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Tell als Leinwandheld

Felix Aeppli 30. August 2020
Rund dreissig Verfilmungen des Tellstoffes nennt Hervé Dumont in seiner grundlegenden Arbeit «Guillaume Tell au cinéma» (Travelling 43, 1975).

Schweizer Verfilmungen machen dabei natürlich nur einen kleinen Teil aus, andererseits hatten die Schweizer seit je her ein wachsames Auge auf filmische Auftritte ihres Nationalhelden. Als 1923 Schillers Drama von der Aafa-Berlin mit namhaften Schauspielern des Reinhardt-Theaters verfilmt werden sollte, offerierten die «Tellfestspiele» Altdorf spontan ihre Mitarbeit, wurden aber abgewiesen.
Mit Nasenrümpfen verfolgte man darauf den Bau eines Schweizerdorfes in Garmisch-Partenkirchen. Die wenigen am Vierwaldstättersee gedrehten Szenen vermochten nicht zu versöhnen: «Wilhelm Tell» (Rudolph Walter-Fein, 1923) wurde in der Schweiz nicht gezeigt. Im folgenden Jahr wurde dann an einem schweizerischen Tellfilm gearbeitet, obschon auch diesmal die Initiative vom Ausland ausging: «Die Entstehung der Eidgenossenschaft» war eine Produktion der amerikanischen Sunshine Film Inc; diese trieb ihr Geld vorwiegend unter amerikanischen Auslandschweizern zusammen und übertrug die Regie einem in die Vereinigten Staaten emigrierten St. Galler, Emil Harder.
Sein Film zeigte in vollen drei Stunden (die nur noch unvollständig erhalten sind) das bekannte Postkartenbild der Schweiz: Melchtal mit einem Alphorn durch’s Bild eilend, die gesunden Tellenbuben mit Chruselhaar in der Bergwiese spielend, etc. Gut und Böse war auf Anhieb erkennbar, die österreichischen Schergen gemahnten mit ihren Kapuzen fast an Mitglieder de Ku-Klux-Klans.
Viel Staub wirbelte ein Jahr nach Hitlers Machtübernahme eine deutsch-schweizerische Co-Produktion «Wilhelm Tell» (Hans Paul, 1934) auf: Die Frau von Propagandaminister Goebbels tauchte während den Dreharbeiten persönlich am Vierwaldstättersee auf, und Tells Ehefrau spielte Emmy Sonnemann, die nachmalige Lebensgefährtin von Reichsmarschall Göring.
Der fertiggestellte Film kam dann aber bei Schweizer Publikum und Kritik gut an, wurde hingegen in Deutschland nach Kriegsende von der alliierten Militärregierung verboten. Da er für Visionierungen nicht zur Verfügung steht, muss der Grund für das Verbot offen bleiben: denkbar, dass er auf den Freiheitskampf der Deutschen Minderheiten ausserhalb des Reiches zugeschnitten war, denkbar aber auch, dass er einfach zu viele kriegerische Szenen enthielt.
Das Projekt zu einer Verfilmung des «Tellenspiel» aus dem Landi 39 mit Heinrich Gretler und Paul Hubschmid blieb auf dem Papier stehen, dafür kam Gretler dann in «Landamann Stauffacher» (Leopold Lindtberg, 1941) zu Ehren, der thematisch unmittelbar an die Tellgeschichte anknüpft. Auch die französische Kriegswaise Marie-Louise aus dem gleichnamigen Film (Lindtberg, 1944) lernte während ihres Schweizers Aufenthalts die Tellsaga kennen, die gemäss neuester Forschungsergebnisse doch als wahr zu betrachten ist…
Ein geplanter «Wilhelm Tell 1947» (Lindtberg, 1947) wurde zurückgestellt, da er nicht ins internationale Konzept der Praesens-Nachkriegsfilme passte. Drehbuchautor Richard Schweizer kam aber wiederholt auf den Stoff zurück, so 1959 mit «Die Geschichte vom Tell», kurz darauf zu «Tell – The Birth of Freedom» umgearbeitet. Realisiert wurden diese beiden Projekte nie, wohl aber der Film des Neulings Michael Dickoff, «Wilhelm Tell» (1960), für den die URS-Film Buochs nicht weniger als 3 Millionen Franken auslegte.
Besonders gefragt waren beim Publikum zu diesem Zeitpunkt die farbigen Gewänder der vielköpfigen Statistenschar und der lebensnahe Föhnsturm auf dem Urnersee. Im Kalten Krieg wollten die Produzenten des Films die Schweiz als Hort der Freiheit vorführen. Zu ihrem Erstaunen und Entsetzen wurde ihr Produkt 1961 am Filmfestival von Moskau mit dem Regiepreis ausgezeichnet. Die schwer verschuldete Produktionsgesellschaft erwog darauf, die Filmrechte in die Sowjetunion zu verkaufen. Dem Vorhaben widersetzte sich umgehend ein Komitee «Pro Wilhelm Tell», präsidiert vom Berner Professor Walther Hofer.
Im Schweizer Film nach 1964 wurde der Tellstoff nochmals aufgegriffen, freilich mit gewandelten Vorzeichen: «Le train rouge» (Peter Ammann, 1973) behandelte Tell ausschliesslich als Mythos, indem er eine Freiluftinszenierung in Interlaken, den Rossinitell einer Opernaufführung in Florenz und eine Experimentaltheaterinszenierung in Cagliari einander gegenüberstellte und all diese mit realen Erfahrungen von italienischen Arbeitern konfrontierte, die von der Schweiz nach Italien fahren, um dort ihre Wahlstimme abzugeben.