von Jürgmeier / 03. Feb 2019, erste Veröffentlichung auf Infosperber, Auch wenn wir es nicht wahrhaben wollen – selbst in unserem Sozialstaat gibt es Arme, auch in Diktaturen gibt es freie Menschen.
Mit den Enkelkindern an diesem Weihnachtsmarkt. In Zürich. Auf diesem Platz, auf dem sie im Frühling an einem Abend um sechs diesen Bögg verbrennen und Zünftler in diesen Kostümen aus dem Mittelalter um einen Scheiterhaufen reiten. Beklatscht von denen, die sich auch in diesen Zeiten nach einer Welt wie in Kindermärchen sehnen. N. gefällt es auf der Eisbahn besonders gut. Während ich ihn mit dieser Eishilfe, die wie ein Pinguin aussehen soll, auf dem gefrorenen Wasser – das in der Sonne schon wieder zu schmelzen beginnt – herumziehe, murmelt er: «Da möchte ich noch ganz lange bleiben.» Und es klingt wie eine Forderung. Was «lange» bedeutet, verrät er nicht. Noch teilt er die Zeit nicht in StundenMinutenSekunden. Als er meine alte Stoppuhr letztes Mal mitnehmen wollte, habe ich mit ihm abgemacht und entschieden: «Wenn du messen kannst, wie lange du brauchst, um einmal ums Haus zu rennen.» Die orange Heuer liegt noch auf meinem Schreibtisch. Und zählen kann er erst bis vierzehn. Sind vierzehn Runden für ihn «ganz lange»?
«Jetzt ist’s dann genug, und über dem Albis ist es schon ganz schwarz, bald regnet es auch hier.» Versucht S., die Grossmutter, beim CervelatmitPommes essen den Ausflug zu beenden. Für sie ist «lange» schon lange vorbei. «Noch eine Runde», verspreche ich N. Auf dem Eis fragt er: «Du hast doch dein Handy dabei?» Ja, sage ich. «Warum?» «Dann kannst du doch nachschauen, ob es regnet.» Er hofft, mit einem dieser Wetterapps könne er das meteorologische Auge der Grossmutter austricksen. Die Zeiten, in denen Kinder Erwachsenen einfach glaubten, sind vorbei. Lange schon. Vier ist der Kleine. Der kein Kleiner mehr sein will.
10. Dezember 2018
Eine Frau will Geld. Für die Notschlafstelle. Behauptet sie. Ich habe meinen argwöhnischen Tag und will wissen: «Wieso?» Sie habe keine Arbeit. Dann bekomme sie doch Sozialhilfe. Entgegne ich und vergesse die Arbeitslosenversicherung. Nein. Erwidert sie. Schon ziemlich unwillig. Sie erhalte tausend Franken Invalidenrente. Die Hälfte kassiere der Beistand. Brummt sie und läuft wütend weg. Warum gebe ich ihr nichts? Kränke sie mit meinen Fragen? Wegen ihres Untertons, meiner Tageslaune oder wegen des Wetters?
Und warum habe ich in jungen Jahren – als ich mit zwanzig Franken noch zwei Taschenbücher kaufen konnte – dem Bettler vor einem Supermarkt im Süden Frankreichs zwanzig Francs in die Konservendose mit den paar Münzen gelegt? Warum wäre ich fast zurückgerannt, um dem überschwänglich Dankenden alles zu geben, was ich dabei hatte, und mit dem nächsten Zug in die Schweiz zurückzufahren? Weil er der erste richtige Bettler war, den ich gesehen? In dem Kaff, in dem ich aufgewachsen, habe ich an einer Haustüre auf der anderen Strassenseite zwar immer wieder das Schild «Betteln und Hausieren verboten» gelesen, aber einem Bettler bin ich, auch als das Dorf zur Stadt wurde, nie begegnet. Einer Bettlerin schon gar nicht.
Warum habe ich der jungen Frau im Abteil hinter mir die Busse für Fahren ohne gültigen Fahrausweis bezahlt? Ungefragt. Um ihr die Demütigung zu ersparen, dem Kontrolleur vor grossen Ohren und hämischen Mäulern – denen ich diesen Triumph nicht gönnte – während Minuten ihre persönlichen Angaben buchstabieren zu müssen? Für sie wäre das erniedrigende Prozedere womöglich Routine gewesen. Sie bestand darauf, dass ich ihr meine Adresse gab. «Natürlich bekommst du dein Geld wieder.» Beteuerte sie. Stolz. Und liess nie mehr etwas von sich hören.
Warum habe ich für den jungen Mann in die Tasche gegriffen, der mich zurückhaltend, aber gut verständlich, um präzis zwei Franken fünfzig bat? Zehnmal müsse er das (erfolgreich) machen, dann habe er das Geld für die Zugfahrt zusammen. Er wartete in gebührendem Abstand, wie vor dem Postschalter, während ich, eines der ersten Vanillecornets in der Linken, versuchte, mit der rechten Hand das erbetene Geld aus dem Portemonnaie zu klauben. Ich müsse ihm Münz geben, entschuldigte ich mich. Das sei «scho rächt», meinte der Mann, der vermutlich kein Bettler sein wollte, grosszügig, Hauptsache, der Automat «frisst’s». Ich glaubte ihm kein Wort und fragte mich nachträglich, ob ich nicht etwas unvorsichtig gewesen. Für so einen Trickdieb – vor denen wir beim Eindunkeln regelmässig gewarnt werden – wäre es ein Leichtes gewesen, mir die kugelsichere Geldbörse aus der Hand zu reissen und davonzurennen, während ich mit der anderen Hand immer noch das schmelzende Eis in der Waffel umklammerte.
Warum liess ich den Mann, der zwanzig Franken forderte, wortlos stehen? Warum wich ich diesem Buckligen aus, der sich an der Tramhaltestelle als personifiziertes Elend an den Wartenden vorbeidrückte und dabei irgendetwas Unverständliches, aber Offensichtliches nuschelte? Und warum habe ich die freundliche Frau, die mich an der Tramhaltestelle Bahnhofquai mit offenem Blick angesprochen, ungehalten darauf hingewiesen, ob sie nicht sehe, dass ich am Lesen sei, worauf sie sich, ganz Profi, entschuldigte und ihr Glück bei anderen versuchte.
Wem geben Sie eher Geld – einem fröhlichen oder einem verhärmten, einem jungen oder einem durchs Leben gezeichneten Menschen? Einem Schweizer oder einer Ausländerin? Und woran erkennen Sie das? Wie müssen Bettelnde auftreten, damit wir nicht achtlos an ihnen vorbeigehen? Mit blutverkrustetem Schienbein, halb sitzend, halb liegend, an eine Hausmauer lehnend, in Lumpen gehüllt oder, im Gegensatz zu jenen mit den modisch durchlöcherten Jeans, mit Hosen ohne Flicken und Flecken, mit frisch gebügeltem Hemd oder einem Rock, der alles Elend verbirgt? Unterwürfig oder selbstbewusst, bittend oder fordernd, unbeholfen oder professionell, als wären sie bei Jonathan Jeremiah Peachum in Bertolt Brechts «Dreigroschenoper» in die Lehre gegangen? Der sein «Geschäft», das «Geschäft…, das menschliche Mitleid zu erwecken», für ein schwieriges, zu schwieriges hält. «Es gibt», erklärt er dem Publikum zu Beginn des Stücks, das auf «The Beggar’s Opera» von John Gay basiert, «es gibt einige wenige Dinge, die den Menschen erschüttern, einige wenige, aber das Schlimme ist, dass sie, mehrmals angewendet, schon nicht mehr wirken… So kommt es zum Beispiel, dass ein Mann, der einen anderen Mann mit einem Armstumpf an der Strassenecke stehen sieht, ihm wohl in seinem Schrecken das erste Mal zehn Pennies zu geben bereit ist, aber das zweite Mal nur mehr fünf Pennies, und sieht er ihn das dritte Mal, übergibt er ihn kaltblütig der Polizei.» Betteln und Hausieren verboten.
Bettelnde sind paradoxerweise gerade in einem Sozialstaat verdächtig. Bei uns, so der (fast) allgemeine Konsens, muss niemand Not leiden oder gar hungern. Das gibt’s nur in Afrika und Asien, vielleicht noch in Russland, in den USA oder Frankreich. Aber bei uns ist der Grundbedarf – Essen, Kleidung, Wohnung, Krankenkasse, Mobilität und Kommunikation – oder, wenn’s nach der SVP und ihren Geschwistern im Geiste geht, der Grundluxus durch Sozialleistungen beziehungsweise Sozialhilfe gedeckt. Wer bettelt, braucht das Geld für etwas anderes, als sie erzählt. Bettelnde sind Scheinbedürftige. Betteln heisst Lügen. Bei uns gibt es keine Not. Höchstens Notfälle. Wie bei dem Mann, der sich an einem Herbstnachmittag hinter dem Bahnhof Stettbach in meine Fahrspur stellte, so dass ich gerade noch rechtzeitig bremsen und mit dem Velo ausweichen konnte. Er hüpfte und fuchtelte vor mir herum wie ein ADHS-Schüler auf Ritalinentzug, und so redete er auch auf mich ein. Ich würde, müsste sicher denken, er sei, aber nein, betteln – das würde er nie, es sei schlimm, so peinlich sei das, noch nie sei ihm…, die Brieftasche, das Handy… Wäre er ein Stotterer gewesen, er hätte mindestens drei Mal ansetzen müssen, bis er mir auch das Portemonnaie als gestohlen hätte melden können, aber ein Stotterer war er nicht (oder nicht mehr), er sprach so schnell wie Fussballreporterinnen, wenn auf dem Platz etwas passiert; er müsse nach Hause, irgendwie, nach Bern müsse er und wisse nicht wie, er sehe doch nicht aus wie ein Bettler, vergewisserte er sich eins ums andere Mal. Eine rhetorische Frage, Bettlerinnen und Bettler sehen nicht aus, wie wir sie uns vorstellen.
Er blieb, trotz meines skeptischen Zögerns, freundlich, wechselte zum Du, da hinten, er deutete in die Industriezone, arbeite er, seine Kleider bestätigten meine Zweifel nicht, jeden Tag komme er mit dem Zug von Bern, dann fahre er mit dem Velo ins Geschäft. Sein Fahrrad lehnte an einem Drahtzaun, hinter dem die frisch geschorenen Schafe weideten. «Und du», wollte er wissen, «wohin gehst du?» Er ersparte mir das obligate «Was bist du?» Kam, bevor ich zu einer nichtssagenden Antwort ansetzen konnte, wieder zur Sache. Nannte schliesslich einen konkreten Betrag – 50 Franken, der Zug sei teuer geworden. Alle, sagte ich, würden mich einen naiven Trottel nennen, mir prophezeien: «Das Geld siehst du nie mehr!» Er solle mir seine Adresse geben, verlangte ich. «Peter Keller, Wilstrasse 37, Bern», diktierte er. Nahm meinen Einzahlungsschein. Selbstverständlich werde er mir das Geld in den nächsten Tagen, sonst könnte er sich am Morgen nie mehr im Spiegel, so unangenehm sei ihm das. Als ich das Portemonnaie zückte, verdoppelte er den Betrag, er müsse ja morgen wieder von Bern nach Zürich zur Arbeit fahren können. Meinen Einwand, zu Hause habe er doch sicher Geld oder könne sich etwas organisieren, überhörte er. Das Halbtax, winkte er ab, sei in seiner Brieftasche gewesen. Er liess sich nicht «drücken», und das Velo, das müsse er auch mitnehmen, damit er in Bern nach Hause, das mache nochmals 18 Franken. Irgendwie konnte ich es ihm nicht abschlagen, überlegte, wie es mir ginge, wenn jemand in einer solchen Situation meine Aufrichtigkeit in Frage stellte, und gab ihm schliesslich die 120 Franken. Er wünschte mir «Chumm guet hei» und winkte mir mit meinem Einzahlungsschein nach.
Zu Hause hatte mich mein Misstrauen, das gesunde, wieder. Ich checkte die noch knapp lesbare Adresse, natürlich gab und gibt es keine Wilstrasse in Bern, und im Haus Nummer 37 wohnte auch kein Peter Keller. Der sich so nannte, kam mir dreivier Tage später wieder entgegengefahren, das mit dem Arbeitsort schien zu stimmen, und das Velo hatte er tatsächlich von Bern wieder mitgenommen, falls er mit meinem Geld überhaupt nach Bern gefahren war. Er wich mir nicht aus, wir stoppten beide. «Läuft’s?», wollte er wissen. Ich überging die kumpelhafte Frage oder brummte ein knappes «Jaja», aber das Geld, das würde ich noch vermissen. «Ich weiss», erwiderte er und schien nicht wirklich zerknirscht, er hätte noch keine Zeit gehabt. Meinen Vorschlag, dann könne er mir die 120 Franken jetzt bar auf die Hand, übergingen wir beide. «Im Übrigen», erinnerte ich mich, gäbe es in Bern gar keine Wilstrasse. «Wilerstrasse», korrigierte er mich. Ich hätte ihn falsch verstanden, gab er sich beleidigt, und das Geld, das bekäme ich selbstverständlich in den nächsten Tagen. Ich nickte ohne Überzeugung, fuhr weiter, bevor er mich fragen konnte, ob ich ihn etwa für einen Bettler oder gar einen Betrüger hielte, so dass er mir seine guten Wünsche nachrufen musste. Die Kontrolle bestätigte, was ich schon wusste – es gibt auch keine Wilerstrasse in Bern. Mein Geld, es war definitiv weg. Der Notfall entpuppte sich als gemeiner Bettler. Ich beschloss, in nächster Zeit, Generalverdacht und Kollektivstrafe, nicht mehr auf solche Märchengeschichten hereinzufallen.
Wäre ich freigiebiger, wenn einer die Wahrheit sagte? Dass sie sich mit dem Geld etwas leisten wolle, was mit Rente oder Sozialhilfe nicht drin liege. Zigaretten, Schnaps oder andere Drogen, Turnschuhe mit In-Label, das Ticket fürs nächste Konzert von DJ Bobo oder ein Zugbillet Zürich-Samedan, Skipass inklusive. Wollen wir belogen werden? Weil wir uns die Hände nicht am Geschäft mit der Sucht schmutzig machen wollen? Weil wir lieber in Notfällen aushelfen als mit dem konfrontiert zu werden, was es in unserem sozialen Staat nicht gibt – Armut. Öffnen wir unser Portemonnaie eher für eine gute Geschichte als für das banale Elend? Für eine «Theatervorstellung». Live und wir in der Loge. Ein Schnäppchen für einzweizehn Franken. Die redlich verdient wären. Weil uns diese Inszenierung den Blick in Bettleraugen erspart, den wir – auf den Boden oder die andere Strassenseite stierend, auf den Bus deutend oder ein paar Münzen in einen Hut fallenlassend – zu vermeiden suchen, um nicht hinter den Mauern der Gemütlichkeit hervorkommen zu müssen.
Der Moment, in dem ich einer Bettlerin oder einem Bettler etwas Geld gebe, in dankbare oder enttäuschte Augen schaue, ist ein beklemmender. In diesen Sekunden sehe ich in eine andere, in eine vergessene oder verdrängte Welt – «die im Dunkeln sieht man nicht» (*). Diesen Blick in ein Leben ohne die Selbstverständlichkeiten und Privilegien, die mir (nicht nur) zugefallen, ertrage ich nicht, obwohl ich längst um meine und ihre Lage weiss. Etwas geben, bedeutet, sich einzugestehen – es wird nicht allen geholfen, die es nötig haben. Unsere Welt ist keine gerechte, unser Staat kein sozialer. Wenn wir nichts geben, den Wenigsten helfen, können wir uns vormachen – so die beruhigende Logik, die wir gerne der SVP zuschreiben –, dass es die meisten nicht nötig haben, Schein-Arme sind, die allealle nur ein besseres Leben wollen.
16. Dezember 2018
Die dank Auseinandersetzungen um einen Infosperber–Artikel (wieder einmal) ins Bewusstsein gerückte Erkenntnis, dass es auch in Diktaturen Menschen gibt, die sich nicht bedroht, die sich frei fühlen und ihr Leben geniessen, die Diktatur nicht als Diktatur und den Diktator als guten Präsidenten, als freundlichen Menschen sehen. Ist die Diktatur deswegen beendet, die Angst der Verfolgten unbegründet, die Folter schmerzlos, der Tod nicht das Ende aller Hoffnungen und die nächste Wahl auch für die Opposition eine freie?
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(*) Bertolt Brecht, 1930, für die geplante Verfilmung der «Dreigroschenoper» nachträglich in die «Moritat von Mackie Messer» eingefügt