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Der Tempelberg – das Herzstück des Konflikts

von Reiner und Judith Bernstein, http://www.jrbernstein.de/blog-1/2015/10/12/der-tempelberg-das-herzstck-des-konflikts-von-judith-bernstein
Israels Vorgehen auf dem Tempelberg
(Noblem Heiligtum) ist vor allem für junge Palästinenser ein Angriff auf
ihre islamische und nationale Identität. Nach den Jahren der Besatzung
ist der „Haram Al-Sharif“ die letzte Bastion, für die sie kämpfen
werden. Für sie ist dieser Ort ein Symbol der kollektiven Unterdrückung
und Ungerechtigkeit. Angesichts ihrer desolaten Lage und ihrer
Perspektivlosigkeit sind sie sogar bereit, für die Würde dieses Ortes zu
sterben. Deshalb wird der Kampf um den „Haram Al-Sharif“ weitergehen,
auch wenn sich die Welt mit anderen Problemen beschäftigt.  

Bereits
im März 1994 hat die „Jerusalem Post“ der Eröffnung einer
Talmud-Thora-Schule (“Yeshiva“) gegenüber dem Tempelberg die Überschrift
„Apocalypse Now“ gegeben. Die jüngste Explosion droht den
Territorialkonflikt endgültig in einen nationalreligiösen Krieg
übergehen zu lassen. Nach der traditionellen orthodoxen Tradition ist es
den Juden nicht gestattet, auf dem Tempelberg zu beten, da es der Ort
ist, an dem das Allerheiligste, die Bundeslade, stand. Aber schon seit
Jahren wird dieser „Status quo“ von Extremisten unterlaufen, ohne dass
die Regierung seiner Auszehrung Einhalt geboten hat.

Die
dritte „Intifada“, getragen von palästinensischer Spontaneität ohne
eine politische und organisatorische Steuerung, ist die erschreckende
Konsequenz einer Entwicklung, in der heute 75 Prozent der  Israelis –
 Orthodoxe und Nationalisten – den Zutritt einfordern wollen, auch wenn
vielfach davor gewarnt wird, dass die Öffnung des Tempelbergs zum
Niedergang Israels führen könne.

Die
israelischen Politiker wussten schon immer um die Gefahr eines
politischen Messianismus, die von diesem Ort ausgeht. Mit dem Satz „Wozu brauchen wir diesen Vatikan?“
übergab Moshe Dayan deshalb nach dem Sechs-Tage-Krieg die Kontrolle
über dem „Haram Al-Sharif“, also über die Al-Aqza-Moschee und den
Felsendom, an den „Waqf“, die fromme Stiftung. Für Nationalreligiösen
wie Naftali Bennett ist der Tempelberg heute der Übergang vom
zionistisch-religiösen zum ethnisch-nationalistischen Ethos geworden.
Wer den Tempelberg beherrscht, der herrscht über das ganze Land.

In
Jerusalem bündeln sich alle Facetten des Konflikts. Die „Heiligkeit”
der Stadt, in die ich hinein geboren wurde, trägt zum jüdischen
Fundamentalismus bei. Ehemals eine säkulare Stadt, wird sie immer
orthodoxer und radikaler. Nicht zufällig hat bei der „Gay Parade“ im
Sommer ein orthodoxer Jude sechs Personen niedergestochen, und nicht
zufällig sind christliche Stätten wie die römisch-katholische „Dormitio“
am Fuße des Ölbergs attackiert worden.

Wie
die jungen jüdischen Terroristen in der Westbank, die Palästinenser mit
der Waffe angreifen und nicht davor zurückschrecken, eine ihnen
unbekannte Familie samt ihrem Haus anzuzünden, wehren sich die Radikalen
gegen die Prinzipien des liberalen Rechtsstaates und die Universalität
der Menschenrechte. Stattdessen wollen sie zu einem imaginären
religiösen und nationalen Ursprung zurück: Ethik und Moral sollen durch
„das Wort Gottes” ersetzt werden. Nichts anderes verbirgt sich hinter
der Forderung, Israel in einen „jüdischen Staat“ zu verwandeln.

Die
radikalen Siedler haben nicht nur Ost-Jerusalem und die Westbank,
sondern alle staatlichen Institutionen unterwandert. Der
Ministerausschuss für Rechtsfragen will jetzt darüber entscheiden, dass
israelische Gerichte künftig ihre Urteile auf der Grundlage des
Religionsgesetzes, der „Halacha“, fällen. Damit wäre das brüchige
Selbstverständnis Israels als demokratischer Staat endgültig hinfällig.