General

Perspektiven zum muslimischen Anderen in der jüdischen Tradition – Prof. Yakov Rabkin – Die jüdisch-muslimischen Beziehungen im Schatten des Nahost-Konfliktes


Die Berichte über das Schicksal der Juden unter islamischer Herrschaft
wurden in den letzten Jahren abgeändert. Ähnlich wie sich die idyllischen
Bilder der muslimisch-jüdischen Harmonie in gewisser Weise in der Sehnsucht
nach Gleichberechtigung der jüdischen Autoren des 19. Jahrhunderts in Europa
wiederspiegelten, so war die letzte Revision mindestens teilweise durch die
Notwendigkeit begründet, die zionistischen Überzeugungen zu verstärken, indem man
die weltweite Verbreitung antijüdischer Handlungen und Haltungen aufzeigt.  

Die Frage der Misshandlung der Juden in
den arabischen Ländern ist daher seitdem zu einer der größten Kontroversen
geworden: Die zionistischen Historiker betonen die chronische Natur der Judenverfolgungen,
während deren Gegner behaupten, dass der Zionismus der Grund für die
Verschlechterung der Beziehungen zu den Muslimen ist. Aus zionistischer
Perspektive blieb den Juden in den arabischen Ländern keine andere Wahl, als
ihre Leben zu retten, indem sie schnellstens nach Israel auswanderten. Dies
würde sie zu Flüchtlingen machen wie die Palästinenser, die 1948 von ihren
Häusern flohen. Diese würde bedeuten, dass ein Bevölkerungsaustausch, eine
andere grobe, retroaktive Gerechtigkeit, stattgefunden hätte. Die arabischen
Juden, die nach Israel gebracht wurden, um dem neu gegründeten Staat eine
jüdische Mehrheit zu gewährleisten, wurden unverzüglich von ihrer arabischen
Sprache, ihren Essgewohnheiten und musikalischen Vorlieben getrennt, da diese
im Rahmen des Aufbaus der Nation vor allem durch osteuropäische Zionisten alle
als „Teil der Feindeskultur“ angesehen wurden. Dies führte zu Langzeittraumen
und Spaltungen unter den arabischen Juden in Israel, inklusive des
interessanten Phänomens des induzierten Selbsthasses: Feindschaft gegenüber Dingen,
die mit Arabern, diesen Arabern jüdischen Glaubens zusammenhängen.[i]
Gleichzeitig wächst die Anzahl der veröffentlichten Augenzeugenberichte über
die Nachbarschaftsbeziehungen zwischen Juden und Muslimen in allen Ländern des
Nahen Ostens, inklusive des aktuellen Israel. Sie beweisen, dass die Zionisten
durch ihre gleichzeitige offene Aggressivität in Palästina und ihre
Geheimtätigkeiten in verschiedenen arabischen Ländern die antijüdischen Unruhen
gerade hervorriefen.  
Die Memoiren eines deutschen Generals,
der während des Ersten Weltkrieges mit den Osmanischen Truppen stationiert war,
berichtet darüber, indem er sich von den innerjüdischen Polemiken fernhält:
„Es ist
sehr bemerkenswert, wie der Krieg die Auseinandersetzung zwischen
Zionisten und Nicht-Zionisten verschärfte. Es handelt sich um einen Kampf, der
eine abscheuliche Wende genommen und wenig zur Förderung der Interessen der
Juden im Allgemeinen beigetragen hat. Die Nicht-Zionisten, d.h. die Juden, die
keine politischen Zielsetzungen verfolgten und der orthodoxen Strömung
angehörten, machten damals in Palästina die absolute Mehrheit aus. Die dort
angesiedelten Zionisten machten höchstens 5 Prozent der Bevölkerung aus, aber
sie waren sehr aktiv und fanatisch und terrorisierten die Nicht-Zionisten. Während
des Krieges versuchten sich die Nicht-Zionisten mit Unterstützung der Türken
vom zionistischen Terror zu befreien. Denn sie befürchteten mit Recht, dass die
Tätigkeiten der Zionisten ihre guten Beziehungen, die zwischen den seit langem
in Palästina lebenden Juden und den Arabern vorherrschten, zerstören würden.“
[ii]
In der Tat fürchteten zahlreiche Juden
schon seit dem Beginn der zionistischen Besiedlung eine solche Spaltung. Beispielsweise
widersetzten sich etliche, sei es Ashkenazy- als auch sephardische Juden dem Unsinn der von der Peel Commission vorgeschlagenen Aufteilung Palästinas. Berühmte
marokkanische Juden unterzeichneten gemeinsam mit ihren muslimischen Mitbürgern
am 9. August 1937 einen scharfen Brief an das Auswärtige Amt. Er warnte wenige
Wochen nach der Veröffentlichung des Berichtes der Kommission „vor den
katastrophalen Folgen unbeabsichtigter Probleme zwischen den arabischen und
jüdischen Gruppierungen”. Der Brief endet mit einem Aufruf für „ein unabhängiges,
von demokratischen parlamentarischen Institutionen regierten Palästina“ wird.
Denn dies wäre die einzige Staatsform, die beiden Gruppen in Palästina
dieselben Rechte in einem von ihnen so geliebten Land einräumen kann.“
[iii] Berühmte
deutsche Juden wie Hannah Arendt, Martin Buber und Albert Einstein äußerten
sich im Zusammenhang mit der Zukunftsperspektive eines getrennten Judenstaates
auf ähnliche Weise.
[iv]
Die Feindseligkeit gegenüber den Juden
ist in den gegenwärtigen Ausmaßen unter den Muslimen eine jüngste Entwicklung. Zahlreiche
jüdische Historiker, sei es innerhalb als außerhalb Israel, belegen auf der
Grundlage neutraler Quellen, dass die Beziehungen zwischen Arabern und Juden in
Palästina sehr friedlich waren, bevor die Zionisten kamen. Die einseitige
Erklärung des Staates Israel durch die zionistische Minderheit gegen den Willen
der Einwohner, Muslime, Christen und auch zahlreiche Juden, führte 1948 zu
einer zunehmenden Verschlechterung des Status der Juden in gewissen arabischen
Ländern, inklusive des größten arabischen Landes, Ägypten.  
Der berühmte ägyptische Autor Naguib Mahfouz (1911-2006) kommentierte das
Ganze einmal, indem er sich wie folgt an einen jüdischen Bekannten wandte:
„Unsere beiden Völker lebten so lange Zeit, im
Altertum, Mittelalter und in der Moderne wunderbar zusammen. Dieses
Zusammenleben wurde von seltenen Konflikten und Streitigkeiten unterbrochen.
Leider wurden die Konflikte hundert Mal mehr betont als die Zeiten der
Freundschaft und Zusammenarbeit. Ich träume vom Tag, an dem diese Region, dank
der Zusammenarbeit zwischen uns, zu einer Heimat wird, überflutet vom Licht der
Wissenschaft und gesegnet von den höchsten Prinzipien des Himmels.“
[v]

In  der Tat nahmen die Juden aktiv am
politischen Erwachen der Türkei, Persiens und der arabischen Länder teil. Diese
Teilnahme war besonders im Irak sehr intensiv, wurde aber auch in den
arabischen nationalistischen Bewegungen von Damaskus bis nach Casablanca
beobachtet. Dies zeigt eine offene Einstellung gegenüber den Nichtjuden in der
jüdischen Moderne der muslimischen Länder. Ein Volk, und vor allem eine
Minderheit, die von der Mehrheit der regierenden Bevölkerung als unterlegen
angesehen wird, akzeptiert nicht die Kultur ihrer Umgebung so herzlich und
passt sich auch nicht an diese an, wenn sie sich nicht relativ sicher fühlt, in
ihrer Mitte zu leben.
Der israelisch-palästinensische
Konflikt darf nicht als ein Konflikt zwischen Juden und Muslimen angesehen
werden, und erst recht nicht als ein Konflikt zwischen Islam und Judentum.
Zudem vereint heute ein „moderner, gemeinsamer Glaube“ die beiden Gemeinschaften:
sie verteidigen nämlich die „Ganzheitlichkeit der Religion“ in einer Zeit, in
der die Religion entweder als altmodisch oder elitär angesehen wird.
Halacha und Scharia
ziehen einen prioritären „Willen nach sich, uns an das Gesetz anzupassen… und
dies sogar im Zweifelsfall, im Falle geistiger Wüsten und dunkler Nächte der
Seele”, da dies Zeichen eines ernsthaften und wahren Gläubigen ist. Diese
Beständigkeit angesichts der Schwierigkeiten und Versuchungen bleibt ein
Kennzeichen beider Traditionen. Sie wird in den Bildungsinstitutionen beider
Gruppen gelehrt, und dies oft durch Behauptungen und moralische Lehren, welche
die Lernenden zum absoluten Gehorsam erziehen. Die gemeinsamen Zielsetzungen
des Islam und des Judentums verstärken sich im Kontext der Globalisierung und
der direkten Kommunikation, die gleichzeitig die Erhaltung und Verstärkung der
religiösen Tradition gefährden und ihr neue Gelegenheiten bieten.
[vi] Die Fokussierung auf  diese Gemeinsamkeiten kann den
Anstoß zur Förderung der interreligiösen Toleranz geben.  

Sogar mitten im
israelisch-palästinensischen Konflikt unternehmen religiöse Menschen den
Versuch, Brücken zu bauen und die Verständigung mit dem Anderen zu fördern. Es
wurde berichtet, dass der Rabbiner Froman der Siedlung von Tekoa nicht nur
Hamasführer traf, sondern auch Kompromisse bezüglich des Waffenstillstandes und
anderer Angelegenheiten schloss. Die israelischen Behörden vereitelten Berichten
zufolge all diese Versuche.
[vii]
Judentum und Islam haben zahlreiche
politische Regime durchlebt, und deren Zukunft ist durch die Hingabe des
Gläubigen und nicht durch die Kampfhubschrauber oder Atomwaffen gewährleistet. Hierzu
schreibt der israelische Intellektuelle Boaz Evron:
„Der
Staat Israel, und alle Staaten dieser Welt, tauchen auf und verschwinden dann
wieder. Der Staat Israel wird natürlich in hundert, dreihundert oder
fünfhundert Jahren verschwinden. Aber ich denke, dass das jüdische Volk so
lange da sein wird, so lange es die Religion geben wird, vielleicht für ein
weiteres Jahrtausend. Die Existenz dieses Staates ist überhaupt nicht wichtig
für die Existenz des jüdischen Volkes…. Die Juden können weltweit sehr gut ohne
ihn auskommen.“
[viii]

Millionen von Juden und Muslimen in den
USA und anderen Ländern wurden von den Folgen der Spaltung durch den israelisch-palästinensischen
Konflikt weitgehend verschont. Ein vergleichendes Handbuch über die rituellen
Praktiken im Islam und Judentum wurde zu Beginn des 21. Jahrhunderts in den USA
veröffentlicht. Vor kurzem behandelte ein gemeinsam verfasster Artikel von
Experten im Bereich der Koscher- und Halal-Anforderungen das Thema der
Zulässigkeit genetisch veränderter Nahrungsmittel in beiden Traditionen.
[ix] Bereiche
für eine Zusammenarbeit dürfen sich ausweiten, da die strengsten und
gründlichsten Praktikanten beider, der jüdischen und muslimischen
Gemeinschaften, ein wesentliches, demographisches Wachstum erfahren.

Die jüdischen Auffassungen über die Muslime, die
eine komplexe und reiche Geschichte wiederspiegeln, sind heute ziemlich
inkonsistent. Manchmal richten sie sich nach den politischen Linien, anstatt
der historischen Erfahrung oder der Rechtswissenschaft zu vertrauen. Die
Auswirkungen des relativ jungen Nahostkonflikts auf die gegenseitigen Wahrnehmungen
von Juden und Muslimen dürfen nicht die langfristige Anschauung ihres fast
immer harmonischen Zusammenlebens über Jahrhunderte verdunkeln.



[i] Ella Shohat, 
“Sephardim in Israel: Zionism from the Viewpoint of its Jewish Victims”
in: Anne McClintock, Aamir Mufti, and Ella Shohat, eds., Dangerous liaisons : gender, nation, and postcolonial perspectives
, Minneapolis: University of Minnesota Press, 1997; vgl. auch den Film Forget Baghdad, der speziell von den
irakischen Juden handelt.
[ii] Friedrich Kress Von Kressenstein, “Im ha-Turkim el Taalat-Suez” (With
the Turks toward the Suez Canal), Tel Aviv: Maarakhot (2002), zitiert in Dromi,
Uri, “Turks and Germans in Sinai,” Haaretz,
27. September 2002.
[iii]  Mohammed Kenbib, Juifs
et musulmans au Maroc, 1859–1948
, Rabat: Université Mohammed V, 1994, S.
557.
[iv]   Fred Jerome, Einstein on Zionism and Israel: His Provocative
Ideas About the Middle East,
London: St. Martin’s Press, 2009.
[v]   Brief von Naguib
Mahfouz an Professor Sasson Somekh, zitiert in Baghdad Yesterday, The Making
of an Arab Jew,
Jerusalem: Ibis, 2007.
[vi]   Samuel C.
Heilman, “The Vision from the Madrasa and Bes Medrash: Some Parallels between
Islam and Judaism”  49 Bulletin of the American Academy of
Arts and Sciences
, Nr. 4, Januar 1996, S. 6-37, zitiert auf S. 8.
[vii]   Larry Derfne, “Oh
brother where art thou?” Jerusalem Post, Dezember 28, 2006.
[viii] Yeshayahu Leibowitz, Peuple, Terre, État, Paris: Plon, 1995,
S. 154.
[ix] Joe M Regenstein, Muhammad M Chaudry, & Carrie E
Regenstein, “Kosher and Halal in the Biotechnology Era” 1 Applied
Biotechnology, Food Science and Policy,
2003, S. 95–107.