Muslime und Juden sind keine Feinde – ein Artikel von Armin Langer auf Islamiq
Muslime und Juden sind keine Feinde
böses Vorurteil, das nicht nur in Israel populär ist: Europa sei
gefährlich für Juden, wegen der Muslime. Das entspricht aber weder der
Statistik noch dem Alltag. Ein Gastbeitrag von Armin Langer.
“Wer von euch ist hier der Jude?”, fragte die TV-Journalistin
ungeduldig. Ozan, ein muslimischer Freund und Mitstreiter von mir, und
ich, “der Jude”, saßen in einer türkischen Bäckerei in der Hermannstraße
in Berlin-Neukölln. Die Journalistin ließ die Scheinwerfer auf uns
richten, dann stellte sie mir dramatische Fragen am laufenden Band: Hast
du nach den Anschlägen in Paris und Kopenhagen keine Angst, in Europa
zu wohnen? Bedrohen dich die krassen Jungs von Neukölln? Warum ziehst du
eigentlich nicht nach Israel?
Ich schaute die Frau hinter dem grellen Licht verblüfft an. Will sie,
dass ich Berlin verlasse? Wünscht sie sich ein judenfreies Europa?
Arbeitet sie im Wahlkampfteam von Benjamin Netanjahu, der nicht müde
wird, uns europäische Juden nach Israel holen zu müssen?
Nach dem Anschlag in Kopenhagen, bei dem ein verstörter,
palästinensischstämmiger 22-Jähriger einen jüdischen Wachmann vor einer
Synagoge erschoss, bildeten in Oslo 1.300 Muslime einen Friedensring um
das jüdische Gotteshaus. Darüber hat die Journalistin nicht gesprochen.
Sie hat auch meinen muslimischen Freund während des Interviews nicht
wahrgenommen, obwohl Freundschaft zwischen Muslimen und Juden eben die
alltägliche Normalität in Europa ist.
Feindschaft ist nicht die Norm. Paris und Kopenhagen sind die
Ausnahmen, die seltenen Beispiele für das Scheitern jüdisch-muslimischer
Beziehungen. Im koscheren Supermarkt in Paris rettete ein Muslim
selbstverständlich das Leben mehrerer Juden. Auf einer alltäglichen
Ebene funktionieren jüdisch-muslimische Beziehungen genauso wie die zu
anderen Religionen und Kulturen.
Antimuslimische Ressentiments
Die Fokussierung auf die Ausnahme, also auf die islamistische
Bedrohung, nutzt vor allem dem wahlkämpfenden Benjamin Netanjahu. Als er
im Januar in der großen Synagoge von Paris die französischen Juden
aufrief, nach Israel zu ziehen, fingen die anwesenden Gläubigen an,
inbrünstig die Marseillaise in sein Gesicht zu singen. Ich muss zugeben,
dass ich mir das Video mehr als nur ein Mal angeschaut habe: Bibis
verwirrter Blick spricht für sich. Er, der israelische Regierungschef,
der sich für alle Juden der Welt verantwortlich fühlt, verstand diese
undankbaren Juden vor ihm nicht.
In “Eurabia” sei es für Juden gefährlich, so Netanjahu, die
israelischen Mainstream-Medien verbreiten seine Ansicht. Für diese
Argumentation wird eine schwarz-weiße Welt gemalt, in der Juden und
Muslime per se Feinde sind. Netanjahu versucht, den Nahostkonflikt nach
Europa zu importieren, Juden automatisch als bedingungslose Unterstützer
der israelischen Regierung und Muslime automatisch als Feinde des
Staates Israel, also als Antisemiten darzustellen. Diese israelische
Argumentation spiegelt sich auch in der Narrative des jüdischen
Establishments hierzulande wider.
Antisemitische Straftaten durch Nichtmuslime
Die Zahlen der Bundespolizei stehen jedem zur Verfügung: Mehr als 95
Prozent aller antisemitischen Gewalt- und Straftaten werden in
Deutschland durch nicht-muslimische Deutsche verübt. Antisemitische
Gewalt kommt unter Muslimen nicht häufiger vor als unter Nicht-Muslimen.
Wenn jemand trotzdem behauptet, dass die sogenannten muslimischen
Gegenden für Juden gefährlich seien, schürt er nur antimuslimische
Vorurteile und verhindert einen ehrlichen Dialog über den Antisemitismus
der Mitte. Dieser im Abendland verankerte Antisemitismus bezeichnet die
rituelle Beschneidung als barbarisch, das koschere Schlachten möchte er
verbieten.
Beide Themen aktivieren im Namen der Menschen- und Tierrechte gute
alte Stereotype aus dem antisemitischen Kanon Europas. Ich habe viel
mehr Angst vor dieser Bedrohung, denn die antisemitische Mitte hat viel
mehr Macht als muslimische Antisemiten. Dieser Antisemitismus ist viel
mehr in der Lage, unsere Rechte, die Rechte der Juden zu begrenzen.
Übrigens, in diesem Kampf gegen kulturspezifische Un- bzw.
Missverständnisse haben wir Juden ähnliche Interessen, wie unsere
muslimischen Brüder und Schwestern.
Kooperation mit Muslimen notwendig
Wir brauchten auch deswegen eine stärkere politische Kooperation mit
der muslimischen Gemeinschaft in Deutschland, gegen die wir stets
aufgehetzt werden.
Josef Schuster rief aber stattdessen die Juden Deutschlands neulich
auf, keine Kippot in den sogenannten muslimischen Vierteln zu tragen. Er
sah wahrscheinlich das Video nicht, in dem ein Jude mehrere Stunden
lang in Neukölln und Kreuzberg mit einer Kippa problemlos herumlief.
Eine halbe Stunde später erreichte mich eine E-Mail einer Bekannten. Sie
brauchte Schusters Aussage, um sich bei mir zu melden, sie möchte bei
unserer muslimisch-jüdischen Initiative mitmachen. Es gebe noch viel
Arbeit, schrieb sie.
Ich war enttäuscht, weil ich großen Respekt für den neuen Präsidenten
des Zentralrates hatte: Schuster verurteilte die Pegida-Bewegung und
erhob seine Stimme gegen antimuslimischen Rassismus. Und jetzt plötzlich
dieses Interview, in dem Muslime und Juden schon wieder als Feinde
dargestellt werden. In dieser Welt würde ich nicht gerne leben.
Zum Glück ist die Realität anders. Der Alltag zeigt nämlich ein ganz
anderes Bild: Er zeugt von der Langeweile des friedlichen
Zusammenlebens.