreibe: „Denken Sie nicht an den Kopf einer schwarzen Taube“ denken Sie
natürlich sofort an den Kopf einer schwarzen Taube. Und vielleicht auch an
Michel Houellebecqs jüngst erschienenen Roman, sollten Sie das Buchcover
bereits mehrfach gesehen haben.
Wir müssen Dinge, die es zu
verneinen gilt, zuallererst einmal begreifen. Dem kognitiven Apparat ist es
gleich, wie wir über „Islamophobie“ sprechen, ob wir sagen, der „Islamische
Staat“ benenne sich zu unrecht als solcher, uns in Diskussionen über
„Gotteskrieger“ von dem Konzept mittels „sogenannte“ oder „selbsternannte“
distanzieren oder Begriffe direkt in Anführungszeichen setzen. Solche Maßnahmen
sorgen zwar für politische Korrektheit im Diskurs. Doch kognitionslinguistisch
gesehen landen sie irgendwo zwischen vergebener Liebesmüh und grober
sprachlicher Fahrlässigkeit.
Diese Sprachbilder sind
riskant, weil wir heute wissen, dass Frames der Dreh- und Angelpunkt
politischer Meinungsbildung und politischen Handelns sind, und zwar ohne dass
wir dies merkten, denn nur geschätzte zwei Prozent unseres Denkens sind uns
überhaupt bewusst.
Wenn es um Frames geht, die
den Zielen anti-muslimischer Strömungen wie Pegida und vom Radikal-Islamismus
besessener Terroristen dienen, so haben beide Gruppen in Deutschland
einflussreiche Freunde: von links nach rechts und durch alle Medien spielt
unsere Debatte ihnen sprachlich und kognitiv direkt in die Hände.

Von Angsthasen und der Neudeutung einer
Weltreligion

Zum Beispiel mit dem Begriff
„Islamophobie“, der spätestens zum Jahr 2015 in unserem öffentlichem
Bewusstsein vollends seinen Platz gefunden hat. Das Wort wurde in den
Neunzigern in England in Anlehnung an die „Xenophobie“, die
Fremdenfeindlichkeit, geprägt und ist heute ein gern gesehener Gast in
deutschen Debatten. Welcher Frame wird aktiviert, wenn wir den Islam
metaphorisch in das Phobie-Konzept einbetten?
Der Phobie-Frame impliziert
zunächst einmal im Kern panische Angst. Wir nutzen das Konzept häufig im
nicht-medizinischen Sinne. Viele von uns leiden fernab jeder Diagnose an
Spinnenphobie, Klaustrophobie oder Sozialphobie, was automatisch zu der
kollektiven Wahrnehmung führt, eine Phobie nachvollziehen zu können. Spinnen
sind schon irgendwie Angst einflößend, enge Räume und soziale Anlässe auch. Und
der Islam? Durch den Phobie-Frame wird eine anti-muslimische Haltung
bagatellisiert und zugleich partiell als „der Natur des Auslösers“ geschuldet
legitimiert.
Die Frame-Semantik führt zu
erstaunlichen Resultaten: Phobie-Patienten leiden an einer Angststörung, sie
sind die Opfer der Situation, sie reagieren mit Rückzugsverhalten. Indem man
den Islam metaphorisch als Angsttrigger in diesen Frame einbettet, werden anti-muslimische
Agitatoren zum Opfer eines Leidens, die sich verängstigt zurückziehen, während
Muslime unbehelligt bleiben. Der Frame einer Phobie impliziert Angst, nicht
Feindseligkeit oder Hass, und profiliert Muslime als geeignete Angstauslöser.
Und nicht zuletzt spricht er den metaphorischen Phobie-Patienten die volle
Verantwortung für ihr Handeln ab, denn wer an einer Phobie leidet, reagiert
panisch und ist dabei nicht immer voll zurechnungsfähig.
Deutsche Debatten nutzen den
Phobie-Frame nur für zwei Typen sozialer Aggression, Islamophobie und
Homophobie. Man muss sich wohl glücklich schätzen, dass er nicht auch
andernorts linguistisch en vogue wurde. Frauenphobie statt Frauenfeindlichkeit?
Judenphobie statt Judenfeindlichkeit? Arbeiterphobische statt
arbeiterfeindliche Gesetze?
Der Begriff „Islamophobie“
ist mehr als nur prekär, ich halte ihn für gefährlich. Anti-muslimisches Denken
ist eine Geisteshaltung, keine Angststörung. Und Agitation gegen Muslime
geschieht nicht im Affekt. Ein zweites Problem unserer aktuellen Debatte ist
der „Islamische Staat“, der sich als zentrale Bezeichnung für die
radikal-islamistische Terrormiliz im Irak und in Syrien durchgesetzt hat. Zwar
nutzt man oft noch Anführungszeichen oder spricht von der „Terrormiliz ‚Islamischer
Staat’“; doch wo die Abkürzung IS vorherrscht, hat sich vorrangig der männliche
Artikel durchgesetzt – also „der“ Islamische Staat, nicht „die“ Terrormiliz. Es
ist unerheblich, mittels welcher rhetorischen Mittel eine Abstandshaltung zu
der Idee eingenommen wird, denn unser Gehirn aktiviert sie ja in jedem Fall in
ihrem vollen Glanze.
Indem wir vom „Islamischen
Staat“ sprechen, werben wir für einen Frame von der Miliz als islamisch. Das
hat Konsequenzen: Das Islam-Konzept ist, wie alle anderen Weltreligionen auch,
eine semantisch recht lose gefasste Kategorie, ein sogenanntes Contested
Concept, das vieles unter sich vereint – verschiedene große und kleine
Untergruppen, aus dem Koran abgeleitete rechtliche Regelungen, soziale Normen,
Bräuche und Politik. Contested Concepts sind besonders offen für ideologisches
Reframing, also „Umdeuten“, denn sie müssen ständig von uns mit
framesemantischen Strukturen ausstaffiert werden, um einen greifbaren Sinn zu
haben. Über den Begriff „Islamischer Staat“ staffieren wir das Konzept derzeit
mit Frames radikal-islamistischen Terrors aus. Unsere Gehirne „erlernen“ just
in diesem Moment über den Mechanismus des Hebbian Learning eine neue Bedeutung
des Islam-Konzepts, wir aktualisieren sprachlich unseren Islam-Prototyp, indem
wir den terroristischen Radikal-Islamismus immer und immer wieder mit dem Wort
„Islamisch“ verbinden.
Darüber hinaus aktiviert der
Begriff einen Frame, der die Miliz als Staat begreifbar macht. Mit diesem
Sprachgebrauch billigen wir ihr zu, was sie anstrebt und sprachlich bereits in
die Welt gesetzt hat – während die Miliz in Syrien und dem Irak einen Staat
erst noch mit Gewalt zu erzwingen versucht, etablieren wir diesen Staat in
vorauseilendem Gehorsam schon einmal in unseren Köpfen.
Die Begriffe „Gotteskrieger“
und „Gottesstaat“ tragen die neue Deutung des Islam-Konzepts mit. Die
aktivierten Frames machen radikal-islamistische Terroristen als „Krieger
Gottes“, die den „Staat von Gott“ anstreben, begreifbar und damit zu den wahren
Vertretern des Islam. Sie arbeiten – so unser Sprachgebrauch – direkt in Gottes
Auftrag.
Und wir bestätigen sie darin,
wenn wir den Begriff „Ungläubige“ übernehmen. Der Begriff „Ungläubige“ wird für
Nicht-Muslime ebenso wie für nicht-radikale Muslime genutzt. Während er der
Tatsache entspricht, dass Nicht-Muslime insofern ungläubig sind, als sie nicht
dem Islam anhängen, macht der Frame auch nicht-radikalisierte Muslime als
Ungläubige begreifbar. Er trägt seinen Teil zur Definition des neuen
Islam-Prototyps bei, indem er nicht-radikale Muslime gedanklich gleich völlig
aus dem Konzept „Islam“ hinaus katapultiert.
Die gedankliche Renovierung
des Islam-Konzepts wird kognitiv zusätzlich über ein Phänomen befeuert, das wir
in der Kognitionswissenschaft als Salient Exemplar Effect kennen. Wenn wir
wiederholt mit emotional eindrucksvollen Bildern oder Sprachbildern
konfrontiert werden, wirkt sich dies auf unsere Einschätzung von
Wahrscheinlichkeiten aus – und zwar so, dass wir Dinge als viel typischer und
verbreiteter einschätzen, als sie sind.
Unser Gehirn registriert etwa
grausame Szenen in der Berichterstattung als unverhältnismäßig bedeutsam. Man
kann diesen Aspekt des Salient Exemplar Effects auch lose als „kollektives, medial
induziertes Mini-Trauma“ bezeichnen. Und zwar sowohl was seine Entstehung als
auch seine Auswirkung betrifft, denn Traumata führen unter anderem zum
gedanklichen „Aufblasen“ möglicher Gefahrenszenarien rund um das traumatische
Kernerlebnis – was in diesem Falle Köpfungs- oder Attentatsvideos oder
bildhafte Beschreibungen von Vergewaltigungen und Steinigungen sein können.
Salient Exemplars funktionieren im Hebbian Learning sozusagen als synaptischer
Superkleber und zugleich Soundverstärker. Begriffe, die durch Salient Exemplars
untermauert sind, entwickeln eine enorme kognitive Zugkraft und wirken sich
dementsprechend stark auf unsere Wahrnehmung und unser Handeln aus.
Die linguistische
Traummannschaft „Islamischer Staat“, „Gotteskrieger“, „Gottesstaat“ und
„Ungläubige“ zusammen mit dem eindrucksvollen und unermüdlich gezeigten
Bildmaterial von Angst und Schrecken drängt alternative Islam-Konzepte
zunehmend in den kognitiven Hintergrund. Da scheint es doch nur legitim, wenn
der Islam als Angsttrigger bei so manchen Menschen eben eine „islamophobische“
Reaktion auslöst.

Sprachliche Pluralität sichert kognitive
Pluralität

Wer Verständigung und
Toleranz fördern und sozialen Antagonismus bekämpfen will, sollte umgehend die
„Islamophobie“ und den „Islamischen Staat“ inklusive seiner linguistischen
Anhängsel abschaffen. Eine rhetorische Distanzierung von oder Negierung der
Ideen ist nicht nur untauglich, sondern wirkt vielmehr als kognitiver Dünger
für eben diese Ideen. Wir brauchen ein sprachliches – und gedankliches –
Reframing der Themen, mit dem die eigene Sicht transparent gemacht und eine
konzeptuelle Alternative zu den vorherrschenden Frames entwickelt wird.
Sehen Sie die Diffamierung
von Muslimen kritisch und denken, dass radikal-islamistische Verbrecher nicht
das Abbild des „Islam“ per se sind? Dann wäre Ihrer Sache bereits
geholfen, würde man in Deutschland anstatt von „dem“ IS von „der“ IS sprechen
(also, nicht Staat sondern Terrormiliz). Darüber hinaus könnte man konsequent
von „radikal-islamistischen“ anstatt von „islamistischen“ oder gar
„islamischen“ terroristischen Verbrechern reden.
Nicht zuletzt könnte man den
Bezug auf diejenige Religion, die von der Miliz benutzt und missbraucht wird,
auch einmal durch solche Adjektive ersetzen, die sich auf die Region oder
sonstige Merkmale der Terroristen konzentrieren – denn sie sind ja wenn man es
ganz genau nimmt nicht vordergründig „islamisch“ im eigentlichen Sinne der
Religion, sondern eher „besessen“, „verbrecherisch“, „unzurechnungsfähig“,
„soziopathisch“ und „menschenrechtsverachtend“ und wenn es um den Islam geht,
dann wohl auch „religiös radikalisiert“,„den Islam verfälschend“ oder „den
Islam missbrauchend“. Was, last but not least, die sogenannte Islamophobie
betrifft, so wären Begrifflichkeiten wie „Hetze“, „soziale Aggression“ oder
„Antagonismus“ „gegen Muslime“ – nicht „gegen den Islam“ – sicherlich gute
erste Alternativen.
Kognitive Pluralität lässt
sich nur über sprachliche Pluralität sichern, und sprachliche Pluralität
verlangt unbedingte Authentizität: Realitäten müssen gemäß der eigenen
Geisteshaltung benannt werden und es gilt, sich Sprachkonformismus zu
entziehen, wo immer er der eigenen Weltsicht widerspricht.
Elisabeth Wehling forscht am
International Computer Science Institute in Berkeley in den Bereichen Kognitive
Wissenschaft und Linguistik mit den Schwerpunkten Einfluss von Sprache auf
politisches Denken und Handeln, Ideologie- und Werteforschung.