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Das Todesurteil gegen Mursi – ein fataler Fehler

Liebe Leserinnen und Leser,

möchte Islamiq für die Veröffentlichung unseres Artikels über die Todesstrafe gegen Mohammed Mursi in Ägypten danken.

Aygun Uzunlar – ProMosaik e.V.

Das Todesurteil gegen Mursi – ein fataler Fehler

Der
demokratisch gewählte Ex-Präsident Mohammad Mursi und 106 Muslimbrüder
wurden in Ägypten zum Tode verurteilt. Dr. Milena Rampoldi schreibt über
das umstrittene Urteil und die Hintergründe.

Die Absetzung des nach dem Sturz des Diktators Husni Mubarak ersten,
frei und demokratisch gewählten ägyptischen Präsidenten der
Muslimbruderschaft Mohammed Mursi durch das Militär und der
Militärputsch des neuen ägyptischen Diktators Abdelfattah al-Sisi, der
sich zum Präsidenten erklärt und die Muslimbruderschaft als
terroristische Organisation abstempelt und verfolgt, sind leider gar
nichts Neues in der post-kolonialen, ägyptischen Geschichte. Sie
bestätigen somit auch die Wahrheit, die der amerikanische
Schriftsteller, Philosoph und Literaturkritiker George Santayana
(1863-1952) in seinem berühmten Zitat ausdrückt, in dem es heißt: „Wer
sich nicht an die Vergangenheit erinnern kann, ist dazu verdammt, sie zu
wiederholen.“

Und genau diese historische Blindheit führt seit Jahrzehnten in
Ägypten und auch zahlreichen anderen arabischen Ländern dazu, die
Muslimbruderschaft und die ihr nahestehenden Parteien und politischen
Bewegungen als eine volksfeindliche und terroristische Organisationen zu
verzerren, die es zu verfolgen gilt, um die Muslime zwanghaft zu
verwestlichen und eine neokolonialistische, westliche Ordnung in Nahost
und in der gesamten arabischen Welt durch Revolutionen und
Gegenrevolutionen, Unterdrückung und Diktatur durchzusetzen.

 

Die Historie der Muslimbruderschaft

Dasselbe geschah schon infolge der Revolution der Generäle mit Abdul
Nasser, der 1953 die Muslimbruderschaft, von der er verschiedene
politische und sozial-politische Ideen „lieh“ und als die seinen
umsetzte, verbot, aber auch schon vorher während des antikolonialen
Widerstandes von Hassan al-Banna. Die Muslimbruderschaft wurde seit
ihrer Gründung durch den Lehrer Hassan al-Banna im Jahre 1926 als
antikolonialistische, islamische und vor allem sozio-pädagogische und
pädagogisch-politische Bewegung für das Volk und für ein islamisches
Demokratisierungsmodell von Unten, verfolgt. 1949 wurde Hassan al-Banna
ermordet. Nach der Rehabilitierung der Muslimbruderschaft 1950
unterstützte diese zu Beginn auch Nasser, der sie dann verbot, um seinen
arabischen, nationalistischen Faschismus durchzusetzen.

Es folgte ein erfolgloses Attentat der Muslimbruderschaft gegen
Nasser. 1954 kam es dann zu einer brutalen Repression der Gruppe. In
diese Zeit fällt die Verhaftung des berühmten Gelehrten Sayyid Qutb, der
als Verfasser der Schrift „Die soziale Gerechtigkeit im Islam“ und mit
der Koraninterpretation „Im Schatten des Koran“, die er teilweise in
Haft verfasst hatte, berühmt wurde. Qutb wurde 1966 zum Tode verurteilt.
Auch während des  Regimes von Anwar Sadat, der zu Beginn selbst der
Muslimbruderschaft angehörte, kam es zu ihrer Verfolgung, sodass man zu
Beginn sogar glaubte, die Muslimbruderschaft wäre schuld an der
Ermordung Sadats, weil er den umstrittenen Frieden mit Israel
geschlossen hatte. Während der Diktatur Mubarak befand sich die
Muslimbruderschaft erneut in einer konstanten Dialektik zwischen
Verfolgung und Weiterentwicklung, die den Durchbruch vorbereitete, da
die Muslimbruderschaft als, wenn auch sehr hierarchisch strukturierte
Bewegung, starke Zustimmung beim Volk fand.

 

Ziele und Motivationen

Erneut wird die Muslimbruderschaft nach ihrem ersten, frei gewählten
Präsidenten Mohammed Mursi als Terrorgruppe eingestuft und brutal
verfolgt. 2014 ist das Jahr der Massentodesurteile durch Eilprozesse
wohl zu eifriger Staatsanwälte von al-Sisi, die man als Befürworter der
Putschisten bezeichnen kann. Ich frage mich heute, wie man diesen
Teufelskreis durchbrechen kann. Wie können wir heute die Akzeptanz der
Muslimbruderschaft als Teil der Demokratie anerkennen, ohne sie zu
verfolgen und ohne die islamischen Bewegungen aus der Gestaltung der
Demokratie auszuschließen? Denn die Muslimbruderschaft gilt als eine
wichtige, sozio-pädagogisch orientierte Kraft der Massen in vielen
muslimischen Ländern, wie z.B. Algerien, Palästina, Libyen, Tunesien,
der Türkei, Syrien und Libanon, um nur einige Beispiele zu nennen.

Die Muslimbruderschaft setzt sich für eine pädagogisch-soziale
Islamisierung der Massen und für soziale Gerechtigkeit ein. Sie fördert 
auch die Partizipation der muslimischen Frau an der Politik, wie wir
anhand in Abdelhalim Abu Shaqqas Enzyklopädie „Die Befreiung der Frau im
Zeitalter des Propheten“ und in der aussagekräftigen Biografie von
Zaynab al-Ghazali „Ayyam min hayyati“ (zu Deutsch: Tage aus meinem
Leben) über ihren politischen Kampf für die islamische Frauenbewegung
und über ihr mystisch verklärtes Leiden infolge der brutalen Folter im
Gefängnis während des Nasser-Regimes sehen.

Die Muslimbruderschaft glaubt sehr stark an die Bedeutung der
Veränderung als Rückkehr zum ursprünglichen Islam, an die Auflehnung
gegen die Ungerechtigkeit und die Umgestaltung der Gesellschaft im
egalitären Sinne nach den Grundsätzen des Islams in Politik und
Gesellschaft. Wenn wir weiterhin die Muslimbruderschaft als
terroristische Organisation abstempeln, sind wir in den muslimischen
Ländern nicht in der Lage, die muslimischen Grundsätze in Gesellschaft,
Wirtschaft und Politik zu übernehmen und die Gesellschaft  islamisch und
gerecht zu gestalten. Wo es keinen Widerstand gibt und kein Widerstand
gegen Ungerechtigkeit, Armut, Kolonialismus, Unterdrückung, Sklaverei
und Ignoranz zugelassen wird, entsteht automatisch eine Diktatur oder
aber eine militärische Gegenrevolution gegen diesen islamischen
Widerstand, der aber von den muslimischen Massen unterstützt wird. Wo
niemand eine Veränderung wünscht, erstarrt eine ungerechte Gesellschaft
nach einem Putsch. Und genau in dieser Starre befindet sich das Regime
von al-Sisi heute in Ägypten.

Eine Schurakratie für Ägypten?

Was braucht Ägypten heute? Eine islamische Demokratie, oder aber eine
Demokratie auf den Grundsätzen der islamischen Beratung (Schura), wie
nach dem berühmten Vers der „Sura der Ameisen“ (27,34), in dem Bilqis,
die Königin von Saba, von sich selbst sagt: „O mein Gefolge! Beratet
mich in meinen Angelegenheiten! Denn ich werde nie etwas entscheiden,
ohne dass ich mich vorher mit euch beraten habe“.

Dieser islamische Führungsstil stellt für mich das Symbol der
islamischen Schurakratie dar, die Gerechtigkeit, Gleichheit und
geschlechtliche Differenzierung in den muslimischen Ländern
gewährleisten kann. Und nur auf der Grundlage dieser Prinzipien kann ein
langfristiger sozialer Friede aufgebaut werden. Nur so können wir den
Teufelskreis des bewaffneten Widerstands gegen die diktatorische
Ungerechtigkeit durchbrechen. Denn solange Ungerechtigkeit da ist,
werden die Menschen Widerstand leisten, in der muslimischen Welt wie
anderswo. Al-Sisi kann somit keinen größeren Fehler begehen, als Mursi
zum Tode zu verurteilen und eine Welle von Hass und Widerstand zu
erzeugen bzw. eine Starrheit mit einer islamischen Bewegung im
Untergrund, die jederzeit wieder für eine Gegenrevolution rüsten wird,
um Widerstand gegen dieses ungerechte Regime zu leisten, und Mursi zum
Märtyrer des Widerstandes erklären wird. Das Schweigen der westlichen
Medien und die Befürwortung des Todesurteils zwischen den Zeilen
zahlreicher Zeitungsartikel unterstützen wie al-Sisi selbst die
Verklärung des Märtyrers Mursi und die ewige Dialektik des bewaffneten
Widerstands, den nur die Gerechtigkeit endlich brechen kann.