General

Der große Tolstoj und sein Verhältnis zum Islam – ein alter IZ-Artikel von 2010

Liebe Leserinnen und Leser,

anbei ein Artikel, den Suleiman Wilms 2010 in der IZ veröffentlichte und den ich sehr interessant finde. Es geht hier um das Verhältnis des großen Schriftstellers Tolstoj mit dem Islam. Er wurde wegen seiner Anschauungen isoliert, aber gerade heute, in einer Welt voller religiöser Kämpfe und Auseinandersetzungen sollten wir uns über die Einheit der drei monotheistischen Religionen Gedanken machen.

Der Islam ist die dritte monotheistische Religion und hat vieles mit dem Judentum und Christentum gemeinsam. Für die Muslime ist sie die Fortsetzung der Offenbarungsgeschichte… Warum wird der Islam nicht anerkannt? Warum tut sich die Welt so schwer, diese dritte monotheistische Religion als Offenbarungsreligion anzuerkennen?

Wir freuen uns auf Ihre Zuschriften hierzu

dankend
Dr. phil. Milena Rampoldi
Redaktion von ProMosaik e.V. 

Anbei auch ein schönes Zitat hierzu auf Facebook:

23.12.2010 Anmerkungen zum Verhältnis des Dichters Leo Tolstoi zum Islam. Von Sulaiman Wilms

Ein Meister aus Russland

„Muhammad stand immer höher als das
Christentum. Er betrachtete Gott nicht als menschliches Wesen und stellt
sich niemals auf die gleiche Stufe wie Gott. Muslims beten nichts an
außer Gott und Muhammad ist Sein Gesandter. Hier gibt es kein Mysterium
und kein Geheimnis. (…) Für mich ist offenkundig, dass Islam (…)
höherwertig ist.“ (Aus den Erinnerungen von Tolstois slowenischem Arzt
Duschan P. Makowitski)

(iz). Entgegen der landläufigen ­Mei­nung, die
durch das zeitgenössische populistische Gerede von einem ausschließlich
„jüdisch-christlichen Erbe“ täglich wiederholt wird, gibt es unzählige
Anknüpfungspunkte zwischen „Europa“ und „dem Islam“. Einer davon ist
zweifelsohne die Beschäftigung großer europäischer Geister wie Dante,
Shakespeare, Goethe, Rilke und anderen mit dem islamischen Erbe. Ein
Blick in ihre Werke belegt ein Interesse an dieser heute verkannten
Religion und jener Weltkulturen, die sie hervorbrachte.

Eine der
großen, für sich stehenden Persönlichkeiten Europas war der russische
Schriftsteller Leo Tolstoi, der in seiner Zeit eine starke Anziehung auf
viele Menschen ausübte. Neben Werken wie „Krieg und Frieden“, „Die
Kreutzersonate“, „Anna Karenina“ und „Hadschi Murat“ waren es auch seine
Lebensweise und Welthaltung, die ihn zu einer vorbildhaften Gestalt
machten. Für den deutschsprachigen Dichter Rainer Maria Rilke, nach
Ansicht mancher der größte des letzten Jahrhunderts, war Tolstoi die
Verkörperung des Russen schlechthin. Auf ­seiner zweiten Reise nach
Russland ­besuchte Rilke den russischen Dichter auf seinem Landgut. Eine
Begegnung, die bei dem damals jungen Rilke einen bleibenden Eindruck
hinterließ.

Im Vorwort des englischen Buches „The last day of Leo
Tolstoy“ von Wladimir Tschertkow schrieb dessen Herausgeber: „Beinahe
ein Jahrhundert nach seinem Tod bleibt Leo Tolstoi ein Gigant in der
Welt der Literatur. Zur gleichen Zeit kann die Wirkung seiner
‘spirituellen Mission’ nicht bemessen werden.“ Tolstois Text „Eine
Beichte“, die in den letzten Jahrzehnten des vorletzten Jahrhunderts
geschrieben wurde, konnte auf keine massenhafte Breitenwirkung in einer
Welt zählen, in der Materialismus als der einzige glaubwürdige Weg
anerkannt wurde, Wissen zu erlangen. Das Denken in spirituellen
Dimensionen wurde als ein Versuch missverstanden, der nur zu
Irrationalität und unwissenschaftlichem Denken führte.

Bereits in
jungen Jahren war er skeptisch über das, was ihm in der Schule als
orthodoxes Christentum beigebracht wurde. Die Bekreuzigung und der
Kniefall in den Gebeten waren für ihn ­bedeutungslose Handlungen, zu
denen er keine Bindung mehr aufbauen konnte. Er teilte mit anderen den
Eindruck, dass religiöse Personen als „geistig schwache, grausame und
unmoralische Menschen“ betrachtet wurden, die sich selbst wichtig
nahmen. „Die Erkenntnis durch die Vernunft, wie sie die ­Gelehrten und
Weisen vertreten, leugnet den Sinn des Lebens. Die ungeheuren Massen der
Menschen aber, die gesamte Menschheit erkennt diesen Sinn an in einer
nicht auf Vernunft gegründeten Erkenntnis. Und diese nicht auf Vernunft
gegründete Erkenntnis ist der Glaube, eben der Glaube, den ich durchaus
ablehnen musste. Es ist der Glaube an den einigen und dreieinigen Gott,
an die Erschaffung der Welt in sechs Tagen, an Teufel und Engel und all
das, was ich nicht anerkennen kann, solange ich nicht meinen Verstand
­verloren habe“, schrieb Leo Tolstoi in dem Text. Trotzdem räumte er
ein, dass er damals an etwas glaubte, auch wenn er nicht in der Lage
war, das zu beschreiben.

1851 ging Tolstoi in den Kaukasus. Eine
Reise, die tiefe Spuren bei ihm hinterließ. Er schloss sich einem
Artillerieregiment an und wurde Student an einer Militärakademie. 1853
musste er gegen die Osmanen kämpfen und 1854 wurde er der Krimarmee
überstellt und an die Front abkommandiert. 1856 verließ Tolstoi den
Militärdienst. In „Hadschi Murat“ schrieb Tolstoi über die Lebensweise
im Kaukasus und in „Sewastopol“ (1855) über seine Erlebnisse des
Krimkrieges.

Zwei Ereignisse beeindruckten den jüngeren
Schriftsteller aufs Tiefste. Bei einem Besuch in Paris beobachtete er
die Hinrichtung eines jungen Mannes. Ein Anblick, der ihm die
„Verletzlichkeit meines Aberglaubens in den Fortschritt“ vor Augen
führte. Das zweite war der Tod seines Bruders, ohne dass er verstehen
konnte, warum dieser gelebt hatte oder noch weniger, warum er gestorben
sei.

Tolstoi, der viel zur Literatur seiner Heimat und ihrer
Geschichte beigetragen hatte, wurde vor allem als Autor bekannt. Seine
philosophischen Ansichten und Arbeiten über Gott, die Seele, Wissen,
Liebe und den Sinn des Lebens sind heute weniger bekannt. Und dies,
obwohl es zu seinen Lebzeiten (und vor der kulturellen Auslöschung durch
den Bolschewismus) sogar eine Gruppe von Leuten gab, die sich – gegen
seinen Willen – in der Bewegung des Tolstojanismus versammelte. Die
anhaltende Suche nach dem Sinn des Lebens und moralischen Vorstellungen,
aber auch seine spirituelle und soziale Zeitkritik durchzog alle seine
Werke.

Nach den 1870er Jahren wandte er sich mehr und mehr Fragen
nach Tod, Sünde, Reue und moralischer Wiederbelebung zu. Nach Ansicht
der Literaturwissenschaftlerin Prof. Dr. ­Elfine Sibghatullina soll der
Dichter auch in direkten Kontakt mit tatarischen Muslimen gekommen sein,
die eines Zweiges der Naqschibandi-Tariqat angehörten. Laut
Sibghatullina sei deren Leiter Bahauddin Waisow mit Tolstoi
zusammengekommen. Später ­wurde Waisow wegen eines kritischen Briefes an
den Zaren verhaftet und ­verbannt.

Für viele Russen seiner Zeit –
aber nicht für alle – blieb Tolstois Denken in vielen Fällen
unverstanden. Er wurde exkommuniziert und viele seiner Freunde wandten
sich von ihm ab.

Leo Tolstoi starb im Jahre 1910, im Alter von 81 Jahren.

Neben
der eindrücklichen Schilderung eines Wanderderwisch in seinem Werk
„Krieg und Frieden“ und dem Kaukasus-Drama „Hadschi Murat“ verfasste der
große Russe eine Sammlung von Gedanken über den Propheten Muhammad,
möge Allah ihn segnen und ihm Frieden geben, die auf einer Sammlung
prophetischer Aussagen des indisch-muslimischen Gelehrten As-Suhrawardi
(1908 als Überset­zung in London veröffentlicht) basierte. Lange Zeit
war diese Schrift nur ­einigen Interessierten bekannt. Im Internet liegt
das Dokument unter dem Titel „The Hidden Book“ auf Englisch vor. Dessen
Herausgeber Rasih Yilmaz und Faruk Yilmaz haben Aussagen, Notizen und
einige Briefe Tolstois zum Thema kommentiert zusammengefasst.

Die
Absicht der Zusammenstellung, so das Vorwort, sei gewesen, jenen Aspekt
mit anderen zu teilen und den Text als ein Zeichen von Tolstois
Bewunderung für den Islam zu betrachten. Es liege nicht in ihrem
Interesse, Behauptungen aufzustellen, die auf nichtexistenten Dokumenten
beruhten. Für sie hätten folgende Worte Tolstois einen hohen Wert:
„Hätte der Mensch das wahrhafte Recht der freien Wahl, dann würde jeder
Christ und jeder Mensch mit einem Bewusstsein den Mohammedanismus
akzeptieren: ein Gott und Sein Gesandter ohne Zweifel und Verdacht.“

Zweifelsohne
sei die Arbeit von Tolstoi über den Propheten Muhammad kein geringes
Ereignis im zaristischen Russland gewesen. An die Russin Y. Welikova,
Ehefrau eines aserbaid­schanisch-türkischen Generals im Dienste des
Zaren, deren Sohn darüber nachdachte, den Islam anzunehmen, gab Tolstoi
den folgenden Rat: „Soweit es die Bevorzugung des Mohammedanismus über
die Orthodoxie betrifft (…) so kann ich voll mit einer Konversion
sympathisieren. (…) Ich bezweifle nicht, dass der Islam in seiner
äußeren Form über der orthodoxen Kirche steht. (…) und jeder wird den
Islam mit seiner Anerkennung eines Pfeilers, einem Gott und Seines
Propheten, bevorzugen anstatt solcher komplexer und unverständlicher
Dinge in der Theologie (…)“

Tolstois Abhandlung über den
Propheten, möge Allah ihn segnen und ihm Frieden geben, wurde 1909 vom
Poresdnik Verlag (unter dem Titel „Die Sprüche von Muhammad, die nicht
im Qur’an enthalten sind“) veröffentlicht. Mit dieser Arbeit machte er
russische Leser vertraut mit Überlieferungen des Propheten.

Im
kommunistischen Russland war eine Veröffentlichung nicht möglich.
Insbesondere in den ersten Jahrzehnten des erzwungenen Atheismus wurden
religiöse Menschen massiven Verfolgungen unterworfen. 1978 wurde die
Veröffentlichung der Abhandlung in Aserbaidschan nach anfänglicher
Zen­sur erlaubt. Nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion und ihrer
Unterdrückung von Religion wurde sie 1990 wieder auf Russisch
veröffentlicht.

Es sei unmöglich, so die Herausgeber der
Abhandlung, zu glauben, dass die Worte und Handlungen des Propheten,
seine Duldsamkeit, seine Moralität, Gerechtigkeit, Ehrlichkeit und viele
andere universale Werte geistig gesunde Menschen, wie Tolstoi es
ausdrückte, nicht anziehen konnte. Tolstoi, wie andere ehrliche Menschen
auch, konnte die Feinheit des prophetischen Charakters erkennen und
sprach sie aus.

Aus einem anderen Brief wird deutlich, welche
Weltanschauung aus Tolstois lebenslanger schmerzhafter Suche nach der
Wahrheit erwuchs: „Ich wäre sehr froh, wenn Sie meinen Glauben teilen
würden. Versuchen Sie zu verstehen, was mein Leben ist. Ein jeglicher
Erfolg im Leben – Reichtum, Ehre, Ruhm; diese habe ich nicht. Meine
Freunde, sogar meine Familie wenden sich von mir ab. Einige – Liberale
und Ästheten – betrachten mich als wahnsinnig oder geistesschwach wie
Gogol. Andere – Revolutionäre und Radikale – sehen in mir einen Mystiker
und Mann, der zu viel redet. Die Offiziellen halten mich für einen
bösartigen Revolutionär und die Orthodoxen betrachten mich als einen
Teufel. Ich gestehe Ihnen, dass dies hart für mich ist (…) Und daher,
betrachten Sie mich bitte als einen freundlichen Mohammedaner; und alles
wird gut werden.“