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Saeed Amireh – Veranstaltungen zum gewaltfreien Widerstand in Nilin


von Martina Lauer, für ProMosaik e.V., 25. November 2015.
Diese Woche ist Saeed Amireh aus dem Westbankdorf Ni’lin auf Vortragsreise
in Deutschland und der Tschechischen Republik. Er spricht vom 24. November bis
7. Dezember in mehreren deutschen St
ädten und in Prag über
die j
üngsten Entwicklungen in Israel/Palästina
und die Rolle des gewaltlosen Widerstandes, der seit Jahren in vielen D
ӧrfern
gegen den Bau der israelischen Apartheidmauer und die fortgesetzte illegale
Kolonisierung in der Westbank 
organisiert wird.
2004 begann Israel mit dem Bau der Mauer auf dem Dorfland von Ni’lin, aber eine
gerichtliche Verfügung des israelischen Obersten Gerichtshofes brachte die
Bauarbeiten vorl
äufig zum Stillstand. Die Konstruktion der Mauer wurde im
Mai 2008 wiederaufgenommen, obwohl der Internationale Gerichtshof im Juli 2004
entschieden hatte, dass der Bau der israelischen Mauer in der besetzten
Westbank internationales Recht verletzt.
Als die Bulldozer auf Ni’lins Land zurückkehrten, begannen die Einwohner
mit wöchentlichen gewaltlosen Demonstrationen und direkten Aktionen. Obwohl ein
von den Dorfbewohnern begonnener Gerichtsprozess vor israelischen Gerichten Teilerfolge
brachte und die israelische Armee den Verlauf der Mauer zweimal abändern musste,
wurde durch den Bau der Mauer Land für zukünftige Projekte der militärischen Besatzungsbehörde, u.a. für
einen Friedhof und eine Industriezone annektiert. Zus
ӓtzlich
blockiert die Mauer den Zugang zu den Olivenhainen des Dorfes, die für die Bauern
eine lebensnotwendige Einkommensquelle sind. Protestteilnehmer demontierten
wiederholt Teile des elektrischen Zaunes, der diese unbebaute Fläche umgibt.
Folglich errichtete die Armee eine fünf bis acht hohe Zementmauer zusätzlich
zum elektrischen Zaun.

Seit 2008 ging die israelische Armee gegen die unbewaffneten Proteste der
Dorfbewohner mit Tränengas, Schockgranaten und scharfer Munition vor. Neben den
direkten Angriffen auf Demonstranten führte 
die israelische Armee Nachtrazzien und Massenverhaftungen im Dorf durch
und verurteilte Mitglieder des Widerstandskomitees wegen der Planung von
Protesten gegen die Mauer zu Gefängnisstrafen, Taktiken, die auch gegen die
Aktivisten des friedlichen Widerstandes in Ni’lin und Nabi Saleh eingesetzt
wurden.
Ibrahim Amireh, Zaydoon Srour und Hassan Mousa aus Ni’lin wurden 2010 wegen
der Organisation von friedlichen Protesten gegen die Besatzung zu einem Jahr
Gefängnis und 9000 Schekel Geldstrafe verurteilt.
Ni’lin führt die 2008 begonnenen Freitagsproteste bis heute fort, trotz der
fortgesetzten Versuche der israelischen Armee, das Dorf von der restlichen
Westbank zu isolieren und kollektiv zu bestrafen.
Saeed Amireh beschrieb die derzeitige Situation in zwei Berichten vom Ende
Oktober 2015:
“Am Montag, den 20. Oktober marschierten die Bewohner von Ni’lin wieder zum
Eingang des Dorfes. Mit diesem friedlichen und unbewaffneten Protest forderten
sie das Ende der Blockade des Dorfes, die zu einer rapiden Verschlechterung der
Situation in Ni’lin geführt hat.
Sobald die Wachen am Eingang den Protestmarsch sahen, eröffneten sie das
Feuer mit scharfer Munition auf die unbewaffneten Demonstranten. Zwei Menschen
wurden in den darauf folgenden Zusammenstössen verwundet: Mohammed Nabil
Qahoosh, 16 Jahre alt, wurde von einem Kugelsplitter am Kopf getroffen und
Ahmed Mohammed Amireh, 13, erhielt eine Kugel ins Bein.
Weil der Dorfeingang von den israelischen Soldaten blockiert wurde, wurde
der Krankenwagen außerhalb des Dorfes festgehalten. Ahmad und Mohammed wurden
in einem Privatwagen von den Zusammenst
ӧssen weggefahren.
Der Versuch, beide durch die Hauptstraße zur Ambulanz zu fahren, scheiterte,
weil gleichzeitig die israelische Armee mit neun Jeeps und dutzenden von
Soldaten in das Dorf eindrang und Jagd auf das Auto machte, um die Insassen zu
verhaften. Glücklicherweise konnte der Wagen entkommen.
Als die Israelis im Dorfzentrum ankamen, blockierte die Dorfjugend die Straßen
mit Steinen und verhinderten das weitere Eindringen der Jeeps. Die Soldaten
reagierten mit einem verst
ӓrkten Kugelhagel.
Eine israelische Fußpatrouille versteckte sich währenddessen zwischen den Hӓusern
des Dorfes, um Demonstranten einzufangen und zu verhaften. Sie konnten drei
Kinder auf dem Nachhauseweg von der Schule ergreifen und nahmen Mohammed Srour,
12, Jihad Amireh, 13 und Mohammed Nafi, 12, gewaltsam fest.
Die Auseinandersetzungen wurden bis neun Uhr abends fortgesetzt. Die
israelischen Soldaten feuerten hunderte von scharfen Patronen auf die
Demonstranten und H
ӓuser und füllten
das Dorf mit Tr
ӓnengaswolken, indem sie die Gasgranaten von ihren Jeeps
abfeuerten.
Nach dem Rückzug zum Dorfeingang brachten die israelischen Soldaten einen
schweren Lastwagen, der große Zementbl
ӧcke transportierte,
und riegelten das Dorf ab.
Das Dorf wurde von der israelischen Armee seit Anfang Oktober belagert,
aber jetzt scheint es, dass die Abriegelung permanent geworden ist. Das
bedeutet, dass niemand das Dorf im Auto verlassen kann und dass die Aktionen
der israelischen Armee als Form der kollektiven Bestrafung für die Proteste
gesehen werden müssen. Ni’lin ist jetzt von der Westbank abgeschnitten, von
einer Apartheidmauer im Westen und Süden, und durch israelische Siedlungen und
die Armee im Norden und Osten. Das Risiko einer vollst
ӓndigen
humanit
ӓren Katastrophe im Dorf Ni’lin wird so erhӧht.
1980 lebten 12500 Menschen in Ni’lin, heute ist die Zahl auf 5500 gesunken.
Die Isolierung des Dorfes kann dazu führen, dass mehr Menschen das Dorf
verlassen. Von den 5800 Hektar Land, die Ni’lin geh
ӧrten,
hat Israel 5000 konfisziert. Dadurch wurde es unmöglich, hier seinen
Lebensunterhalt durch die Landwirtschaft zu bestreiten. 3500 Olivenb
ӓume
wurden verbrannt, aus dem Boden gerissen oder auf andere Weise zerst
ӧrt,
was zur Schließung von zwei Verarbeitungsanlagen für das Oliven
ӧl
gef
ührt hat. Das Wirtschaftsleben des Dorfes wurde durch die
Blockade beeintr
ӓchtigt. Früher war Nilin
ein beliebtes Einkaufsziel f
ür Palӓstinenser
aus den umgebenden D
ӧrfern und aus 48.
Die Mehrheit der Dorfbewohner bekommt keine Arbeitsgenehmigungen von Israel,
was eine enorme Arbeitslosigkeit brachte. Die Belagerung des Dorfes erschwert
den Bewohnern auch die Fahrt zu ihren Arbeitsstellen in Ramallah. Die Strassen
in Ni’lin sind leergefegt und dienen vor allem als Arena für Zusammenst
ӧssen
und Invasionen. Das Schlimmste steht uns vielleicht noch bevor, wenn uns die
Nahrungsmittel ausgehen und keine Lieferungen von der Aussenwelt hereinkommen.
Und hier ist der letzte Bericht vom 29. Oktober 2015:
“Am Dienstag, den 27. Oktober 2015 ersetzten israelische Soldaten und
Polizei die Zementbl
ӧcke, die bisher den
Eingang zum Dorf Ni’lin blockiert haben, mit einem gelben Metalltor.
Das Tor wird zwischen 6 Uhr morgens und 6 Uhr abends offen sein, kann aber
tats
ӓchlich je nach Wunsch der israelischen Armee als eine
kollektive Bestrafung des ganzen Dorfes jederzeit gesperrt werden. Kranke,
Verletzte oder Frauen in Geburtswehen müssen sich den
Ӧffnungszeiten
oder der Stimmung der Soldaten anpassen.
Beim Betreten oder Verlassen des Dorfes muss sich jeder ausweisen. Die
israelische Armee wird so den gesamten Verkehr ins Dorf und aus dem Dorf
kontrollieren. Die Armee kann auch sicherstellen, dass weder israelische noch
international Solidarit
ӓtsaktivisten zu den
Freitagsprotesten oder zu anderen Aktionen nach Ni
lin
kommen k
ӧnnen. Eine Gruppe von Journalisten von Palestine Today
wurde bereits am Eingang abgewiesen, als sie das Dorf besuchen wollten. Die
Journalisten wurden dann als menschliche Schilder benutzt, als es am Tor zu
Zusammenst
ӧssen kam.
Am Tor steht auch ein Wachturm, der im August 2014 errichtet wurde. Die
israelischen Soldaten im Wachturm k
ӧnnen deshalb einfach
das Feuer auf jeden er
ӧffnen, der den
Versuch unternimmt, das Tor selbst aufzumachen.
Am nӓchsten Tag erklӓrte die israelische
Armee Ni’lin zur “geschlossenen militärischen Zone

und marschierten am Abend ins Dorf ein. Die Jugendlichen im Dorf bewarfen die
Soldaten mit Steinen, und eine Stunde sp
ӓter zogen die
Soldaten sich zur
ück, ohne dass es zu Todesopfern unter der Bevӧlkerung
kam. Allerdings litten dutzende unter den Folgen der Tr
ӓnengasinhalierung.
Am zweiten Tag nach der Installierung des Metalltores unternahm eine grosse
Zahl von israelischen Soldaten mit 15 Armeejeeps am frühen Morgen einen Angriff
auf das Dorf. Sie marschierten gleichzeitig aus der Richtung der Apartheidmauer
im Süden und dem Eingangstor im Osten auf Ni’lin zu und rissen die Bewohner mit
Schallgranaten und Tr
ӓnengas aus dem
Schlaf. Im Dorf drangen sie auf der Suche nach von der Armee gesuchten jungen M
ӓnnern
des Dorfes gewaltsam in zehn H
ӓuser ein. In drei Fällen
waren die Soldaten erfolgreich und nahmen Abdullah Mohammed Amireh, 15, Nasser
Mohammed Amireh, 13 und Sohaib Fihmi Srour, 16, brutal fest.
Saeed Amireh, Checkpoint established at the entrance of
Ni’lin, 29. Oktober 2015
http://saeedamireh.com/2015/10/29/checkpoint-established-at-the-entrance-of-nilin/
Saeed Amireh, Ni’lin sealed off from the rest of the West
Bank, 22. Oktober 2015;
http://saeedamireh.com/
http://palsolidarity.org/ (Übersetzung von M.Lauer)