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Mein Berlin: Wir müssen mehr tun, als nur zu reden. Wir müssen handeln

von Murat Kayman, Migazin, 21-12-2016

Es wird sie wieder geben. Jene, die den
Anschlag auf den Weihnachtsmarkt in Berlin dazu nutzen wollen, die
Gräben in unserer Gesellschaft zu vertiefen. Deshalb müssen wir mehr
tun, als nur zu reden. Wir müssen handeln. Wir müssen uns um einander
kümmern.
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Trauer nach dem Anschlag auf einen Berliner Weihnachtsmarkt
Nur die unmittelbare Begegnung, die Nähe
zum Anderen, das Miterleben seiner ihm eigentümlichen – gerade auch
religiösen – Details das Verständnis füreinander und den Wunsch nach
friedlichem Zusammenleben festigen kann. Denn Gleichgültigkeit ist der
Nährboden für Ablehnung. In der Leere, die durch Distanz entsteht,
gedeiht nichts Fruchtbares. In ihr keimt vielmehr der Drang nach
Ausgrenzung, nach Entmenschlichung, letztlich nach Zerstörung. Diese
Distanz müssen wir überwinden. Durch noch mehr Annäherung, Neugier
aufeinander, aufrichtigem Interesse an der Lebens- und Glaubenswelt des
Anderen. Wir leben in Zeiten der rapide zunehmenden
Polarisierung des Denkens und Handelns. Diese Trennlinien, die wir
zwischen uns ziehen, verursachen immer größere Distanz und Leere. Sie
wird von immer schrilleren, immer exzessiveren Gedanken gefüllt. In ihr
hallt eine immer aggressivere Sprache wider, mit der das Eigene überhöht
und idealisiert und das Andere immer extremer ausgegrenzt und
herabgewürdigt wird. Das gilt für alle Hassprediger im öffentlichen
Leben, in den klassischen und sozialen Medien, gleich welcher Gesinnung,
gleich welchen Glaubens oder Nichtglaubens. Niemand ist davor gefeit.
Niemand ist ein besserer Mensch, nur weil er dieser oder jener Gruppe
angehört.
Es wird sie wieder geben. Jene, die durch
Spekulationen und Theorien, durch politische Vorwürfe und
Instrumentalisierung den Anschlag auf den Weihnachtsmarkt in Berlin dazu
nutzen wollen, die Gräben in unserer Gesellschaft zu vertiefen, noch
mehr Distanz und Leere zwischen uns zu schaffen. Auch aus muslimischer
Sicht wird es Distanzierungen geben. Sie sind zweifellos aufrichtig aber
auch reflexhaft und mittlerweile auch ungenügend. Denn die
Distanzierung von Gewalt und Terror reicht nicht aus. Denn auch diese
Distanz hinterlässt eine Dunkelheit, eine Leere, die wieder durch andere
willkürlich, destruktiv und segregierend gefüllt wird.
Wir brauchen mehr Nähe, wir müssen enger
zusammenstehen. Wir müssen einander so intensiv kennen und vertraut
miteinander sein, dass wir das Bedürfnis haben, uns umeinander kümmern
zu wollen. Nur in dieser Nähe, dieser Vertrautheit wird es uns gelingen,
zwischen uns so wenig Platz zu lassen, dass dort kein hasserfüllter
Gedanke, kein zerstörerischer Impuls entstehen kann.
Der Täter des Anschlages in Berlin konnte
diese Tat an diesem Ort nur deshalb verüben, weil er diesen Ort nicht
kannte, nicht wusste, was diesen Ort ausmacht, was er in sich verborgen
hält, was er über Generationen hinweg, über Glaubensgrenzen hinweg für
uns alle bewahrt.
Direkt am Anschlagsort steht die
Kaiser-Wilhelm-Gedächtniskirche. In ihr befindet sich Kurt Reubers
Stalingradmadonna. Kurt Reuber war ein evangelischer Pastor und
Lazarettarzt. Weihnachten 1942, in verzweifelter Lage im Kessel von
Stalingrad (Wolgograd) zeichnete er auf der Rückseite einer russischen
Landkarte mit Holzkohle das Bild einer sitzenden Frauenfigur, in einem
dunklen Mantel, mit dem sie ein kleines Kind umhüllt, es mit ihrer
ganzen Gestalt schützt. Das Bild strahlt eine tiefe Ruhe und
Geborgenheit aus.