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Perspektiven zum muslimischen Anderen in der jüdischen Tradition – Prof. Yakov Rabkin – Juden und Muslime in der Geschichte


„Das größte menschliche Signal des Trostes kommt aus dem Osmanischen
Reich, ein weites und geräumiges Meer, das Gott mit dem Mast Seiner
Barmherzigkeit eröffnet hat, wie Er das Rote Meer zur Zeit des Exodus eröffnete… hier sind die Tore der Freiheit immer offen, um das Judentum zu
praktizieren“. So beschreibt ein portugiesischer Jude das Osmanische Reich im
17. Jahrhundert während eines Besuches.
[i] Dasselbe kann man vom Leben der Juden in den
muslimischen Ländern fast über ihre gesamte Geschichte sagen. Die sozialen
Beziehungen zwischen Juden und Muslimen waren unvergleichlich normaler als die
Beziehungen zwischen Juden und Christen. Die Juden nahmen gegenüber den
Muslimen eine viel weniger defensive Haltung ein als gegenüber den Christen, die
sich, wenn auch mit guter Absicht, naiv um die Rettung der Juden durch die
Bekehrung zum Christentum sorgten. Die Freundschaft und Familiarität mit den
Muslimen wurden hingegen, im Gegensatz zu den sozialen Beziehungen zu den
Christen, nicht von Verdacht und anderen Motiven behindert.

Während das islamische Gesetz vorschreibt, dass sich „die Dhimmis [die
geschützten Juden und Christen] durch ihre Kleidung, ihre Reittiere, Sattel und
Kopfbedeckungen von den Muslimen unterscheiden müssen“,
[ii] so verpflichtet auch das Halacha die Juden, erkennbar anders zu bleiben.[iii] Diese Vorschrift wird noch unter den Ashkenazy-Juden
angewendet. Einige von ihnen kleiden sich immer noch erkennbar (üblicherweise
in schwarz und weiß) und Kopfbedeckung (schwarze Fedoras oder lange Pelzhüte),
die anderswo heute in der Welt sehr selten getragen werden. Die Juden verwenden
in den islamischen Ländern üblicherweise arabische Namen, wie zum Beispiel
Abdullah, Ibrahim, Ismael oder Salim, was aber nicht einen Versuch der
Assimilierung zum Ausdruck bringt. Die Assimilierung stellt nämlich im
pluralistischeren Kontext der islamischen Länder einen unpassenden Begriff dar.
Zum Beispiel  lautete der erste Name des
berühmten irakischen Rabbiners Somekh Abdullah. Er hatte diesen Namen von einer
langen Linie von Vorgängern geerbt, wovon die meisten geniale jüdische Gelehrte
waren. 
Das Judentum durchlebte im islamischen Zeitalter eine bemerkenswert kreative
Zeit, oft auch im intellektuellen Austausch mit der Mehrheitskultur. Das
Arabische wurde allgemein in den Abhandlungen der jüdischen Gelehrten
verwendet, während es für die europäischen Rabbis unvorstellbar war, ihre Werke
auf Lateinisch zu verfassen. Der Islam beeinflusste nicht nur die Poesie, die
Grammatik und die rechtliche Kodierung, sondern auch die Synagogenliturgie und
in bestimmten Bereichen sogar den persönlichen Status (Polygamie). Die Juden
praktizierten in den islamischen Ländern die Polygamie, während dies in den
christlichen Ländern nicht der Fall war, wo ein rabbinisches Dekret die
Polygamie 999 verboten hatte. Gleichzeitig betrafen die wichtigsten
Veränderungen der Ashkenazy-Juden nicht die Juden in den islamischen Ländern,
so zum Beispiel waren sie nicht von Chassidismus, Säkularisierung, Haskalah und
Zionismus betroffen.
Der Untergang des Osmanischen Reiches und die Intensivierung des
europäischen Imperialismus öffneten den Juden die Tore zu den europäischen
Einflüssen und zum Schutz Europas und erhöhten somit auch deren
gesellschaftlichen Status.[iv]
Aber auch vor dieser Zeit wurden einige islamische Verbote hinsichtlich der
Juden selten umgesetzt. Zum Beispiel gibt es Quellen, die von Juden berichten,
die Sklaven, worunter auch muslimische Sklaven
[v], besitzen.
Europäische jüdische Agenturen, wie die Alliance
Israélite Universelle
, begannen im Namen der Juden ab der Mitte des 19.
Jahrhunderts in verschiedenen islamischen Ländern einzugreifen. Sie wurden auch
als Mittel des kolonialistischen Einflusses genutzt. Gleichzeitig ermöglichte dies auch die Übermittlung christlicher anti-jüdischer Haltungen, Anklagen (z.B.
jüdische Menschenopfer von Nichtjuden) und Materialien (z.B. die Protokolle der
Älteren von Zion) in die islamischen Länder. Ab dem 19. Jahrhundert lehnten
sich die christlichen  Dhimmi in verschiedenen islamischen Ländern
gegen die Juden auf. Die gesamte moderne, antijüdische Rhetorik, die zurzeit
auf Arabisch und Persisch verfügbar ist, stammt aus Europa.  
Die Gemeinsamkeiten zwischen Islam und
Judentum beschränken sich aber nicht auf die „glorreiche Vergangenheit“,
sondern werden auch in der Gegenwart weiterhin betont. In einem, vom W
orld Jewish Congress für die allgemeine Verteilung beauftragten Buch
heißt es:  
„Es gab noch nie mehr Ähnlichkeit zwischen einem
tolerierten Judentum und seinen Anhängern und einer zivilisierten,
gebieterischen Überladung bis zur Zeit nach der Emanzipation … Fairerweise soll
einfach gesagt werden, dass das Judentum und seine Anhänger unter islamischer
Herrschaft nie so einen anhaltenden, offiziell gesponserten und unbarmherzig
geführten Angriff wie den der christlichen Kirche gegen die Juden in den
christlichen Ländern erfuhren.“
[vi]
Die unterschiedliche Art und Weise, auf die Juden aus den muslimischen
Ländern in Israel behandelt werden, ist auch dokumentiert. Zum Beispiel hätte
für viele jemenitische Juden in Israel der Kontrast mit ihrem Herkunftsland
nicht härter sein können:  
„Die
Araber, unter denen wir lebten, störten uns nicht, nicht einmal in den
unwesentlichsten unserer religiösen Verpflichtungen. Ganz im Gegenteil: die
Regierung erkannte unsere Religion, unsere Rechte und unseren Glauben an. Wenn
ein Beamter oder ein Polizeibeamter während des Sabbats unter uns käme, würde
er es nicht wagen, zu rauchen oder den Sabbat zu entheiligen. Hier hingegen werden
wir missachtet. Man zwingt unsere Leute, den Sabbat zu entheiligen. Sie
verspotten uns; sie lachen unseren traditionellen Glauben, unsere Gebete und
religiösen Pflichten unserer Heiligen Thora aus.“
[vii]



[i]   Lewis, supra Anmerkung 66, S. 136.
[ii]   Ibid., S. 35. 
[iii] Mishne Torah, Hilkhot Avoda Zara 11:1.
[iv] Sehr oft würde diese Verbesserung des sozialen
Status die Juden von den muslimischen Mitbürgern trennen und zu wahrer
Entfremdung führen. Ein ausdrucksvoller Fall ist der algerische, in dem die
Juden, in einem öffentlich kolonialistischen Kontext, 1870 die französische
Staatsbürgerschaft erhielten. Nach einigen Jahrzehnten wurden die Juden,
während des Unabhängigkeitskrieges, als Teil des kolonialistischen Systems
angesehen. Die jüdischen Gemeinden wurden somit, trotz ihrer alten Wurzeln in
jenem Land, virtuell zerstört.
  
[v] Yaron Ben-Naeh, “Blond, tall, with honey-colored eyes:
Jewish ownership of slaves in the Ottoman Empire”, 20 Jewish History,
2006, S. 315–332.
[vi] Erzin Isak Jakob Rosenthal, Judaism and Islam, London: Thomas Yoseloff, 1961, S. xiii und 140.
[vii] Ruth Blau, Les gardiens de la
cité: histoire d’une guerre sainte
, Paris: Flammarion, 1978, S. 271.