NGOs: Konzerne haben Mitschuld an Mangel- und Fehlernährung
Nahrungsmitteln und Getränken mit viel Fett, Zucker und Salz.
Alarmierende Zahlen in Lateinamerika
vergangenen Jahren ihren Einfluss auf politische Entscheidungen zu
Themen der Ernährung systematisch ausgebaut. Die evangelische
Organisation Brot für die Welt und die Menschenrechtsorganisation FIAN
prangern diesen Machtzuwachs der Konzerne im neuen Jahrbuch
zum Recht auf Nahrung an, das anlässlich des Welternährungstages am 16.
Oktober vorgelegt wird. Zur Überwindung von Hunger und Mangelernährung
bringen die Konzerne immer mehr Lebensmittel auf den Markt, die
künstlich mit Zusatzstoffen angereichert wurden. Ihre Rolle als
Mitverursacher von Mangel- und Fehlernährung werde ausgeblendet.
Während die Zahl der Hungernden laut der Welternährungsorganisation
(FAO) leicht auf 795 Millionen Menschen gesunken ist, nehmen die
Unterversorgung mit Vitaminen und Mineralstoffen (Mangelernährung) sowie
Überernährung und Fettleibigkeit zu. Zwei Milliarden Menschen leiden an
Mangelernährung, fast genau so viele (1,9 Milliarden) sind
übergewichtig. Roman Herre, Referent für Landwirtschaft, Landkonflikte
und Agrarhandel bei FIAN, sagte: “Diese Entwicklung ist eine
Herkulesaufgabe: Während Länder mit niedrigem und mittlerem Einkommen
Unter- und Mangelernährung bekämpfen, müssen sie nun parallel die
rasante Zunahme von Übergewicht angehen.”
Dies betrifft auch Lateinamerika. Übergewicht oder Fettleibigkeit
seien ein ernstes Problem für die öffentliche Gesundheit in allen
Ländern der Region. Die Zahl der betroffenen Personen in Lateinamerika
sei alarmierend, kommentierte
Rafael Lozano, Leiter der Lateinamerikanischen Initiative des Instituts
zur Messung und Evaluation von Gesundheit (IHME), die Entwicklung. Laut
der IHME-Untersuchung stieg ihr Anteil in der Region von 1980 bis 2013
um ein Fünftel, von 41 Prozent auf 61 Prozent, an.
So liegt die Zahl der Übergewichtigen in Mexiko laut der
Weltgesundheitsorganisation (WHO) bei rund 70 Prozent der Bevölkerung
und damit so hoch wie nirgendwo sonst in der Welt.
Im Kapitel des Jahrbuches zu Mexiko heißt es, die Übergewichtigkeit-
und Diabeteswelle habe katastrophale Ausmaße angenommen. Ein Drittel der
Kinder und Jugendlichen seien übergewichtig oder fettleibig. Ebenso
sieben von zehn Erwachsenen und bei 14 Prozent wurde Diabetes, bei 40
Prozent ein Metabolisches Syndrom
diagnostiziert. Die traditionelle mexikanische Esskultur sei in einem
solchen Ausmaß zurückgegangen, dass heute die meiste Kalorienzufuhr bei
Kindern im Vorschulalter durch verarbeitete Lebensmittel und zwölf
Prozent durch Fertiggetränke erfolgt.
Die Autoren sehen einen direkten Zusammenhang dieser Entwicklung zum
Beitritt Mexikos zum Nordamerikanischen Freihandelsabkommen (NAFTA).
Dieses erlaube massive Importe von weiterverarbeiteten Nahrungsmitteln
mit hohem Fett-, Zucker- und Salzgehalt. Zugleich habe Mexikos Regierung
die Schaffung von und die Investitionen in große
Nahrungsmittelunternehmen gefördert und betrieben und dadurch deren
Einfluss und Verkaufszahlen vervielfacht.
An zweiter Stelle folgt laut WHO Venezuela, auch dort ist ein erheblicher Teil der Erwachsenen übergewichtig. Ebenfalls alarmierend sind die Zahlen in Argentinien, Chile und Uruguay.
Eine zentrale Ursache für diese Fehlernährung ist der wachsende
Konsum von weiterverarbeiteten Nahrungsmitteln und sogenannten
Softdrinks. Diese Produkte aus den Fabriken der großen
Nahrungsmittelkonzerne werden auch in Entwicklungs- und Schwellenländern
massiv beworben und verdrängen dort regionale landwirtschaftliche
Produkte. Besonders in Lateinamerika ist statistischen Untersuchungen
zufolge der Pro-Kopf-Verzehr von “Junkfood” seit 2000 um mehr als ein
Viertel gestiegen.
Die zehn größten Lebensmittelkonzerne machen einen Umsatz von 1,1
Milliarden US-Dollar pro Tag. Das ist so viel, wie allen Ländern mit
geringem Einkommen zusammen pro Jahr für landwirtschaftliche Entwicklung
und Forschung zur Verfügung steht.
Kritisch sehen Brot für die Welt und FIAN
auch die zu starke Ausrichtung der Nahrungsmittelkonzerne auf
technische Lösungsansätze. Zur Überwindung von Mangel- und Fehlernährung
promoten sie künstliche Zusatzstoffe. Wer sich ausreichend und
ausgewogen ernähren könne, brauche aber nur in Ausnahmefällen – wie
regionalem Jodmangel – zusätzliche Mikronährstoffe oder Vitamine.
Deshalb müsse zuerst die lokale und regionale Nahrungsmittelproduktion
gestärkt werden, so das Fazit des Jahrbuchs.