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Ein Märchen aus Nigeria

Liebe Leserinnen und Leser,

wir haben bereits einige Male die Bedeutung der interkulturellen Pädagogik der Märchen hervorgehoben und aufgezeigt, wie wichtig es einerseits ist, Geschichten über die bunte Welt der Mosaiksteine zu schreiben, um das Verständnis zwischen den Kulturen anhand von Fabeln zu fördern, und andererseits haben wir auch dargelegt, wie wichtig es für Kinder (und auch für Erwachsene) ist, Märchen und Fabeln aus aller Welt von Klein auf zu hören, um ihren kulturellen Horizont und ihr interkulturelles Verständnis zu entwickeln. Fabeln und Märchen helfen uns auch konstruktiv bei der Bekämpfung von Vorurteilen und jeglicher Form von Rassismus, Diskriminierung und vor allem der Angst vor dem Anderen.

Eine erfolgreiche interkulturelle Kommunikation ist für uns von ProMosaik e.V. aber ohne interkulturelle Empathie nicht möglich. Und interkulturelle Empathie ist ohne Wissen über den Anderen unmöglich. Fabeln und Märchen ermöglichen uns den Zugang zu den anderen Kulturen und Religionen und entwickeln unsere interkulturelle Sensibilität.

Wir freuen uns auf Ihre Kommentare zu diesem Märchen aus Nigeria.

Dankend

Dr. phil. Milena Rampoldi
Redaktion von ProMosaik e.V.

Warum man nicht lügen soll

Vor langer Zeit lebte einmal ein Schäfer, der hatte eine riesige
Schafherde. Fast jeden Tag wurden einige Lämmer geboren, und so wusste
er bald nicht mehr, wie viele Tiere er besaß. Dieser Schäfer war ständig
zu lustigen Streichen aufgelegt. So kam es, dass er bald im ganzen Land
als fröhlicher Spaßvogel bekannt war. Obwohl er nur selten mit Menschen
zusammenkam, wusste er doch immer die neuesten Ereignisse.

Als er eines Tages seine Schafe vor den Toren der Hauptstadt
weidete, kam ihm plötzlich ein seltsamer Gedanke. Er dachte, wie wäre
es, wenn ich die trägen Bewohner der Hauptstadt einmal richtig in Angst
und Schrecken versetzte. Er trieb deshalb seine Herde ganz nahe an die
Stadtmauer heran und rief plötzlich um Hilfe.

»Ein Löwe will mich fressen! Helft mir aus meiner Not!«

Als die am Stadttor wachenden Königssoldaten die Hilferufe des
Schäfers hörten, schlugen sie mit ihren großen Trommeln Alarm. Schon
nach kurzer Zeit tauchten aus allen Stadttoren bis an die Zähne
bewaffnete Männer auf, die glaubten, einen feindlichen Angriff auf ihre
Vaterstadt abwehren zu müssen. Als sie zu ihrem Ärger jedoch auf der
Hochebene vor der Stadt keinen einzigen feindlichen Krieger entdecken
konnten, entstand bald ein heilloses Durcheinander. In das erregte
Schreien der Stadtbewohner mischte sich das ängstlichen Blöken der
auseinanderstiebenden Schafe. Die Männer der Hauptstadt waren über den
üblichen Streich des Schäfers so zornig, dass sie beschlossen, ihn dem
König vorzuführen.

Einige besonders wütenden jungen Männer fesselten den sich heftig
wehrenden Spaßvogel und schleppten ihn zum Königspalast, wo er sogleich
dem Herrscher vorgeführt wurde. Nachdem sich die Diener auf einen Wink
ihres Herrn zurückgezogen hatten, sprach der König zu dem mit dicken
Stricken gebundenen Schäfer: »Ich habe gehört, dass du unsere Hauptstadt
zum Narren halten wolltest. Für deine schändliche Tat müsste ich dich
für einige Tage ins Gefängnis werfen.«

»Habt Gnade mit Eurem untertänigsten Diener«, jammerte der
Spaßvogel, »ich wollte die Bewohner der Stadt gar nicht ängstigen! Ich
wollte nur wissen, ob die beiden am Haupttor wachenden Krieger wieder
einmal schlafen, anstatt nach Feinden Ausschau zu halten. Dass die
beiden dummen Kerle gleich Alarm geschlagen haben, ohne nachzusehen, ob
überhaupt Gefahr droht, kann mir gerechtigerweise nicht zum Vorwurf
gemacht werden.«

»Wenn du wirklich nur die beiden Schlafmützen am Haupttor
aufwecken wolltest, dann will ich dich aus deinen Fesseln befreien
lassen«, sprach der König und rief seine Diener herbei. Als der Schäfer
sich wieder frei bewegen konnte, dankte er seinem Herrn für seine
Großmut und verließ vergnügt den königlichen Palast. Es kostete ihn viel
Mut, die nach allen Richtungen geflohenen Schafe wieder
zusammenzutreiben. Einige junge Leute, die sich darüber ärgerten, dass
der Schäfer vom König so schnell wieder freigelassen worden war, machten
sich einen Spaß daraus, die verängstigten Schafe noch weiter zu
zerstreuen.

Das Gespött der Leute wurde für den Schäfer so unerträglich, dass
er beschloss, niemals wieder in seinem Leben die Unwahrheit zu sagen.
Auch die Hauptstadt wollte er nicht mehr betreten; denn dort sah
jedermann in ihm nur noch einen Lügner.

Als die Nacht hereinbrach, legte er sich am Fuß der Stadtmauern
inmitten seiner Schafe zur Ruhe. Plötzlich wurde er durch lautes Gebell
seiner Hunde aus dem Schlaf gerissen. Er rieb sich schlaftrunken die
Augen, konnte in der Dunkelheit aber nichts Verdächtiges entdecken.

Da hörte er ganz in der Nähe den Todesschrei eines Lämmchens, und
im gleichen Augenblick sah er auch schon einen riesigen Schatten.

»Das ist ein Löwe«, schoss es ihm durch den Kopf. »Ich muss sofort Alarm schlagen, sonst zerreißt er meine ganze Herde.«

Er rief laut um Hilfe, um die Bewacher der Stadttore auf seine Not aufmerksam zu machen.

Als die in der Nähe wachenden Soldaten die Hilferufe des Schäfers
vernahmen, sagte der Hauptmann der Torwache mit verächtlichem Lächeln zu
seinen Leuten: »Der alte Narr glaubt wohl, wir würden noch einmal auf
seinen Scherz reinzufallen und die ganze Stadt in Angst und Schrecken zu
versetzen. Wenn er merkt, dass wir seinen Löwengeschichten keinen
Glauben mehr schenken, wird er sich bald beruhigen!«

Mit diesen Worten kehrte der Hauptmann in seine Hütte zurück und befahl seinen Soldaten, sich ebenfalls zur Ruhe zu legen.

Am nächsten Morgen wurden die Torwachen von einem der Hunde des
Schäfers geweckt. Das Tier gebärdete sich wie toll und versuchte, einen
der Soldaten mitzuzerren.

»Der Hund will uns etwas zeigen«, sagte schließlich einer der Wachsoldaten, der als guter Tierkenner bekannt war.

»Wir wollen sehen, wo er uns hinführt.«

Drei der Torwachen folgten dem treuen Tier auf die Hochfläche vor
der Stadt. Als sie die weit verstreuten Schafe erblickten, sagte einer
von ihnen: »Wo ist nur der Schäfer? Er hält doch sonst seine Herde
sorgfältig zusammen.«

»Er muss dort drüben an der Stadtmauer liegen«, meinte ein anderer. »Der Hund läuft auch geradewegs auf die Stelle zu.«

Beim Näher kommen bot sich den Männern ein fürchterlicher Anblick.
Der Schäfer lag in einer großen Blutlache und gab kein Lebenszeichen
mehr von sich.

Die Soldaten sahen sofort, dass hier ein Löwe gewütet hatte.

»Der König der Tiere hat ihm die Lüge nicht verziehen«, dachten
die Soldaten und kehrten in die Stadt zurück, um ihrem Herrscher die
Nachricht zu überbringen.

Der König entschied, dass man den toten Schäfer an der Stelle
beerdigen solle, an der er von dem Löwen zerrissen worden war. Über dem
Grab des Toten ließ er später einen großen Stein aufrichten, auf dem das
traurige Ende des Lügners für jedermann sichtbar in einem Bild
dargestellt wurde.

In dieser Stadt erzählen die Eltern ihren Kindern noch heute die
Geschichte vom traurigen Ende des lügnerischen Schäfers als warnendes
Beispiel.

Quelle: Hekaya