Mit dem Messer geboren: Kaiserschnitte in Ägypten als die einzige Gebärmöglichkeit verkauft
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Emily Crane Linn
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Übersetzt von Milena Rampoldi میلنا رامپلدی |
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Herausgegeben von Fausto Giudice Фаусто Джудиче فاوستو جيوديشي |
Anzahl der Geburten per Kaiserschnitt ist in den Privatkrankenhäusern
auf 52 Prozent angestiegen, obwohl der Kaiserschnitt vier Mal
gefährlicher ist als eine natürliche Geburt
aus Assuan wollte eine natürliche Geburt, aber sie wurde durch ihren
Arzt unter Druck gesetzt, um einen teuren Kaiserschnitt durchzuführen
(MEE/Nicholas Linn)
Für ihre erste Schwangerschaft, fühlte Nasraa, dass alles gut
gelaufen war. Ihr kleines Mädchen sah gesund aus und sie fühlte sich
stark und bereit für die Entbindung und die Mutterschaft. Jede
Untersuchung ergab tolle Ergebnisse – bis zur letzten Visite im neunten
Monat. Da informierte sie ihr Arzt, vollkommen cool und unbeteiligt, ihr
Becken wäre zu eng für eine vaginale Geburt. Er fragte sie dann direkt,
an welchem Tag sie den Kaiserschnitt durchführen möchte.
„Ich wusste nicht, ob er log oder die Wahrheit sagte“, meinte Nasraa.
„Aber er ist der Arzt, und er sagt mir, ich sollte mich für einen
Kaiserschnitt entscheiden. Er schloss die Tür. Somit hatte ich keine
Wahl.“
Nasraa, die aus einem Dorf in Assuan im weitesten Inland des
südlichen Ägyptens kommt, hatte nie Zweifel darüber, über wie sie
gebären möchte. Sie wollte genauso gebären wie ihre eigene Mutter: indem
ihr Körper das Kind herauspresst. Es war einfach, natürlich und vor
allem auch günstig. Eine vaginale Geburt würde ihr 800 Ägyptische Pfund
(= 9O €) beim Mahabba Krankenhaus in Shubra, während ein Kaiserschnitt 450 € kosten.
Nasraa ist die zweite Frau eines Buffet-Kochs und steht auch
finanziell an zweiter Stelle. Sie kommt für ihren Unterhalt teilweise
mit dem Lohn auf, den sie als bawwaba, Pförtnerin in einem Wohnhochhaus in der Innenstadt von Kairo erhält.
Sie hatte sich für das Mahabba Krankenhaus entschieden, weil es
bezahlbar und nicht so fürchterlich war wie die öffentlichen
Krankenhäuser. „Eine Frau tut alles, was sie nur kann, um zu vermeiden,
ihr Kind in einem öffentlichen Krankenhaus zu bekommen“, erzählt sie.
Das Mahabba Krankenhaus, von der Wohltätigkeitsorganisation der
koptischen Kirche verwaltet, bot Nasraa eine sterile und gemütliche
Umgebung zu einem reduzierten Preis an. Aber ein Kaiserschnitt für 450 €
entsprach noch fast vier Monaten gemeinsamen Lohns von ihr und ihrem
Ehemann entsprechen.
„Dazu kommt noch der Genesungszeitraum“, so Nasraa. „Nach einer
vaginalen Geburt ist man nach 3-4 Tagen ok. Aber bei einem Kaiserschnitt
heilt man erst nach 1-2 Monaten oder mehr“. Aber schlussendlich hatte
sie ja keine andere Wahl. Ihr Arzt hatte ihr mitgeteilt, dass sie mit
Kaiserschnitt gebären sollte und sie hielt sich daran.
Der Demographischen und Gesundheitsumfrage
(DHS) von 2014 zufolge, gebären heute 52 Prozent der Frauen in Ägypten
per Kaiserschnitt. Dieser Prozentsatz liegt 3,5 Mal höher als der
festgelegte Durchschnitt, wenn man berücksichtigt, dass die
Weltgesundheitsorganisation den Zielsatz für den Kaiserschnitt auf 15 Prozent
angesetzt hat. Dazu kommt, dass sich der Satz der Kaiserschnitte seit
der letzten DHS-Umfrage von 2008, in der er noch auf ungefähr 27 Prozent
geschätzt wurde, fast verdoppelt hat. Und man schätzt, dass er in den
nächsten Jahren weiter steigen wird. Dr Sameh Sadek, Direktor des
Regionalen Medizinischen Zentrums von Alexandria spricht von einem
endemischen Problem.
Sadek zufolge, “ist der Kaiserschnitt in den privaten Krankenhäusern
zur üblichsten Prozedur geworden. Und der private Sektor übernimmt 60%
der Entbindungen, und da gibt es kaum Kontrolle”.
Das Problem beschränkt sich aber nicht auf den privaten Sektor. Aus
der DHS-Umfrage von 2008 ging hervor, dass auch in den öffentlichen
Krankenhäusern ein Drittel der Geburten per Kaiserschnitt erfolgten. Es
gibt verschiedene Gründe, wofür sich die Ärzte überall für die
Durchführung eines Kaiserschnitts entscheiden – aber das Wohlbefinden
ihrer Patienten gilt selten als Priorität, meint Sadek.
Dr Wadia Labib, Geburtshelfer beim Mahabba Krankenhaus zum Beispiel
zieht den Kaiserschnitt vor, weil er weniger aufwändig ist. „Es ist viel
einfacher für die Mutter, den Arzt und das Baby“, meint Labib. „Die
Mutter schläft und wacht nach einer halben Stunde mit dem Baby an ihrer
Seite auf. Der Arzt braucht 15 Minuten, anstatt einem halben Tag an der
Seite der Patientin zu sitzen. Es ist unproblematisch.“
Wadia Labib ist seit fast 30 Jahren als Geburtshelfer tätig. Heutzutage
entscheidet er sich für den Kaiserschnitt (MEE/Emily Linn Crane)
Der Schätzung von Labib zufolge, erfolgen 1600 Geburten von den
jährlichen 2000 Geburten am Mahabba per Kaiserschnitt. Er sieht kein
Problem darin. „Als ich am Trinity [College in Dublin] studierte, wurde
uns gesagt, dass die Kaiserschnitte die Quote von 12% nicht
überschreiten sollten“, so Labib. „Aber das war vor 30 Jahren. Seitdem
hat sich so viel verändert. Nun ist es eine wirklich einfache
Operation.“
Genau diese Einstellung ist die Ursache des Problems, so Sadek.
„Viele Frauen und Ärzte fühlen sich sicherer, auch wenn die Wissenschaft
aufzeigt, dass es nicht stimmt“, behauptet Sadek. Sadek ist im
nationalen Komitee für die Überwachung der Muttersterblichkeitsraten
tätig. Als er den Bericht über die Region von Alexandria für sein
letztes Treffen vorbereitete, fand Sadek, dass alle Todesfälle während
der Entbindung in den letzten sechs Monaten auf eine Geburt per
Kaiserschnitt zurückzuführen waren.
„Die Todesgefahr liegt beim Kaiserschnitt vier Mal höher als bei der vaginalen Geburt“, berichtet Sadek.
Einige Ärzte sind sich dessen nicht bewusst, so Sadek, aber viele
drängen ihre Patienten trotzdem zur Operation. In vielen Fällen bedarf
es gar nicht so viel, um die Frau zu überzeugen. „Die Frauen denken
auch, dass die neue Technologie besser ist und den Fortschritt
darstellt“, meint Sadek. Da die Chirurgie im Laufe des letzten
Jahrzehnts immer üblicher geworden ist, ist sie auch angesagter. Nach
Labibs Erfahrung vermeiden nur die Frauen, die es sich nicht leisten
können, den Kaiserschnitt.
Während die DHS-Daten von 2008 zeigten, dass die Rate der
Kaiserschnitte mit dem Wohlstand zunahm, zeigen die Daten von 2014, dass
die Rate in allen Einkommenskategorien, Provinzen und in jedem
Bildungsstand ähnlicher wird. Die vaginalen Geburten gehören der
Vergangenheit an. Immer mehr werden die Kaiserschnitte als die Art und Weise angesehen, auf die die moderne Frau gebärt – auch wenn sie sich dafür verschulden muss.
Nasraa hat immer noch 230 € Schulden wegen ihres zweiten
Kaiserschnitts vor mehr als einem Jahr. Während die Krankenversicherung
ihres Ehemanns einen großen Teil ihrer medizinischen Ausgaben für
die erste Entbindung ersstattete, wollte sie die Kosten für die zweite
Schwangerschaft nicht übernehmen: die galten nur für die erste Ehefrau,
meinte die Versicherung, es sei denn der Ehemann bezahlt eine höhere
Prämie, (was er nicht tat).
Da sie in Schwierigkeiten geraten war, wechselte Nasraa in ein
billigeres Krankenhaus und lieh sich Geld von ihren Verwandten, um den
Kaiserschnitt zu bezahlen. Diesmal fragte sie gar nicht nach einer
vaginalen Geburt. Der gängigen ägyptischen Meinung zufolge ist eine
vaginale Geburt nach einem Kaiserschnitt unmöglich, obwohl immer mehr
medizinische Fachkräfte darauf bestehen, dass dem nicht so ist.
Das ist auch eine der Ursachen, die die Kaiserschnittrate nach oben
treibt: nach einem Kaiserschnitt, ist die Frau dazu verpflichtet, wieder
per Kaiserschnitt zu gebären.
Und wenn alle Freundinnen und weiblichen Verwandten auch per
Kaiserschnitt gebären, macht sie es auch. „Ich wusste, dass ich
wahrscheinlich per Kaiserschnitt gebären muss“, berichtet Amal Raafat,
eine schwangere Frau aus dem wohlhabenden 6.-Oktober-Stadtteil,
einemVorort von Kairo. „Alle meine Freundinnen gebaren per
Kaiserschnitt.“
Die Idee, aufgeschnitten zu werden, jagte ihr Panik ein. Glucksend
gab sie zu, Angst davor zu haben. Raafat begann somit, nach einem Arzt
zu suchen, der ihr die Gelegenheit bieten würde, natürlich zu gebären.
Sie googelte und begab sich dann am in die Praxis von Dr Iman Bastawisy,
die eine kleine Privatklinik im 6.- Oktober leitet. Bastawisy schickte
Raafat zu einem Kurs über natürliche Geburt.
Initiatorin des Kurses ist Dr Hanaa Abu Kassem, die Leiterin der
Geburtshilfe-Ausbildung beim regionalen medizinischen Zentrum in
Alexandria und eine Vorreiterin der Förderung der natürlichen Geburt.
Seitdem sie sich vor vier Jahren bezüglich des Problems der zunehmenden
Kaiserschnitte bewusst wurde, kämpft sie an vorderster Front gegen diese
Tendenz.
In ihrem Krankenhaus in Alexandria führt Abu Kassem einen Ausbildungskurs für Dulas, Geburtshelferinnen, die dann ihre Kurse über die natürliche Entbindung für schwangere Frauen weiterleiten.
Sie entwarf den Kurs, den Raafat besuchte und bildete auch die
Kursleiterin aus. Sie assistiert auch Entbindungen in Krankenhäusern in
Alexandria und setzt sich für Frauen ein, die eine natürliche Geburt
wünschen und fordert die zögernden Ärzte heraus. Des Weiteren leitet sie
auch ihre pränatale Vollzeitklinik.
Abu Kassem plant gerade die zweite Internationale Jahreskonferenz über die Entbindung,
die vom 30. Oktober bis zum 2. November stattfinden wird. Sie hat
Referenten aus aller Welt dazu eingeladen und ihnen dafür auch extrem
hohe Honorare ausbezahlt, in der Hoffnung, einige ihrer Landsleute für
ihre Kampagne zu gewinnen.
Als die Konferenz näher rückt, belastet der Gedanke, dass am Ende
vielleicht niemand da sein wird, Abu Kassem. Während ihre Kurse und
Ausbildungsprogramme bei Expatriatinnen auf Interesse und Lob stoßen,
hat sie bisher nur eine einzige ägyptische Dula ausgebildet. Sie ändert
erfolgreich die Meinung vieler werdender Mütter, verzeichnet aber noch
geringen Erfolg bei der Überzeugung ihrer Ärztekollegen. „Ich kenne
keinen anderen, der diese Art von Tätigkeit ausübt“, fügt sie hinzu.
Abu Kassem sieht einem harten Kampf gegenüber, um unterbezahlte Ärzte
zu überzeugen, ein schnelles und lukratives Chirurgiegeschäft für eine
langwierige und unprofitable Entbindung aufzugeben. Das ägyptische
Gesundheitsministerium ist ein Hauptverantwortlicher der Sachlage, so
Sadek. „Das Gesundheitssystem ist komplex und fragmentiert… und
schließlich stammen 70 Prozent des Budgets des Gesundheitssektors aus
den Taschen der Bürger“, fügt Sadek hinzu.
Wie Nasraa es ausdrückte: „Die Entbindung ist zu einem Geschäft geworden.“
http://www.tlaxcala-int.org/article.asp?reference=16390