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Algerien: Feministinnen machen mobil gegen häusliche Gewalt




Djamila Ould Khettab جميلة ولد خطاب



Übersetzt von 
Milena Rampoldi میلنا رامپلدی



Herausgegeben von 
Fausto Giudice Фаусто Джудиче فاوستو جيوديشي



Die Zivilgesellschaft fordert die Regierung auf, ein Gesetz zu verabschieden, um die häusliche Gewalt gegen Frauen zu verbieten

Nadia (Pseudonym) vor der Unterkunft für Frauen in Not (MEE/Djamila Ould Khettab)

ALGIER– Nadia wachte stark angeschlagen von einem
Nickerchen auf, als sie Middle East Eye in ihrem verdunkelten Zimmer mit
den am Nachmittag noch geschlossenen braunen Jalousien traf. Die
Dekoration ihres Schlafzimmers ist nicht besonders persönlich, bis auf
die zwei beeindruckenden Fotos, die den Nachttisch schmücken.

„Das sind mein Sohn und meine Tochter: sie sind  beide verheiratet. Sie wissen nicht, dass ich hier bin. Niemand weiß es“, erzählt Nadia MEE.
In
den letzten drei Monaten hat die 53jährige ehemalige Staatsbeamtin im
gemütlichen Unterschlupf von SOS Frauen in Not, einer NRO, die im
Zentrum der algerischen Hauptstadt aufgebaut wurde, gelebt.
Nadia
wird den Tag, an dem sie ihren Ehemann verlassen hat, niemals
vergessen. Nach 32 Jahren Missbrauch verließ sie ihr Haus mit all ihren
Sachen in zwei Koffern gepackt. Sie teilte ihre Entscheidung niemandem
mit. Er hatte sie körperlich und emotional über Jahre missbraucht, sagte
sie.  
„Er
war ungehobelt, reizbar und manchmal auch hysterisch. Ich habe
gewartet, bis er in Rente geht, um zu fliehen“, erinnert sich Nadia.  
Seitdem
ist ihr Leben angehalten. Jeden Tag durchläuft sie, mit geringen
Unterschieden, dieselbe Routine: sie wacht am frühen Morgen auf, kocht,
reinigt ihr Zimmer und die Küche und legt sich dann zu Bett. „In der
geschützten Wohnung gibt es nicht so viel zu tun“, meint sie, „aber hier
fühle ich mich mindestens sicher.“
Nadia
hofft immer noch, dass ihr Aufenthalt nur vorübergebend sein wird,
obwohl sie genau weiß, wie schlecht die Chancen für sie stehen, eine
Wohnung anzumieten. „Die Wohnungen sind in Algier sehr teuer, und wenige
Hausbesitzer akzeptieren alleinstehende Frauen“, erklärt sie.
Nadias
Geschichte ist nicht einzigartig. Das eigene Heim ist für Tausende
algerische Frauen kein sicherer Ort. Voriges Jahr gab es bei der
Kriminalpolizei ungefähr 7.000 Beschwerden wegen häuslicher Gewalt.
Einige Frauen werden totgeschlagen. Zwischen 100 und 200 Frauen  sterben jährlich wegen ehelicher
Mißhandlung, laut der Kriminalpolizei.
Aber
Experten zufolge spiegeln diese Zahlen trotzdem nicht die gesamte
Realität wieder. „Niemand weiß genau, wie viele Frauen von der
häuslichen Gewalt betroffen sind, denn die meisten Opfer sind so
verängstigt, dass sie nicht darüber sprechen. Der Hauptumfrage des
Ministeriums für Frauenangelegenheiten von 2006 zufolge ist jede siebte
Frau davon betroffen. In 75% der Fälle geht die Gewalt vom Ehemann aus.
Der ältere Bruder ist der zweite, üblichste Verbrecher. Das Alter der
geschlagenen Frauen beträgt zwischen 17 und 50 Jahren, nach Angaben von
Nadia Ait Zai, einer Rechtsanwältin und Gründerin von CIDDEF, einer Organisation zur Förderung von Frauen,.
Warum
bleiben geschlagene Frauen in solchen Misshandlungsbeziehungen
gefangen? „Sie wissen nicht wohin. Denn nach der Flucht, steht ihnen ein
schwerer Weg bevor“, antwortet Ait Zai. Einige entscheiden sich für das
Bleiben in einer Misshandlungsbeziehung, weil sie Angst haben, diese zu
beenden und dann auf der Straße zu landen, weil die Anzahl der
verfügbaren Betten in den Frauenhäusern einfach nicht ausreicht, fügt
sie hinzu.
Frauenhäuser wie Gefängnisse
In
Algerien beherbergen acht Zufluchtsstätten, wovon sich fünf in Algier
befinden, die Opfer von Misshandlungsbeziehungen. In den staatlichen
Unterkünften sind die Regeln extrem strikt: die Frauen dürfen das
Gebäude alleine nicht verlassen und dürfen auch kein Handy bei sich
haben. Und jedes Mal, wenn sie das Gebäude verlassen, werden sie
begleitet.
„Es
ist wie ein Gefängnis. Diesen Frauen muss der Respekt entgegengebracht
werden, den sie zu Hause nicht erhalten haben. Aber sie werden sich
weiterhin zerquetscht und unterdrückt fühlen“, so Sofiane, ehemaliger
Projektleiter in einer Unterkunft gegenüber MEE.
„Die
Lebensbedingungen sind besser in den nicht-staatlichen Unterkünften.
Aber an diesen Orten bleiben Betten unbesetzt“, fügte er hinzu.
Der
Zufluchtsort von Nadia ist ein entzückendes Holzcottage mit einem
Balkon und einem Spielplatz, der auf den Golf von Algier gibt. In den
letzten Sommertagen ist das Haus unerwartet ruhig. Nur vier Frauen,
inklusive Nadia, leben hier. Auf der ersten Etage sitzt Meriem Belaala,
die Leiterin der Wohndienste, hinter ihrem Schreibtisch, der mit Stapeln
von Dokumenten und Schachteln überhäuft ist. Sie erklärt: „Es gibt ein
Verfahren, das die Kandidatinnen durchlaufen müssen. Das geschützte Haus
wurde erbaut, um 16 Frauen zu beherbergen, aber wir beherbergten immer
Dutzende von Personen. Da wir uns aber nicht um alle Bewohnerinnen
kümmern konnten, haben wir vor kurzem die Entscheidung getroffen,
höchstens 10 Personen eine Unterkunft anzubieten.“
Denn
verwundbare Frauen brauchen mehr als nur ein Dach über dem Kopf, da sie
ganz besondere Anforderungen haben. Vor allem wollen sie ihre Identität
und ihren Aufenthaltsort aus Sicherheitsgründen geheim halten.
„Der
Großteil dieser provisorischen und festen Wohnmöglichkeiten ist leicht
zugänglich und sieht keine Gewährleistung der Sicherheit vor. Wie kann
man denn auf diese Weise eine geschlagene Frau vor einem rachesüchtigen
Ehemann schützen?“, fragt sich Dalila Hadjila, eine Sprecherin der
Algerischen Liga für die Verteidigung der Menschenrechte (LADDH).
Ein Haupthindernis besteht auch im Scham, der damit verbunden ist, einen Ehemann wegen Misshandlung anzuzeigen.
„Die
Frauen denken, dass sie die Zerstörung ihrer Familie verursachen
werden, wenn sie ihre Ehemänner anzeigen, weil sie sie schlagen“,
erzählt Fatma Oussedik, eine Seniorprofessorin für Soziologie an der
Universität in Algier und Gründerin des Netzwerkes Wassila, einer
Organisation, die gefährdeten Frauen hilft.
Andere
schweigen, weil man sie davon überzeugt, die Vergehen nicht
bekanntzugeben. „Man hört nicht selten von einem Polizisten, der einer
geschlagenen Frau den Rat erteilt, zurück nach Hause zu gehen, anstatt
Anzeige zu erstatten“, teilte Hadjila MEE mit; und dies führt zu was sie
„Kultur der
Schuldzuweisung an das Opfer“ nennt.
„Das
erste Mal, als ich mich an eine Polizeistation wendete, meinte der
Beamte, ich sollte nach Hause zurückgehen, um die Angelegenheit mit
meinem Ehemann zu klären. Das zweite Mal, als ich versuchte, ihn zu
verlassen, bestach er den Richter“, erzählte Hasna* MEE, während sie
sich um ihre fünf Kinder kümmerte. Hasna gelang es schließlich, vor
einem Jahr, ihren Ehemann zu verlassen. „Wir hatten drei Monate lang
dieselben Kleider an. Ich habe meinen gesamten Schmuck verkauft, um für
meine Kinder aufzukommen und den Anwalt zu bezahlen“, sagte sie.

Stoppt Gewalt gegen Frauen!-Zeichnung von Menekse Cam, Türkei

Häuslicher Missbrauch ist nicht illegal
Algerien
gehört zur den 20 Staaten der Welt, die die häusliche Gewalt gegen
Frauen noch nicht für illegal erklärt haben. Aber die Situation könnte
sich ändern. Aufgrund der epidemisch hohen Missbrauchsraten hat die
Regierung vor kurzem die Absicht an den Tag gelegt, die
geschlechterspezifische Gewalt in Angriff zu nehmen und das algerische
Strafgesetzbuch zu reformieren. Im März diesen Jahres, drei Tage vor dem
Internationalen Frauentag, erließ das algerische Parlament ein Gesetz
zwecks Verbotes der häuslichen Gewalt gegen Frauen. Diesem Gesetz
zufolge kann gegen einen Ehemann, der Missbrauch begeht, je nach den
Verletzungen, die er der Ehefrau zugefügt hat, eine Haftstrafe von bis
zu 20 Jahren verhängt werden. Er kann auch eine lebenslängliche
Haftstrafe erhalten, wenn die Angriffe zum Tode der Ehefrau geführt
haben.
Fünf
Monate nach der hart umkämpften Abstimmung im Parlament hat aber die
zweite Kammer immer noch über die Reform abzustimmen. „Die Umsetzung
sollte eine Formalität sein, da das Gesetz eine Initiative des
Präsidenten war. Wir haben versucht, Mitglieder der Regierungspartei FLN
zu erreichen, aber sie schweigen alle“, teilt Tinhinane Makaci, ein
Mitglied der feministischen Vereinigung Tharwa Fadhma N’soumer, MEE mit.
Aktivistinnen
zufolge ist der Kampf gegen die häusliche Gewalt nicht die
Hauptpriorität der Regierung. „Die Abstimmung im Parlament wurde infolge
der Auseinandersetzungen in Ghardaia, der Debatte über die Ölpreiskrise
und der kürzlichen Feierlichkeiten des Monats Ramadan verschoben“,
teilt Hassina Oussedik, die Leiterin von Amnesty International Algerien,
MEE mit.
Im
August veröffentlichte Amnesty International Algerien eine Petition, um
die Senatoren dazu zu ermutigen, für das Gesetz zu stimmen. Mehr als
3.000 Menschen unterzeichneten diese. „Wir übermittelten eine Kopie an
den Premierminister Abdelmalek Sellal, aber wir haben keine Antwort von
ihm erhalten. Aber es wurde nun mitgeteilt, dass das Gesetz am Ende des
Jahres zur Debatte stehen wird“, so Hassina.
Einige
Senatoren zweifeln an der baldigen Verabschiedung des Gesetzes. „Der
Text befindet sich im Büro des Präsidenten des Parlaments, aber wegen
der konservativen Lobbyisten, wird es wahrscheinlich nicht behandelt
werden“, meint Mohand Ikhabane, ein Abge
ordneter der RCD (Sammlungsbewegung für Kultur und Demokratie).
Aber
die Verstärkung der strafrechtlichen Sanktionen reicht nicht aus, um
die häusliche Gewalt zu bändigen, glauben Experten. „Die Regierung muss
nicht nur ein Gesetz verabschieden, um die häusliche Gewalt gegen Frauen
zu kriminalisieren – sie muss sich auch um bessere Erziehungsprogramme
kümmern und die Jugend zu respektvollen Beziehungen erziehen“, meint Ait
Zai.
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Das Familiengesetz, 20 Jahre nach seiner Verhängung (Zeichnung von 2004)

Ein archaisches Familiengesetz
Die Aktivistinnen haben auch zu einer
Aufklärungskampagne über die Reform aufgerufen, damit die Menschen davon
erfahren. „Das Gesetz wird keinerlei Auswirkungen haben, wenn die
Menschen nicht davon erfahren. Es gibt geschlagene Frauen, die sich gar
nicht dessen bewusst sind, dass sie Opfer sind“, sagt Hadjila.
„Die
algerische Gesellschaft ist wie die anderen Mittelmeerländer
machistische. Die auf dem Geschlecht basierte Gewalt ist in einer Kultur
verwurzelt, die Frauen diskriminiert. Und das Familiengesetz und die
Propaganda der islamistischen Fernsehsender werfen nur noch Benzin aufs
Feuer“.
Der Ansatz der Regierung kann aber misslingen, wenn das Familiengesetz nicht aufgehoben wird, behaupten die Feministinnen.
„Wir
werden nicht die Mentalität und die Haltung der Männer gegenüber den
Frauen ändern, ohne das Familiengesetz aufzuheben, das ein archaisches
und an der Scharia inspirierter Gesetzeskorpus ist, der dem Ehemann
jederzeit die Gelegenheit bietet, von seiner Ehefrau zu scheiden. Das
ist kein Fortschritt“, teilte Yasmina Chouaki, die Gründerin von Tharwa
Fadhma N’soumer MEE mit.
„Wenn
das Gesetzesverbot häuslicher Gewalt in Kraft tritt, wird dies ein
symbolischer Sieg sein. Wir dürfen unsere Rechte auf keinen Fall
aufgeben. Aber das Gesetz ist ein Mittel und nicht das Ziel an sich“, so
Makaci.
*Ihr Name wurde geändert, um ihre Anonymität zu bewahren