General

Ein Interview mit Idas Mutter über Autismus


Liebe Leserinnen und Leser,
Sie erinnern sich wahrscheinlich an die Buchrezension über das Mädchen ida, das unter Autismus leidet.
Hier finden Sie den Link dazu:
http://promosaik.blogspot.com.tr/2015/04/ida-ein-wahres-buch-uber-ein.html
Über die Autorin, Frau Dorina Lutz, habe ich die wundervolle Chance bekommen, meine Frage über den Autismus der Mutter von Ida zu stellen, die unter Autismus leidet.
Wie Sie wissen, geht es uns von ProMosaik e.V. darum, Informationen über den Autismus zu verbreiten, um die Menschen zu sensibilisieren und zu vermeiden, dass Kinder mit Autismus in unserer Gesellschaft diskriminiert werden. 
Ich möchte Idas Mutter herzlichen Dank von unserer Redaktion aussprechen. Was Sie für unsere Leserinnen und Leser geschrieben hat, ist von unermesslichem Wert.
danke!!
Dr. phil. Milena Rampoldi von ProMosaik e.V. 


Dr. phil. Milena Rampoldi: Ihr Kind leidet unter
Autismus. Wir würden Sie unseren Leserinnen und Lesern erklären, wie sich
Autismus äußert?
Mutter von Ida: Lang oder Kurz 😉 Ich
habe mal einen Vortrag für den Kindergarten geschrieben. Dieser umfasst
allerdings mehrere Seiten. Wenn Sie daran Interesse haben kann ich Ihnen den
Vortrag aber sehr gerne senden. Vorerst versuche ich es in kurz:
Es ist schwierig allgemein
zu erklären wie sich Autismus äußert, da die Bandbreite sehr groß ist. Von
geistiger Behinderung und absoluter Non-Verbalität bis hin zu Hochbegabung und
“blumiger” Sprache ist alles dabei. Allen Autismusformen gemein ist
aber der fehlende Reizfilter, das “erschlagen werden” von den vielen
Eindrücken unserer Welt und die andere Reizverarbeitung und Kontaktaufnahme.
Autismus ist eine tiefgreifende Entwicklungsstörung. Tiefgreifend bedeutet,
dass es die gesamte Persönlichkeit betrifft und nicht aufgeholt wird oder sich
verwächst. Beziehungen zu Nicht-autistischen Mitmenschen gestalten sich
aufgrund der anderen Wahrnehmung und der Eigenheiten oft als sehr schwierig.
Die Eigenheiten kommen daher, dass Autisten Informationen aus ihrer Umwelt auf
eine andere Art und Weise verarbeiten als andere Menschen. Viele Autisten haben
große Schwierigkeiten Gesichter zu erkennen, sich in andere hineinzuversetzten
oder deren Gefühle zu deuten. Auch Körperkontakt und Blickkontakt sind schwerig
und meistens werden Meinungen und Gedanken ungeschönt ausgesprochen- was dazu
führt, dass viele Autisten für unhöflich oder gefühllos beschrieben werden- was
Sie aber keinesfalls sind. Die meisten Autisten sind sehr stark auf bestimmte
Rituale, Gewohnheiten und Abläufe festgelegt. Sprichwörter oder Redewendungen
werden meist wörtlich genommen. “Durch computertomografische Aufnahmen von
Autisten weiß man, dass in ihren Gehirnen Verbindungen verschiedener Regionen
fehlen, besonders das Gefühlszentrum im Hirn ist schlecht verdrahtet. Dafür
wächst das Gehirn eines Autisten rascher als das anderer Menschen offenbar
unterscheidet es nicht zwischen wichtigen und unwichtigen Informationen, alle
werden gespeichert. Dass es bei dieser Menge an Daten im Kopf zu einer
Reizüberflutung kommen kann, verwundert nicht. Und tatsächlich sind viele Autisten
sehr empfindlich, können z. B. laute Geräusche oder starke Gerüche kaum
ertragen und fühlen sich in einer reizarmen Umgebung wesentlich wohler.
Nicht-Autisten besitzen eine eigene Gehirnregion, die nur für das Erkennen von
Gesichtern zuständig ist. Bei Autisten scheint diese Region nicht aktiv zu
sein, daher können sie Gesichtsausdrücke viel schlechter wahrnehmen. Auch
bestimmte Verbindungen im Gehirn, die für das Nachahmen zuständig sind,
funktionieren nicht so gut und tatsächlich: autistische Kinder imitieren beim
Spielen ihre Bezugspersonen nicht.” (Quelle: Was ist was) Vielleicht lässt
sich der gemeinsame Nenner am besten über die Diagnosekriterien beschreiben:
Gebiet 1: soziale
Kommunikation (aus jedem Bereich mindestens eines)
1A: merkwürdige Kontaktaufnahme
ODER Unfähigkeit, Gespräche aufrecht zu erhalten ODER keine Gespräche starten
1B: kaum Verwendung von
Mimik/Gestik ODER Auffälligkeiten bei Blickkontakt ODER Defiziten beim
Verständnis nonverbaler Kommunikation
1C: Defizite bei der
Aufnahme und Aufrechterhaltung von Beziehungen
Gebiet 2:
Stereotypien/Rituale (mindestens zwei Kriterien)
2A: Stereotypien ODER
repetitive Bewegungen ODER Echolalie
2B: Routinen
2C: Spezialinteresse
2D: Hyper- bze.
Hyporeaktivität auf sensorische Reize oder andere Reize
Für mich persönlich steht
die andere Wahrnehmung und der fehlende Reizfilter ganz klar im Vordergrund und
bedingt alles andere (Stereotypien und Stimmings um sich besser zu spüren und
zu erden, Aggressionen und Panik weil man reizüberflutet ist…). Und ich
möchte noch anmerken, dass viele Autisten nicht sagen würden, dass Sie „unter
Autismus leiden“, sondern, dass Sie Autist sind- es gehört zu Ihnen und ist
Ihre Wesensart- Gelitten wird meist unter den Begleitumständen. 

 
Dr. phil. Milena Rampoldi: Wie und warum wird Ihr Kind
diskriminiert?
Mutter von Ida: Es gibt vieles was unsere
Tochter einfach nicht erträgt, nicht ertragen kann- sei es helles Licht, viele
Geräusche auf einmal, Menschenmengen, gewisse Berührungen, für Sie unlogische
oder sich widersprechende Aussagen, das durcheinanderbringen Ihrer Routinen und
Ordnung… und ich finde es demütigend und diskriminierend, dass es immer
wieder Menschen gibt, die der Meinung sind, dass Sie sich nur anstrengen muss,
richtig erzogen werden muss, dass Sie sich einfach keine Mühe gibt und sich schlecht
benimmt. Wenn Ida alles zuviel wird, dann kann Sie nicht mehr sprechen oder
gesellschaftlich adäquat reagieren. Ihr Betriebssystem bricht zusammen- Sie
weint, schreit, wird panisch, fremd- und autoaggressiv. Die meisten Leute
vermitteln einem, dass Sie einfach lernen muss sich zu beherrschen, dass wir
als Eltern versagt haben und Sie ein ungezogenes Kind ist.

 
Ebenso
ist Ida stark entwicklungsverzögert, trägt mit 5,5 Jahren noch Windeln, ist
sehr unselbständig und braucht bei allen Verrichtungen des täglichen Lebens
Hilfe und kann bei vielem nicht mithalten was Gleichaltrige Kinder längst schon
können (auf dem Spielplatz klettern…) – Doch sieht man Ihr Ihre Behinderung
nicht an- und so ernten Sie und Wir regelmäßig Kommentare, “warum so ein
großes Kind denn noch…”. Wenn ich dann entgegne, dass Sie eine
Behinderung hat, kommt nicht selten: “Aber man sieht ja gar nichts”.

 
Ich
empfinde es oft als sehr schwer, dass Autismus als unsichtbare Behinderung
ständig bewiesen und gerechtfertigt werden muss. Und das ja leider nicht nur im
privaten Bereich, sondern auch bei Ämtern, Fachleuten – ja selbst im
Krankenhaus. In vielen Köpfen herrscht das Bild, dass Autisten nur schweigend
und schaukelnd in der Ecke sitzen und sobald jemand mehr kann, kann es so schlimm
ja nicht sein und er muss sich nur beherrschen…

 
Desweiteren
finde ich es extrem diskriminierend wie in unserer Gesellschaft die Worte
“Autismus” und “Behinderung” benutzt werden. Es ärgert mich
sehr, wenn Presse und Fernsehen „Autist“ zu einer Art Modewort machen und z.B.
bei Handybenutzern von „sozialem Autismus“ sprechen oder jegliche Dummheiten
und Gewaltverbrechen (Tebartz van Elst, diverse Amokläufe..) damit in
Verbindung gebracht werden ohne jede Diagnose. 

 

Dr. phil. Milena Rampoldi: Wie kann man dazu
beitragen, damit die Gesellschaft anfängt umzudenken und Kinder mit Autismus
aufnimmt und akzeptiert?
Mutter von Ida: Durch Aufklärung- sei es
in Gesprächen, in Zeitungen, in Filmen – und natürlich auch in (Kinder)Büchern.
Das Bild von Autismus in der Gesellschaft ist noch immer sehr einseitig- für
die meisten ist ein Autist entweder ein verqueres Genie oder ein sprachloser
Mensch in einer Art Glaskugel.
 
Leider ist die Gesellschaft heute sehr genormt und es scheint das
non-plus-ultra zu sein gut angepasst zu sein. Wir sollten allgemein den Druck
ein wenig herausnehmen und Individualität wieder mehr zulassen, -nicht nur bei
autistischen Kindern- und die Sichtweisen schätzen lernen die eine andere Art
zu denken uns geben kann. Wenn es immer nur darum geht möglichst schnell,
möglichst konform möglichst viel zu erreichen, dann haben Autisten in der
Regelschule kaum eine Chance, da Sie von den Eltern anderer Kinder nur als
störend und als Bremse empfunden werden.

 
Dr. phil. Milena Rampoldi: Wie wichtig sind
Kinderbücher über den Autismus und warum?
Mutter von Ida: Sehr wichtig. Zum einen
für das autistische Kind selber, da es anders ist als die Kinder in den meisten
Büchern und sich und seine Gefühle sicher auch einmal wiedererkennen möchte.
Zum anderen für die andern Kinder, da Sie sicher bemerken, dass mit diesem Kind
irgendetwas anders ist, aber es nicht greifbar für Sie ist und sehr schwer zu
verstehen, warum es zum Beispiel negativ auf gut gemeintes (Berührungen)
reagiert. Und natürlich ist es wichtig für Eltern und Pädagogen, da Sie es
sind, die es Ihren Kindern erklären müssen und während es zu jeder Thematik
(Schnuller, Schlafen, Wut… ) zahlreiche Kinderbücher gibt ist es schwierig
etwas passendes über Autismus zu finden.

 
Dr. phil. Milena Rampoldi: Wie wichtig ist der
Austausch mit anderen Eltern, um über Autismus zu sprechen?
Mutter von Ida: Mit anderen Eltern von
Nicht-Autisten ist er sehr wichtig im Sinne der Aufklärung, des Verständnisses
und des gegenseitigen erweitern des Blickwinkels.
 
Mit anderen Eltern von Autisten ist es einfach unglaublich gut einmal nichts
erklären, nichts rechtfertigen oder entschuldigen zu müssen. Man kann sich
gegenseitig stützen und unterstützen (Schwerbehindertenausweis,
Integrationshilfe, Pflegestufe) und man weiß einfach, dass das Gegenüber
versteht was man meint. Es ist das eine gut über Autismus informiert zu sein,
aber es ist nochmal etwas ganz anderes tagtäglich damit den Alltag zu meistern.

 
Dr. phil. Milena Rampoldi: Was können die anderen
Kinder von den autistischen Kindern lernen?
Mutter von Ida: Ganz allgemein kann man
immer voneinander lernen, gerade wenn man unterschiedlich ist und die Welt
unterschiedlich wahrnimmt. Von Kindern mit Behinderung, egal ob Autismus oder
andere Behinderungen, kann man lernen, dass es ok ist anders zu sein. Die
Kinder können Toleranz lernen und Ihre Weltsicht erweitern, Sie können lernen
anderen zu helfen und Sie zu unterstützen. Sie lernen, dass es nicht nur den
einen Weg gibt. Von autistischen Kindern im speziellen, kann man lernen seine
Wahrnehmung zu schärfen. Ganz anders auf Töne und Gerüche… zu achten. Die
Welt „mit anderen Augen“ zu betrachten. Viele autistische Kinder haben einen
faßzinierenden Blick fürs Detail. Ihnen fallen Dinge auf, die andere Kinder gar
nicht bemerken und es ist zwar manchmal ein wenig zu direkt, aber ich
persönlich finde es sehr wohltuend, dass autistische Kinder in der Regel keine
Schauspieler sind. Was Sie sagen meinen Sie und auch wenn Sie Gefühle oft nicht
so gut „lesen“ können haben Sie ein fazzinierende Innenleben.
Viele herzliche Grüße,
(die Mama von Ida)